eJournals unsere jugend 67/6

unsere jugend
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0342-5258
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/uj2015.art47d
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Rezension: Rainer Balloff, 2014: Kinder vor dem Familiengericht. Praxishandbuch zum Schutz des Kindeswohls unter rechtlichen, psychologischen und pädagogischen Aspekten

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Dieter Kreft
Seit der 1. Auflage 2004 (vgl. dazu die Rezension in: uj 5/2006, 236f) ist das Buch umfangreicher (von 339 auf 494 Seiten), damit auch teurer (von € 29,90 auf 58,–) geworden, dafür aber auch tiefer bearbeitet, gründlich und umfassend auf den neuesten Stand gebracht.
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uj 6 | 2015 279 Rezension Seit der 1. Auflage 2004 (vgl. dazu die Rezension in: uj 5/ 2006, 236f ) ist das Buch umfangreicher (von 339 auf 494 Seiten), damit auch teurer (von € 29,90 auf 58,-) geworden, dafür aber auch tiefer bearbeitet, gründlich und umfassend auf den neuesten Stand gebracht. Das Buch ist weiterhin sehr sympathisch parteilich zugunsten der Kinder. So bereits zu Beginn die inhaltliche Richtung in dieser Weise vorgebend: Kinder laufen im Rechtsstreit der Erwachsenen und vor Gericht im Kampf um Recht und Gerechtigkeit Gefahr, zu Instrumenten und Objekten fremder Interessen zu werden. Deshalb wendet sich der Titel vor allem an die Erwachsenen, die Eltern sind und/ oder die beruflich als ErzieherInnen, LehrerInnen, PädagogInnen, SozialarbeiterInnen, PsychologInnen, RechtsanwältInnen oder RichterInnen mit Kindern in der besonderen Situation vor Gericht zu tun haben (Vorwort, 6). Die Struktur des Buches ist wenig verändert. In zwei gut durchgegliederten Hauptkapiteln wird weiterhin alles behandelt, was um das Kind vor dem Familiengericht von Bedeutung ist: ➤ Hauptkapitel I: Das Kind vor dem Familiengericht bei Trennung und Scheidung - mit dreizehn Unterkapiteln (u. a. Trennung und Scheidung, Die Regelung der elterlichen Sorge und das Wechselmodell, Kind und Institutionen, Kind im Jugendamt, Umgangsrecht, Der Wille des Kindes, Die Bindung des Kindes, Das Kind vor Gericht), ➤ Hauptkapitel II: Fremdplatzierung - mit drei Unterkapiteln (Unzureichende Versorgung des Kindes, Die Annahme als Kind (Adoption), Die Rechtsstellung des Kindes - Zusammenfassung). Ergänzt durch ein abgerundetes und sehr sorgfältiges Literaturverzeichnis (immerhin 30 Seiten) und ein (allerdings recht knappes) Sachregister (2 Seiten). Alle Kapitel wurden überarbeitet und ergänzt, insbesondere die Rechte des Kindes, aber auch Einschränkungen wie die Beschneidung männlicher Kinder, freiheitsentziehende Unterbringung, Umgangsrecht, die Unterbringung von Kindern in Heimen und Pflegefamilien, die Rückkehr von Kindern in die Herkunftsfamilie, hochkonflikthafte Eltern, Vertrauliche Geburt, neue Entwicklungen in der Verfahrensbeistandschaft. Ich habe mir in der 2. Auflage diese Komplexe besonders angeschaut, weil sie gesellschaftlich von erheblicher Bedeutung sind und/ oder weil sie neu geregelt wurden. (1) Die Beschneidung des männlichen Kindes (UKap 9, ab S. 259): R. Balloff gelingt es auf wenigen Seiten, die Problematik der Neuregelung des § 1631 d BGB vorzustellen: „Wie verträgt sich diese Kompetenzerweiterung für die Eltern, eine tatbestandsmäßige Körperverletzung des Kindes vornehmen zu lassen, mit den Rechten des Kindes auf Selbstbestimmung, auf Gewaltfreiheit, auf Wahrung eigener Grundrechte des Kindes? Wie traumatisch ist die Beschneidung von Kindern? Wie schützenswert ist die Tradition der Beschneidung? “ (S. 261f ) Und seine sorgfältigen Beschreibungen des Für und Wider, die dann eine eigene Meinungsfindung befördern können. So sollten Lehrbücher immer sein! (2) Der Exkurs: Anonyme Geburt, anonyme Übergabe an eine Fachperson und vertrauliche Geburt (ab S. 453): Was er zur so umstrittenen Babyklappe schreibt, sollte stets beachtet werden: „Dennoch muss die Babyklappe dem absoluten Ausnahmefall Rainer Balloff, 2014: Kinder vor dem Familiengericht Praxishandbuch zum Schutz des Kindeswohls unter rechtlichen, psychologischen und pädagogischen Aspekten Baden-Baden: NOMOS-Verlag, 2. Aufl., 494 Seiten, € 58,- 280 uj 6 | 2015 Rezension vorbehalten bleiben. Sie sollte niemanden ermuntern, auch unter dem Gesichtspunkt der seit Beginn der Industrialisierung fortschreitenden Verdinglichung (Sachwerte sind wichtiger als Personen und deren emotionale Befindlichkeiten) und latenten Auflösbarkeit zwischenmenschlicher Beziehungen, diesem Prozess weiterhin Vorschub zu leisten, mit der Folge, dass auch ein Kind wie ein Gegenstand abgelegt werden kann“ (S. 454). Zu den anderen Begriffen des Exkurses hat er mir zu wenig ausgesagt, der Rückgriff auf Tsokos/ Guddat (2014, 8ff ) „160 Kinder sterben in Deutschland jährlich an den Folgen ihrer Misshandlungen“ (453f ) war entbehrlich, weil höchst umstritten (vgl. meinen Zwischenruf zu diesem Buch in: uj 11 + 12/ 2014, 501 - 505). Derartige Skandalisierungen braucht ein so solides Buch wie das von R. Balloff nicht. (3) Das Umgangsrecht (UKap I 6 ab S. 219), speziell das in besonderen Konstellationen: „Seit der Verabschiedung und (dem) Inkrafttreten des Gesetzes zur Stärkung der Rechte des leiblichen, nicht rechtlichen Vaters …(2013) hat auch der leibliche Vater unter leichteren Bedingungen als bisher die Möglichkeit (vgl. § 1685 BGB), einen Umgang mit dem Kind auszuüben … Die Feststellung der Kindeswohldienlichkeit des Umgangs durch das Familiengericht wird sich in naher Zukunft auch auf Konstellationen gleichgeschlechtlicher Lebenspartner eines Elternteils, auf Leihmütter, eine Eizellenspenderin und einen Samenspender erstrecken…“ (S. 220). Eine interessante Prognose. Was es inzwischen alles im Familienrecht gibt und was nur noch begrenzt faszinierend ist, sollen nur diese beiden kleinen Beispiele zeigen: Erstens: das sogenannte Wechselmodell wird im Unterkapitel I 4.5 ab S. 140 in der 2. Auflage überaus sorgfältig behandelt. Das Wechselmodell ist eine Betreuungs- und Lebensform für Kinder getrennt lebender Eltern, in der die Kinder wechselseitig bei einem Elternteil leben, sehr kompliziert, sehr umstritten. Ich fand die Zurückhaltung des Autors gegenüber diesem rechtlich noch recht unklaren Modell sehr angemessen (etwa auf S. 145), ich denke immer noch, dass das Kind einen „gewissen“ Ort haben und eben nicht zu einem „Abspracheobjekt“ von Erwachsenen werden sollte. Und zweitens: Oder kennen Sie bereits den Begriff Vulnerabilität als Gegenstück zur Resilienz? (S. 98) Ist denn ansonsten überhaupt nichts anzumerken? Doch, manches ist immer noch „zu kurz gekommen“, so etwa die Darstellung der so bedeutenden Garantenstellung (ab S. 332 auf knapp 3 Seiten). Und nach einer Behandlung der künstlichen Befruchtung durch einen anonymen Samenspender (in den Großstädten in weiblichen Regenbogenfamilien von zunehmender Bedeutung) habe ich vergeblich gesucht; es muss ja aber immer auch etwas für die nächste Auflage bleiben. Ein Autor wie Rainer Balloff schöpft aus einem großen Wissens- und Erfahrungsschatz. Jurist und Psychologe, langjähriger wissenschaftlicher Mitarbeiter am FB Erziehungswissenschaft und Psychologie der FU Berlin, kennt die Kinder-, Jugend- und Familienhilfe wie wenige andere in Theorie und Praxis, ist ein geschätzter Gutachter, vielfacher Autor selbstverständlich, Fort- und Weiterbildner, der mit anderen zusammen das Institut für Gericht & Familie betreibt. Da verwundert es nicht, dass seine 2. Auflage so umfassend profund ist, ein 5-Sterne-Titel gewissermaßen. Ein Buch, das sowohl Eltern als auch den vielen professionellen Verfahrensbeteiligten (besonders den FamilienrichterInnen) eine sehr gute Orientierung liefert, bestens geeignet, sie bei der Suche nach einer dem Kind förderlichen Entscheidung in besonderen Lebenssituationen zu unterstützen. Prof. Dieter Kreft kremie.nuernberg@t-online.de DOI 10.2378/ uj2015.art47d