eJournals unsere jugend 67/7+8

unsere jugend
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0342-5258
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/uj2015.art50d
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2015
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HEROES

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2015
Michaela Raab
Wolfgang Stuppert
Der folgende Beitrag stellt die Ergebnisse der Evaluation des Berliner Projekts „HEROES – Gegen Unterdrückung im Namen der Ehre“ vor. Das Projekt bildet junge männliche, überwiegend muslimische Peer Educators aus, die in Schulklassen Workshops zu den Themen Männlichkeit und Ehre durchführen. Unsere Evaluation konnte positive Wirkungen nachweisen – nicht nur bei Peer Educators, sondern auch auf Workshop-Teilnehmer_innen.
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300 unsere jugend, 67. Jg., S. 300 - 308 (2015) DOI 10.2378/ uj2015.art50d © Ernst Reinhardt Verlag München Basel von Michaela Raab Jg. 1961; Gutachterin zu Gender, Menschenrechten und Entwicklung Wolfgang Stuppert Jg. 1982; Sozialwissenschaftler und Gutachter im Bereich Partizipation und zivilgesellschaftlicher Entwicklung HEROES Workshops gegen Unterdrückung im Namen der Ehre Der folgende Beitrag stellt die Ergebnisse der Evaluation des Berliner Projekts „HEROES - Gegen Unterdrückung im Namen der Ehre“ vor. Das Projekt bildet junge männliche, überwiegend muslimische Peer Educators aus, die in Schulklassen Workshops zu den Themen Männlichkeit und Ehre durchführen. Unsere Evaluation konnte positive Wirkungen nachweisen - nicht nur bei Peer Educators, sondern auch auf Workshop- Teilnehmer_innen. Was die Wirkungen auf die deutsche Öffentlichkeit anbetrifft, ist das Berliner Projekt „Heroes - Gegen Unterdrückung im Namen der Ehre“ unbestritten erfolgreich: Zahlreiche Preise öffentlicher Institutionen und privater Stiftungen, Zeitungs- und Fernsehberichte zeugen von hohem gesellschaftlichen Interesse an seiner Arbeit und seinen Botschaften. Eine Evaluation im Auftrag der für die Landeskommission Berlin gegen Gewalt tätigen Arbeitsstelle Jugendgewaltprävention des Landes Berlin im Jahr 2014 sollte klären, ob das Projekt ebenso prägnante Wirkungen bei seinen primären Zielgruppen erreicht: Jugendliche aus sogenannten Ehrkulturen, die sich zu HEROES-Peer Educators ausbilden lassen oder an HEROES-Workshops in Schulen teilnehmen. Kernstück der Evaluation war eine standardisierte Befragung an Berliner Schulen, die einen Vergleich zwischen Workshop-Teilnehmenden und Schüler_innen, die nicht an HEROES-Workshops teilgenommen haben, ermöglichte. Die Daten deuten darauf hin, dass schon ein interaktiver HEROES-Workshop bei den Teilnehmenden veränderte Einstellungen zu bestimmten gewaltlegitimierenden Gendernormen herbeiführen kann. Im Folgenden schildern wir kurz die Umrisse des HEROES-Projekts, unseren Evaluationsansatz und die eingesetzten Methoden. Der Hauptteil des Artikels stellt unsere Evaluationsergebnisse vor: die Wirkungen des Projekts auf die Peer Educators und die Teilnehmenden an HEROES-Workshops. 301 uj 7 + 8 | 2015 Jugendgewaltprävention Das HEROES-Projekt „HEROES - Gegen Unterdrückung im Namen der Ehre“ ist ein Projekt zur Prävention genderbasierter Gewalt. Es wurde 2007 von Strohhalm e.V. in Berlin-Neukölln initiiert. Sein Ziel ist es, Gleichberechtigung und Gleichstellung von jungen Frauen und Männern aus sogenannten „Ehrenkulturen“ zu fördern und damit den Einfluss gewaltlegitimierender Gendernormen auf das Verhalten Jugendlicher zu reduzieren. In den patriarchalisch geprägten „Ehrenkulturen“ ist das Konzept von Familienehre unter anderem eng verknüpft mit der Unversehrtheit des Hymens unverheirateter weiblicher Angehöriger. Dieser Ehrbegriff verlangt es von Familien, das Verhalten junger Frauen zu überwachen und zu sanktionieren - auch mit Gewalt und „Ehrenmord“ (Rexvid/ Schlytter 2012; Schäfer/ Schwarz 2007). Interessierte junge Männer werden im Projekt zu Peer Educators bzw. Multiplikatoren ausgebildet. Nach Abschluss der Ausbildung werden sie „HEROES“ genannt. Explizite Auswahlkriterien für die Teilnahme am Peer-Educator-Training sind Geschlecht (männlich), Alter (circa 16 bis 20 Jahre), Wohnort (Berlin) und persönlicher Hintergrund aus „Ehrenkulturen“. Dazu kommt die Erwartung, dass sich die Interessenten offen für Diskussionen über tradierte Normen und Verhalten zeigen. Im Interventionsgebiet sind es vor allem Jugendliche aus konservativen muslimischen Familien mit Migrationshintergrund, die die Zwänge von „Ehrenkulturen“ erleben. Oft sind es der Freundeskreis, Familienmitglieder oder Lehrkräfte, die potenzielle Neuzugänge vermitteln. Die Ausbildung beginnt mit wöchentlichen Gruppentreffen für HEROES-Aspiranten, die von Gruppenleiter_innen moderiert werden, welche selbst aus „Ehrenkulturen“ stammen. Die Gruppen umfassen in der Regel bis zu acht junge Männer. Themen wie Liebe, Recht, Solidarität, Macht, Ehre und Sexualität werden in einer ergebnisoffenen und entspannten Atmosphäre besprochen; tradierte Einstellungen und Verhalten hinterfragt. Externe Referent_innen und Veranstaltungsbesuche zu den Themen Menschenrechte, Geschlechtergerechtigkeit, genderbasierte Gewalt, Rassismus und Homophobie bereichern das Programm. HEROES-Gruppenleiter moderieren die Gespräche und organisieren Rollenspiele, die typische Situationen in Szene setzen. Diese Grundausbildung dauert in der Regel ein Jahr. Als Abschluss findet eine öffentliche Verleihung des HEROES-Zertifikats statt; daneben erhalten die HEROES eine Jacke mit dem HEROES- Logo. Zur Fortbildung der zertifizierten HEROES hat das Team 14-tägige Gruppentreffen eingerichtet. Zusätzlich zu diesen Zusammenkünften organisiert das Projektteam Vorbereitungstreffen für HEROES-Workshops in Schulen. Neben ihrer Arbeit in Workshops treten die HEROES bei öffentlichen Veranstaltungen auf, die das Projekt vorstellen oder würdigen. Mehr als 30 solche Veranstaltungen fanden 2014 statt, u. a. Podiumsdiskussionen, Buchvorstellungen, ein Empfang bei der neuen Staatsministerin für Integration und HEROES-Tätigkeit als Ordner bei den Respect Gaymes. Fünf Gruppen von HEROES wurden bis Januar 2015 in von den HEROES aktiv mitgestalteten Lehrgängen geschult; die sechste HEROES-Gruppe wird Mitte 2015 ihre Ausbildung abschließen. Im Januar 2015 sind 24 HEROES im Projekt aktiv; sieben nehmen an der Ausbildung teil. Die Workshops an Schulen sind für Schüler_innen ab der 6. Klasse konzipiert; sie beanspruchen etwa drei Schulstunden. Die Veranstaltungen werden jeweils von zwei HEROES, mit der Unterstützung eines Gruppenleiters, durchgeführt und mit den Lehrkräften der Einrichtungen vor- und nachbereitet. Kern der Workshops sind zwei bis drei Rollenspiele über alltägliche Formen von Unterdrückung und Gewalt, die die HEROES zusammen mit ihren Gruppenleiter_innen entwickelt haben. In anschließenden Diskussionen ermutigen sie die Schüler_innen, die Szenen zu analysieren und alternative Handlungsmöglichkeiten vorzuschlagen. 302 uj 7 + 8 | 2015 Jugendgewaltprävention Beispiel für ein Rollenspiel: Ein Junge bekommt Ärger von seinem Vater, weil er nicht weiß, wo seine Schwester ist. Ein Freund kritisiert ihn dafür, dass seine Schwester nicht gleich mitkommt, als er sie nach Hause holen will. Beispielhafte Fragen nach dem Rollenspiel: Was denkt ihr über die Situation? Was hat „Ehre“ damit zu tun? Was hätte [jede Person in der Szene] anders machen können? Ist das Freundschaft? Geht es hier um Schutz oder um Kontrolle? Wie hat sich [jede Person in der Szene] gefühlt? Warum hat er/ sie sich so verhalten? Wem geht es in dieser Szene gut? Wie kann es besser laufen? Die Projektevaluation Die Evaluation wurde von der Arbeitsstelle Jugendgewaltprävention der Landeskommission Berlin gegen Gewalt in Auftrag gegeben. Sie wurde von den Autor_innen dieses Beitrags konzipiert und durchgeführt. Zweck der Evaluation war es, die Wirkungen des Projekts zu untersuchen, sowohl auf (1) die am Berliner HEROES-Projekt beteiligten HEROES als auch auf (2) dieTeilnehmenden in HEROES-Workshops. Wir haben Veränderungen auf der kognitiven und der Handlungsebene untersucht, die zur Prävention genderbasierter Gewalt beitragen. Die folgende Abbildung fasst das Wirkungsgefüge des Projekts zusammen: Die HEROES-Ausbildung und Workshops (links in der Grafik mit Pfeilen dargestellt) sollen bei den Teilnehmenden einen Wandel auf der kognitiven Ebene herbeiführen bzw. unterstützen: (1) kritische Reflexion über tradierte Geschlechterrollen, Verhaltensmuster und identitätsbasierte Diskriminierung und (2) veränderte Einstellungen zu diesen Themen. Weiterhin wird erwartet, dass die HEROES mit gestärktem Selbstbewusstsein aus dem Projekt hervorgehen. Auf der Verhaltensebene sollen die HEROES-Ausbildung und Aktivitäten dazu führen, dass sich die jungen Männer für Geschlechtergerechtigkeit und Menschenrechte engagieren. Weiterhin Abb. 1: Wirkungsgefüge des HEROES-Projekts Aktivitäten Erwartete Wirkungen Interviews & Workshop mit Projektteam, schriftl. Befragung der Lehrkräfte Schriftliche Befragung von HEROES und Schüler_innen HEROES- Workshops HEROES- Ausbildung Gleichbehandlung aller Schüler_innen Info/ Fortbildung Lehrkräfte Messinstrumente Kritische Reflexion über tradierte Rollen & Verhaltensmuster und Diskriminierung Veränderte Einstellungen: Ehrbegriff umdefiniert, Anerkennung von Gleichberechtigung, Diversität und Menschenrechten Gestärktes Selbstbewusstsein Verhaltensänderung: Engagement für Gleichberechtigung und Menschenrechte Schriftliche Befragung von HEROES und Schüler_innen, Interviews mit Menschen aus dem Umfeld einzelner HEROES HEROES Schüler_innen Lehrkräfte Z I E L G R U P P E N 303 uj 7 + 8 | 2015 Jugendgewaltprävention sollen die Workshops die Lehrkräfte ermutigen, Schüler_innen mit und ohne „ehrkulturellem“ Hintergrund gleich zu behandeln. Dunkel schattierte Ovale und Kreise im Diagramm bezeichnen die Aspekte, die von uns überprüft wurden. Das Diagramm ist in Reihen aufgeteilt: (1) Wirkungen auf HEROES, (2) Wirkungen auf Schüler_innen in Workshops, (3) Wirkungen auf Lehrkräfte (nicht überprüft), und (4) Messinstrumente, die in der Evaluation verwendet wurden. Durchgehende Pfeile signalisieren erwartete Projektwirkungen, gestrichelte Pfeile Wirkungen, die erwünscht, aber nur bedingt erwartbar sind. Als Kriterien für die Bewertung der Wirkungen des Projekts verwendeten wir die gewaltpräventiven Faktoren im Wirkungsgefüge des HEROES-Projekts, insbesondere: Reflexionsfähigkeit, Einstellungen zu den Themen Ehre, Geschlechtergerechtigkeit, Diversität und Menschenrechte, positives Selbstbild und konkretes Engagement für mehr Geschlechtergerechtigkeit. Zur Messung der Präsenz gewaltlegitimierender Gendernormen (GLGN) bei Schüler_innen und den HEROES nutzten wir eine Skala, die in wissenschaftlicher Forschung erprobt wurde (Neuhaus 2010). Die Wirkungen der HEROES-Workshops in Schulen wurden im Rahmen eines quasi-experimentellen Designs ermittelt, d. h. dem direkten Vergleich zwischen Schüler_innen, die an HEROES-Workshops teilgenommen hatten, und Kontrollgruppen aus der gleichen Jahrgangsstufe. Dazu wurden zunächst knapp 250 Schüler_innen aus 15 Klassen in drei Berliner Schulen mittels standardisierter Fragebögen befragt. Aus diesem Pool an Befragten wurden mithilfe eines statistischen Verfahrens (Propensity Score Matching) Vergleichsgruppen gebildet, die durch ihre Zusammensetzung Verzerrungen bezüglich Geschlecht, Religiosität oder Migrationshintergrund weitgehend ausglichen (Holmes/ Olson 2010; Stuart/ King/ Imai/ Ho 2011; Thoemmes 2012). Daten zu den Wirkungen des Projekts auf die HEROES und ihr Umfeld wurden vor allem mit qualitativen Methoden erhoben, insbesondere Einzelinterviews, Gruppendiskussionen und Textanalyse. Informationen aus Interviews mit Menschen aus dem HEROES-Umfeld glichen wir mit einer schriftlichen Befragung der aktiven HEROES ab. Wir gehen davon aus, dass die Ergebnisse unserer Schülerbefragung auf andere schulische Kontexte übertragen werden können, da wir Daten von Schüler_innen mit unterschiedlichen „ehrenkulturellen“ Migrationshintergründen erfassten und keine signifikanten Unterschiede bei der Wirkung der Workshops auf diese unterschiedlichen Mitglieder der HEROES-Zielgruppen fanden. Unsere Ergebnisse zu den Wirkungen auf die Peer Educators hingegen beruhen ausschließlich auf Daten, die innerhalb des Berliner HEROES-Projekts erhoben wurden. Es könnte Aspekte geben, die mit spezifischen Eigenschaften des Berliner Projektteams zusammenhängen oder mit der Tatsache, dass das Projekt in der Hauptstadt besonders viel Unterstützung erhält. Diese Faktoren konnten wir nicht überprüfen oder mit ähnlichen Projekten vergleichen; deshalb gelten unsere Ergebnisse zu den Peer Educators ausschließlich für das Berliner HEROES-Projekt. Im Folgenden beschreiben wir die ermittelten Veränderungen bei den Peer Educators und bei ihren Zielgruppen, Schüler_innen aus „Ehrenkulturen“. Positive Veränderungen bei den HEROES Die Berliner HEROES sind junge Männer mit Migrationshintergrund, die sich mit freundlichem Interesse ins Projekt begeben. Oft bringen sie aus ihrem Elternhaus progressivere, von tradierten Normen abweichende Einstellungen zu„Ehre“ und Gleichberechtigung mit. Das Pro- 304 uj 7 + 8 | 2015 Jugendgewaltprävention jekt bietet einen geschützten Raum für persönliche Entwicklung - fern von gewaltlegitimierenden Gender-Normen, die meist das soziale Umfeld prägen. Bei den ausgebildeten HEROES wurden kritische Reflexionsfähigkeit sowie positiv veränderte Haltungen zu gewaltlegitimierenden Gendernormen und gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit beobachtet. Im Projekt üben sie, tradierte Verhaltensmuster kontrovers zu diskutieren. Dies stärkt ihre rhetorischen Fähigkeiten und ihre Sicherheit bei öffentlichen Auftritten - wichtige Voraussetzungen für die effektive Durchführung der Workshops in Schulen, aber auch für weiter reichendes Engagement der HEROES für Menschenrechte. Die folgenden Abbildungen zeigen die Selbsteinschätzungen der HEROES zu Veränderungen bei (1) den eigenen Einstellungen (im Vergleich zu den Einstellungen ihrer Eltern) und (2) bei ihren gegenwärtigen Einstellungen im Vergleich zu denen des sozialen Umfelds. In beiden Zusammenhängen sehen sich die HEROES als Vorreiter für Toleranz und Menschenrechte. Diese Einschätzung wird von Menschen aus ihrem sozialen Umfeld geteilt, wie wir in Einzelgesprächen ermittelten. Acht Teilnehmer (von 15) in der HEROES-Befragung geben an, durch das HEROES-Projekt glücklicher geworden zu sein. Im Rahmen der Evaluation wurden die Gründe dafür nicht weiter beleuchtet. Das Projektteam berichtet, dass viele HEROES emotional eng an das Projekt gebunden sind und ihren Freundschaftskreis aus HEROES rekrutieren. Für viele HEROES bietet das Projekt eine Gemeinschaft Gleichgesinnter, die sich im Projekt relativ frei von tradierten Männlichkeitsrollen miteinander unterhalten und weiter entwickeln können. Dennoch bewegen sich die HEROES weiterhin in einem Spannungsfeld zwischen tradierten und weniger patriarchalisch geprägten Haltungen. Kavemann (2012, 45), die das Projekt im Jahr 2012 wissenschaftlich begleitete, be- Homosexualität: Krankheit/ moralisch verwerflich (1) oder so normal wie Sexualität zwischen Mann und Frau (10)? Geschlechter: Unterschiedliche Rechte und Pflichten (1) oder gleiche Rechte und Pflichten (10)? Sinti und Roma: Besondere Vorsicht im Umgang (1) oder genauso vertrauenswürdig wie andere Menschen (10)? Ehre: Durch Religion und Kultur verbindlich definiert (1) oder selbstbestimmt (10)? Heroes (vor Ausbildung) Heroes (heute) Eltern Abb. 2: Einschätzungen der HEROES im Vergleich zu ihren Eltern 305 uj 7 + 8 | 2015 Jugendgewaltprävention merkt Ambivalenzen: „Das Team berichtet davon, dass die jungen Männer zwar einerseits überzeugt für die Gleichberechtigung von Mann und Frau eintreten, andererseits aber verstört und unglücklich sein können, wenn die eigene Freundin Freiheiten beansprucht.“ Ähnliche Zwiespälte wurden in unseren Einzelgesprächen mit Menschen aus dem HEROES-Umfeld beschrieben. Angesichts des Alters der HEROES und ihrer vielschichtigen sozialen Umgebungen erscheinen diese Ambivalenzen nicht als ungewöhnlich. Kavemann beschäftigte sich primär mit Aspekten des HEROES-Projekts, die zu den erwünschten Wirkungen beitrugen. Genannt wurden: (1) Geschlechtersensibilität und Kultursensibilität im Projektteam, (2) Anerkennung in der offenen Diskussionskultur im Projekt, HEROES-Zertifizierungsfeiern und öffentlichen Ehrungen, (3) der Peer-Education-Ansatz, (4) theaterpädagogischer Zugang, (5) Beziehungsarbeit der Gruppenleiter_innen mit HEROES und HEROES-Aspiranten und (6) Akzeptanz des Projekts durch die Eltern der HEROES. Diese Faktoren wurden auch von unseren Gesprächspartner_innen in Interviews und Gruppengesprächen als auschlaggebend hervorgehoben und in der HEROES- Befragung bestätigt. Im Folgenden gehen wir auf Aspekte ein, die diese Ergebnisse ergänzen. Unsere Befragung von HEROES enthielt Fragen zur Qualität der Beziehungen der HEROES untereinander und mit dem Projektteam. Die Antworten der Teilnehmer zeigen, dass sich die HEROES in ihrer Gruppe respektiert und sicher fühlen. So sind sich zehn von 15 Befragten sicher, dass alles, was in den HEROES-Gruppen besprochen wird, vertraulich behandelt wird, und zwölf von 15 Befragten geben an, großes Vertrauen in die Projektleitung zu haben. Viele HEROES stammen aus Elternhäusern, in denen tradierte Ehrbegriffe eine eher geringe Rolle spielen. Keiner der Teilnehmer an der Homosexualität: Krankheit/ moralisch verwerflich (1) oder so normal wie Sexualität zwischen Mann und Frau (10)? Geschlechter: Unterschiedliche Rechte und Pflichten (1) oder gleiche Rechte und Pflichten (10)? Sinti und Roma: Besondere Vorsicht im Umgang (1) oder genauso vertrauenswürdig wie andere Menschen (10)? Ehre: Durch Religion und Kultur verbindlich definiert (1) oder selbstbestimmt (10)? Heroes (heute) Eltern Verwandte (nicht Kernfamilie) Freundeskreis Abb. 3: Einschätzungen der HEROES im Vergleich zu ihrem sozialen Umfeld 306 uj 7 + 8 | 2015 Jugendgewaltprävention HEROES-Umfrage berichtete, dass seine Eltern oder nahen Verwandten das Engagement bei HEROES negativ bewerteten. Zwölf von 15 schätzten die Bewertung seitens ihrer Mutter als positiv (zehn sogar„sehr positiv“) ein; für die Väter lag die Anzahl bei elf. Beachtenswerte Wirkungen auf Schüler_innen Dass sich Peer Education positiv auf Peer Educators auswirkt, ist bekannt. Beim HEROES-Projekt konnten wir darüber hinaus signifikante Wirkungen auf die Teilnehmenden von HEROES-Workshops ermitteln, d. h. auf die Schüler_innen in den Workshops, die von HEROES durchgeführt werden. Die HEROES-Workshops haben die Aufmerksamkeit der Teilnehmenden gewonnen. Die meisten befragten Workshop-Teilnehmer_innen erinnerten sich an die Inhalte der Rollenspiele, die im vorherigen Schuljahr stattgefunden hatten. Sie bewerteten den jeweiligen Workshop insgesamt als anregend: 63 % stimmen der Aussage zu, dass der Workshop „viel Spaß gemacht“ habe; 39 %, dass sie „lange darüber nachgedacht“ hätten. Mädchen und Jungen beurteilten die Workshops ähnlich. Fast 45 % der muslimischen Schüler_innen gaben an, lange über den Workshop nachgedacht zu haben. Der Peer-Educator-Ansatz macht es den Schüler_innen in Workshops leicht, sich mit den HEROES zu identifizieren und die Rollenspiele als relevant für ihr eigenes Leben wahrzunehmen: Die HEROES stammen selbst im weiteren Sinne aus „Ehrenkulturen“, auch wenn das Elternhaus oft weniger konservativ eingestellt ist als die Mehrheitskultur im Ursprungsland der älteren Generationen. Aus unserer Befragung geht hervor, dass ehemalige Teilnehmende an HEROES-Workshops sich deutlich ablehnender gegenüber Gendernormen äußern, die Gewalt gegen Frauen und Mädchen gutheißen, als Nicht-Teilnehmende. Das heißt, dass HEROES-Workshops die Teilnehmenden in ihren Einstellungen merklich beeinflussen und das Hinterfragen tradierter Verhaltensmuster unterstützen. Vor dem Hintergrund des bestehenden Wissens zu dieser Art Projekte ist dies ein beachtenswertes Ergebnis. Zur Messung der Einstellungen gegenüber GLGN-Normen haben wir den Schüler_innen eine Liste von Aussagen vorgelegt (vgl. Neuhaus 2010). Aus den Positionierungen der Befragten zu diesen einzelnen Aussagen errechneten wir deren durchschnittliche Haltung zu GLGN-Normen: Ablehnend (in der folgenden Abbildung mit einem Minuszeichen (-) gekennzeichnet), neutral (o) oder positiv (+). Wie die Abbildung zeigt, finden sich unter den Workshop-Teilnehmenden wesentlich mehr Schüler_innen, die gewaltlegitimierende Gender- Normen ablehnen, als in der Kontrollgruppe, und deutlich weniger, die GLGN-Normen zustimmen. Wir folgern daraus, dass die HEROES-Workshops die Teilnehmenden dazu bewegen, tradierte Gewalt gegen Frauen und Mädchen legitimierende Verhaltensnormen zu hinterfragen und sich davon zu in einem gewissen Maß zu distanzieren. Dennoch bleibt kontinuierliche Arbeit wichtig: Obwohl die HEROES-Workshops zu wünschenswerten Einstellungsveränderungen in Bezug auf gewaltlegitimierende Gendernormen führen, beschränkt sich der von uns ermittelte Effekt weitgehend auf Normen zur Rolle des Vaters in der Familie. Bei näherer Analyse der Aussagen zu den einzelnen Fragen der GLGN-Skala zeigt sich, dass diese Veränderung vor allem auf Fragen zutrifft, die mit familieninternen Dynamiken zusammenhängen, z. B. „als Vater ist der Mann der Chef der Familie und darf sich notfalls auch mit Gewalt durchsetzen“ oder „eine richtige Frau gehorcht ihrem Mann“. Bei Aussagen zu tra- 307 uj 7 + 8 | 2015 Jugendgewaltprävention dierten Ehrbegriffen und Geschlechterrollen hingegen (z. B. „Frauen sollten dafür bestraft werden, wenn sie die Ehre der Familie verletzen“ und „ein Mann, der nicht bereit ist, sich gegen Beleidigung mit Gewalt zu wehren, ist ein Schwächling“) sind die Unterschiede zwischen Workshop-Teilnehmenden und Kontrollgruppe wesentlich geringer. Tradierte Frauenbilder scheinen also nach den HEROES-Workshops weitgehend unangetastet zu bleiben. Die Rollenspiele, die sich primär an Jungen richten, bieten offenbar weniger Möglichkeiten, alternative Weiblichkeitsmodelle zu entwerfen. Die Zielsetzung, mit den Workshops außerhalb der Schulklasse Diskussionen zu den Themen Ehre und Geschlechterrollen anzustoßen, wurde begrenzt erreicht. Das Thema Geschlechtergerechtigkeit wurde von ehemaligen Teilnehmenden an HEROES-Workshops nur innerhalb der eigenen Familien öfter angesprochen. Beim Thema „Ehre“ sowie in der Häufigkeit von entsprechenden Diskussionen im Freundeskreis stellten wir keine Unterschiede zwischen Teilnehmenden und Vergleichsgruppe fest. Die Ergebnisse der Klassenbefragungen suggerieren sogar, dass in den von uns befragten Klassen die Themen „Ehre“ und „Gleichberechtigung“ nach dem HEROES-Workshop im Schuljahr deutlich seltener besprochen wurden als in Vergleichsklassen. Mögliche Gründe konnten im Rahmen dieser Evaluation nicht in vertiefenden Gesprächen mit den betreffenden Lehrkräften beleuchtet werden. Lehrkräfte sollten sich bewusst sein, dass selbst ein sehr mitreißender HEROES-Workshop nur dann nachhaltige Wirkungen entfalten kann, wenn Reflexion und Diskussionen weiter fortgeführt werden. Es ist bemerkenswert, dass ein einziger, sorgfältig vorbereiteter Workshop Gespräche innerhalb von Familien auslösen und die Haltungen und patriarchalisch geprägte Normen bei Heranwachsenden messbar beeinflussen kann. Insofern bewerten wir das HEROES-Projekt als erfolgreich. Um eine Veränderung im ganzen Spektrum gewaltlegitimierender Gendernormen zu erzielen, ist jedoch längerfristige Arbeit notwendig. Das Projektteam ist sich dessen bewusst und bietet deshalb Fortbildungen für Lehrkräfte und andere Berufsgruppen an, die mit Jugendlichen aus „Ehrenkulturen“ in Kontakt sind. Michaela Raab Schröderstraße 11 10115 Berlin m.raab@posteo.de Wolfgang Stuppert Innstraße 5 12045 Berlin wstuppert@gmail.com Abb. 4: Zustimmung und Ablehnung zu GLGN Ablehnung Zustimmung WS-Teilnehmende Kontrollgruppe 100 % 80 % 60 % 40 % 20 % 0 % 20 % 40 % 60 % 80 % 100 % 308 uj 7 + 8 | 2015 Jugendgewaltprävention Literatur Holmes, W., Olsen, L. (2010): Using Propensity Scores with Small Samples. In: www.faculty.umb.edu/ william_holmes/ usingpropensityscoreswithsmall samples.pdf, 31. 3. 2015 Kavemann, B. (2012): Abschlussbericht der wissenschaftlichen Begleitung des Projektes „Heroes - Gegen Unterdrückung im Namen der Ehre“. In: http: / / opus.kobv.de/ zlb/ volltexte/ 2014/ 23413/ pdf/ Ab schlussbericht_final.pdf, 31. 3. 2015 Neuhaus, J. (2010): Der Einfluss von gewaltlegitimierenden Gendernormen und Merkmalen der Gruppenkonstellation auf aggressives Verhalten bei Jugendlichen. In: www.diss.fu-berlin.de/ diss/ servlets/ MCRFileNodeServlet/ FUDISS_derivate_000000009 273/ 2010_Neuhaus_Onlineveroeffentlichung.pdf, 31. 3. 2015 Rexvid, D., Schlytter, A. (2012): Heroes, Hymen and Honour: A Study of the Character of Attitude Change among Male Youth with Their Roots in an Honour- Based Context. Review of European Studies 4, 22 - 32 Schäfer, F., Schwarz, M. (2007): Zwischen Tabu und Liberalisierung - Zur Sexualität junger Muslime. In: Wensierski, H. v., Lübcke, C. (Hrsg.): Junge Muslime in Deutschland. Lebenslagen, Aufwachsprozesse und Jugendkulturen. Verlag Barbara Budrich, Opladen, 251 - 281 Stuart, E., King, G., Imai, K., Ho, D. (2011): MatchIt: Nonparametric Preprocessing for Parametric Causal Inference. Journal of Statistical Software 42. www. jstatsoft.org/ v42/ i08/ paper, 31. 3. 2015 Thoemmes, F. (2012): Propensity score matching in SPSS. In: http: / / arxiv.org/ abs/ 1201.6385, 31. 3. 2015