eJournals unsere jugend 67/7+8

unsere jugend
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Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/uj2015.art53d
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Gewaltpräventive Theaterpädagogik

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Tina Wellmann
MÄCHTIG GEWALTIG ist ein gewaltpräventives Theaterprojekt für Kindergärten, Schulen und Jugendgruppen, das seit mehreren Jahren durchgeführt wird. Im Interview stellt die Gründerin Tina Wellmann ihren Ansatz und ihre Arbeit vor.
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329 unsere jugend, 67. Jg., S. 329 - 331 (2015) DOI 10.2378/ uj2015.art53d © Ernst Reinhardt Verlag München Basel Interview mit Tina Wellmann Jg. 1970; M A Deutsche Literaturwissenschaft und Philosophie, Theaterpädagogin, Mediatorin und Systemische Beraterin Gewaltpräventive Theaterpädagogik Das Projekt „MÄCHTIG GEWALTIG“ MÄCHTIG GEWALTIG ist ein gewaltpräventives Theaterprojekt für Kindergärten, Schulen und Jugendgruppen, das seit mehreren Jahren durchgeführt wird. Im Interview stellt die Gründerin Tina Wellmann ihren Ansatz und ihre Arbeit vor. ? Wie entstand MÄCHTIG GEWALTIG? Nach meiner Theaterpädagogik-Ausbildung wagte ich mich in die Selbstständigkeit als Theaterpädagogin und bot vor allem Improvisationstheater-Workshops an. Da fragte mich ein Sozialpädagoge, ob ich für Jugendliche auch Theaterangebote zum Thema Gewalt durchführen könne. Ich erklärte ihm, dass die Jugendlichen in meinen Workshops das Improvisieren als Ventil benutzen, denn sie improvisierten überwiegend gewaltvolle Alltagsszenen. Das war 1999. Ich verfeinerte also die thematischen Workshops und richtete den Blick der Teilnehmenden auf mögliche szenische Veränderungswege, die wir im Anschluss an die selbst entwickelten Szeneninhalte gemeinsam reflektierten. Das war der Grundstein für MÄCH- TIG GEWALTIG. ? Was ist denn das Besondere am Improvisationstheater im Vergleich zu „normalem“ Theater? Improvisationstheater funktioniert nur im Zusammenspiel, indem die DarstellerInnen die Spielangebote der Mitspielenden erkennen, annehmen und weiterführen. In der Theaterimprovisation füllen die Darstellenden die Figuren und deren Handlungen mit den Impulsen ihrer eigenen Fantasie. Da alle SpielerInnen in der Improvisation eigene Impulse geben und fremde aufnehmen, sind die Figurenschöpfungen und Handlungsverläufe Ergebnisse des gemeinsamen Spiels. ? Wie kann Theaterarbeit gewaltpräventiv wirken? Im Rahmen von MÄCHTIG GEWALTIG trainieren Kinder und Jugendliche spielerisch ihre Wahrnehmung. Techniken aus der Theaterpädagogik und insbesondere aus dem Improvisationstheater eignen sich ideal, die Selbstwahrnehmung und die Fremdwahrnehmung zu schulen. Häufig wird das eigene und fremde Verhalten im Miteinander zu wenig wahrgenommen und/ oder hinterfragt. Im spielerischen und szenischen Kontext können eingeschliffene Muster von z. B. gewalthaftem Verhalten benannt, untersucht und ggf. verändert werden. Die Teilnehmenden werden hierdurch sensibler in der 330 uj 7 + 8 | 2015 Jugendgewaltprävention Wahrnehmung solcher und ähnlicher konflikthaften und/ oder gewaltvollen Situationen. Sie trainieren ihre Selbstwahrnehmung - Was tue/ fühle ich? - und ihre Fremdwahrnehmung: Was tun die anderen? Sie nehmen die Körpersprache der anderen wahr. Der gemeinsame Austausch von Beobachtungen, Gedanken und Erfahrungen ist dabei bedeutend, um eigene selbstbewusste Positionen zu entwickeln. Die Kinder und Jugendlichen entwickeln im Projekt alltägliche Szenarien, stellen sie dar und diskutieren darüber. Über die spielerische Darstellung setzen sie sich in der Interaktion mit Konflikten und Gewalt in ihren verschiedenen Erscheinungsformen auseinander und verstehen so Konfliktszenarien und Gewaltsituationen als etwas Veränderbares. In den spielerischen Szenarien wird der selbstbewusste Blick der Akteure, aber auch der der Zuschauenden, auf die eigenen Denk- und Verhaltensweisen im Miteinander und im Konflikt geschärft. Die Distanz des Theaterspiels bietet den Teilnehmenden die Möglichkeit, losgelöst von der eigenen Person und von eingefahrenen Denk- und Verhaltensstrukturen Neues auszuprobieren, eigene Erfahrungen zu machen und Positionen zu entwickeln. So wird das Selbstbewusstsein im Denken und Handeln der Teilnehmenden gefördert. Zusätzlich festigt die theaterpädagogische Arbeit die Gruppe, schult Teamarbeit und schafft einen neuen Gruppenzusammenhalt. ? Wo und wie wird MÄCHTIG GEWALTIG umgesetzt? MÄCHTIG GEWALTIG wird meist in Schulklassen - in allen Jahrgangsstufen, in allen Schultypen - durchgeführt und laufend weiterentwickelt. Seit 1999 habe ich das Projekt weit über 300mal umgesetzt. Ergänzend zu dem theaterpädagogischen Projekt biete ich für Eltern, Lehrkräfte und PädagogInnen verschiedene Fortbildungen, systemische Beratung sowie Mediation im Konfliktfall an. ? Können Sie ein konkretes Projektbeispiel darstellen? An einer Grundschule habe ich drei Projekttage durchgeführt. Ausgangspunkt für die Projekttage war die Beobachtung von LehrerInnen, dass etliche Kinder aus unterschiedlichen Gründen nicht in der Lage sind, Mitteilungen von Lehrkräften und MitschülerInnen als an sich selber adressiert aufzunehmen. Einige von ihnen hören zwar die Mitteilungen, vergessen sie aber sehr schnell wieder, andere Kinder reagieren auf Mitteilungen, ihre Reaktion steht aber häufig nicht in Bezug zu dem Gesagten. Vielen Kindern fehlte somit eine Grundvoraussetzung für die Fähigkeit, fair miteinander umzugehen. Gemeinsam mit der Schulsozialarbeiterin entwickelte ich das Konzept für drei vierstündige aufeinander aufbauende Projekttage im Klassenverband. Wir verständigten uns inhaltlich auf drei hierfür wichtige Kompetenzbereiche. Die Kinder sollten spielerisch lernen, sich selbst bewusst wahrzunehmen, andere wahrzunehmen, also z. B. Spielangebote zu erkennen und zu hören, und die Angebote der anderen anzunehmen und mit eigenen Handlungen sinnvoll zu ergänzen. Das erste Projektmodul „Erkennen - wahrnehmen - weiterentwickeln“ vermittelt das kleine Einmaleins der Wahrnehmung bzw. Kommunikation. Im zweiten Projektmodul „Statuentheater - lebendige Standbilder bauen“ werden die Kinder mit verschiedenen Techniken in den Bau von lebendigen Statuen eingeführt. Im dritten Projektmodul „Bilder in Bewegung bringen“ werden, an die Spiel- und Gestaltungsfreude der Kinder anknüpfend, die bisher vermittelten Kompetenzen vertieft. Die Kinder verständigen sich in Kleingruppen über problematische Situationen in der Klasse und erstellen hierzu verschiedene Standbilder. Jedes Ausgangsbild mit einem problematischen „Ist-Zustand“ soll sich innerhalb von fünf weiteren 331 uj 7 + 8 | 2015 Jugendgewaltprävention Bildern schrittweise und glaubhaft so verändern, dass sich im Schlussbild alle Beteiligten wohl fühlen. In mehreren Durchgängen wird geprobt, welche Veränderungen notwendig sind, um vom Ausgangsbild zum Idealbild zu gelangen. Es entstehen auf diese Weise Abfolgen von Statuenbildern, die zeigen, welche Figur sich in welcher Weise bewegen muss, damit es einen Fortschritt gibt. Die Kinder entwickeln die Schritte zur Lösung selber, spielen die Bildabfolgen einander vor und reflektieren, ob die gespielten Schritte auch im Schulalltag durchgeführt werden könnten, welche Hilfen dazu u. U. nötig wären. Szenisch werden hier eigene Beiträge zu einer guten Klassengemeinschaft erkundet und ausprobiert. In den drei aufeinander aufbauenden Modulen üben die Kinder spielerisch, sich selbst wahrzunehmen, Gefühle auszudrücken, eigene Grenzen zu formulieren und deren Einhaltung auf faire Weise klar und deutlich durchzusetzen. Sie lernen, behutsam miteinander umzugehen und gemeinsam ein sinnvoll aufeinander bezogenes Werk entstehen zu lassen. Team- und Klassengeist werden gestärkt. Sie lernen, miteinander zu reden und zu kooperieren, einander zu trauen und sich aufeinander zu verlassen. ? Wie versuchen Sie, Nachhaltigkeit zu erreichen? Nachhaltigkeit wird durch die aufeinander aufbauenden drei Module innerhalb eines Halbjahres erreicht. Die regelmäßigen Reflexionsphasen mit den Kindern während der Projekttage ermöglichen ein Verstehen und Vertiefen des im Spiel Erlebten. Körper, Sinne und Geist werden im Spiel und in den Übungen genutzt. Die Gespräche mit dem/ der KlassenlehrerIn ermöglichen einen interdisziplinären Austausch über die Situation in der Klasse. Der/ die SchulsozialarbeiterIn steht als schnell erreichbarer Ansprechpartner für Kinder und LehrerIn zur Verfügung. Die KlassenlehrerInnen erhalten von mir die im Projekt entstandenen Fotos, diese dienen als Erinnerung an die Projekttage. Die KlassenlehrerInnen nutzen ein von mir erstelltes Protokoll über die Übungsfolge der einzelnen Projekttage sowie Beschreibungen der Spiele und wiederholen in den Phasen zwischen den Modulen einzelne Übungen mit ihren Klassen. ? Was ist Ihnen besonders wichtig an dem Projekt? Gruppenspaß und Spielkontext sind wichtige Säulen meiner Arbeit. Hierdurch entfällt bei den Teilnehmenden das Gefühl, „arbeiten“ bzw. eine nur zur Schau getragene Erkenntnis heucheln zu müssen. Auf diese Weise bleiben sie mit Konzentration bei der Sache, nehmen wahr, wagen und formulieren Neues. Alles dies geschieht einfach im gemeinsamen Spiel. ? Wo erfahren interessierte LeserInnen mehr über das Projekt? Meine Internetseite www.mächtig-gewaltig.de bietet weitere Informationen zu meiner Arbeit und stellt verschiedene Projektbeispiele vor. Vielen Dank für das Gespräch! Das Interview führte Sabine Behn