unsere jugend
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0342-5258
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/uj2015.art37d
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2015
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Rezension: Inge Kamp-Becker, Sven Bölte, 2014: Autismus
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2015
W. Topel
In der Öffentlichkeit, in populärwissenschaftlichen und wissenschaftlichen Publikationen findet das Phänomen Autismus zunehmend Beachtung, da die betroffenen Kinder und Jugendlichen eine besondere Herausforderung für ihre Familien darstellen, aber auch entsprechende fachliche Kompetenzen von ErzieherInnen, LehrerInnen, SozialarbeiterInnen, PsychologInnen und MedizinerInnen erfordern.
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234 uj 5 | 2015 Rezensionen In der Öffentlichkeit, in populärwissenschaftlichen und wissenschaftlichen Publikationen findet das Phänomen Autismus zunehmend Beachtung, da die betroffenen Kinder und Jugendlichen eine besondere Herausforderung für ihre Familien darstellen, aber auch entsprechende fachliche Kompetenzen von ErzieherInnen, LehrerInnen, SozialarbeiterInnen, PsychologInnen und MedizinerInnen erfordern. Ausgehend von den Erkenntnissen der Erstbeschreiber dieser tiefgreifenden Entwicklungsstörung (L. Kanner, H. Asperger) ergaben weitere wissenschaftliche Studien: Autistische Syndrome (u. a. frühkindlicher Autismus, atypischer Autismus, Asperger- Syndrom, Rett-Syndrom) kennzeichnen heterogene Störungsbilder mit qualitativen Beeinträchtigungen der sozialen Interaktion, der Kommunikation, eingeschränkten Interessen und stereotypen Verhaltensmustern („klassische autistische Trias“), deren Ausprägung interindividuell variiert. Therapeutische und pädagogische Interventionen können die Persönlichkeitsentwicklung betroffener Kinder und Jugendlicher positiv beeinflussen, indem die Symptome abgeschwächt, gemindert oder modifiziert werden. Die AutorInnen geben mit ihrem Buch einen Überblick über den neuesten Forschungsstand bei verschiedenen autistischen Störungen. Tabellen, Definitionen, Zusammenfassungen, Merksätze und ein Glossar erleichtern das Studium. Nach einer Einführung werden im Hauptteil in 9 Kapiteln unterschiedliche Aspekte autistischer Störungsbilder thematisiert: ➤ Symptomatik, begleitende Beeinträchtigungen (Komorbiditäten), Epidemiologie (Verbreitung der Störung), aktueller Forschungsstand (Kap. 1 - 4), ➤ Ursachen (Ätiologie) und Einflussfaktoren, Diagnostik (Kap. 5 - 6), ➤ Therapeutische und pädagogische Interventionen, soziale, schulische und berufliche Integration (Kap. 7 - 9). Bemerkenswert ist: Die autistischen Auffälligkeiten, die sich in den ersten Lebensjahren manifestieren und in allen Lebensbereichen zeigen, können bis ins Erwachsenenalter bestehen, ohne vollständig „geheilt“ zu werden. Dann ist es notwendig, komorbide Störungen - Ängste und Phobien, ADHS, Depressionen, oppositionelles und aggressives Verhalten, zwanghafte Handlungen - zu diagnostizieren und mitzubehandeln. Die Erweiterung der diagnostischen Möglichkeiten hat in den letzten Jahren zu einem starken Anstieg der Häufigkeitsangaben (Prävalenzzahlen) für diese tiefgreifende Entwicklungsstörung geführt. Überdenkenswert sind die Ausführungen über das kategoriale (qualitative) und das alternative dimensionale, quantitativ orientierte Klassifikationskonzept (Autismus-Spektrum-Störung). Um geeignete präventive, therapeutische und pädagogische Maßnahmen einleiten zu können, ist es erforderlich, hinreichend Informationen über die Ursachen und das Erscheinungsbild der Verhaltensauffälligkeiten zu haben sowie die Kriterien für die Diagnose und Differenzialdiagnose zu kennen. Dazu werden in den beiden folgenden Kapiteln Hinweise gegeben, die insbesondere die Notwendigkeit weiterer Forschungsarbeit unterstreichen. Das betrifft sowohl relevante Ursachen- und Bedingungskonstellationen als auch diagnostische Konzepte und Instrumentarien. Es wird zu Recht betont: Eine zuverlässige diagnostische und differenzialdiagnostische Tätigkeit macht ein multidisziplinäres Vorgehen erforderlich (ÄrztInnen, PsychologInnen), das die Kooperation mit Eltern und PädagogInnen (SozialpädagogInnen) einschließt. Inge Kamp-Becker, Sven Bölte, 2014: Autismus 2. Auflage, München: Ernst Reinhardt Verlag, 112 Seiten, € 12,99 uj 5 | 2015 235 Rezensionen Wie den abschließenden drei Kapiteln zu entnehmen ist, gibt es eine Vielzahl von Behandlungs- und Fördermöglichkeiten für vom Autismus-Syndrom betroffene Kinder, Jugendliche und Erwachsene. Obwohl für die Störungen bis heute noch keine eindeutigen, vermutlich hirnorganischen Ursachen benannt werden können und deshalb keine kausalen Behandlungsansätze existieren, kann die Symptomatik durch die Information und Beratung der Angehörigen (Psychoedukation), verhaltenstherapeutische Aktivitäten und gegebenenfalls auch durch eine pharmakologische Behandlung gemindert oder modifiziert werden. Aufschlussreich sind zudem die Charakterisierung der Verhaltensprobleme in einzelnen Altersetappen (Kindheit, Jugend, Erwachsenenalter) sowie die Anregungen zur gezielten Förderung im Kindergarten, in der Schule, in der Ausbildung und im Beruf. Fazit: Das Buch ist eine differenzierte und verständliche Einführung in das Autismus-Syndrom, indem einzelne Symptome gut erläutert, mögliche Entstehungsbedingungen erwähnt, therapeutische und pädagogische Interventionsmöglichkeiten benannt werden. Es verdient nicht nur die Aufmerksamkeit von Studierenden und Lehrenden der Psychologie, Pädagogik und Medizin, sondern auch von Eltern, deren Kinder dieses Störungsbild haben, und von PraktikerInnen diverser Fachdisziplinen (u. a. ErzieherInnen, LehrerInnen, SozialarbeiterInnen). Dr. habil. W. Topel, Leipzig DOI 10.2378/ uj2015.art37d
