eJournals unsere jugend 67/7+8

unsere jugend
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0342-5258
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/uj2015.art55d
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2015
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Rezension: Roger Willemsen, 2014: Das Hohe Haus. Ein Jahr im Parlament

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Dieter Kreft
Ein Jahr lang hat sich Roger Willemsen auf die Besuchertribüne des Deutschen Bundestages gesetzt (7. Januar – 19. Dezember 2013), um als politisch interessierter Bürger zu beobachten, Eindrücke vom Geschehen des (eigentlichen) politischen Machtzentrums der BRD zu erhalten, um auf diese Weise auch etwas über den Zustand unserer Demokratie zu erfahren.
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344 uj 7 + 8 | 2015 Rezensionen Roger Willemsen, 2014: Das Hohe Haus. Ein Jahr im Parlament Frankfurt am Main: S. Fischer-Verlag, 398 Seiten, € 19,99, als E-Book € 17,99 Ein Jahr lang hat sich Roger Willemsen auf die Besuchertribüne des Deutschen Bundestages gesetzt (7. Januar - 19. Dezember 2013), um als politisch interessierter Bürger zu beobachten, Eindrücke vom Geschehen des (eigentlichen) politischen Machtzentrums der BRD zu erhalten, um auf diese Weise auch etwas über den Zustand unserer Demokratie zu erfahren. Herausgekommen ist ein eindrucksvolles Buch eines Demokraten über sein (unser) Parlament. Es ging ihm bei seinen Beobachtungen um „Wesen und Arbeit“ dieser so zentralen politischen Instanz (396). Seine Ausgangslage ist nicht uneindeutig-beliebig, sondern klar positioniert: „Die Kultur einer parlamentarischen Demokratie kommt weniger darin zum Ausdruck, dass am Ende Mehrheiten entscheiden, sondern darin, dass Minderheiten eigene Rechtsansprüche haben, die weder der Billigung noch der Genehmigung durch die jeweilige Mehrheit unterliegen“ (336). Und: „Die Wahrheit ist: Regierungsparteien kontrollieren das Kabinett nicht, vielmehr begleiten sie sein Tun repräsentativ, meist rühmend und dankend. Die Opposition sieht ohnmächtig zu und wird angesichts der langen vergeblichen Arbeit unbeherrschter und böser“ (16). Und er kennt sich aus, weiß um die Vielfachbelastung der Abgeordneten (Parlamentsarbeit, Aktenstudium, Wahlkreis- und Öffentlichkeitsarbeit) (23 f.), „So tritt das Parlament die Hoheit des ersten Wortes an die Massenmedien ab“ (47); schließlich: „So lange die regierenden Parteien im Parlament ihre Hauptaufgabe aber darin sehen, die von der Regierung eingebrachten Vorschläge gegen Diskussionen zu verteidigen und anschließend durchzuwinken, hat das Parlament keine aktive Kontrollfunktion und so erübrigt sich oft selbst das Debattieren“ (156). Begeistert hat mich immer wieder seine Sprachgewaltigkeit an vielen Stellen: wenn er etwa Ströbele als antiken Seher Teiresias erkennt, einen Wiedergänger des Gewissens (116), oder wenn er zur Parlamenthistorie schreibt: „Etwas begann barbusig auf Barrikaden und endet mit Motivkrawatte im Ausschuss“ (276). Wenn er dann an anderer Stelle von der „Halbwertzeit der Ergriffenheit“ spricht (319) oder davon, „… wo ihm Volker Bouffier mit dem Charisma eines Raubfisches zulächelt“ (334). Überaus angetan war ich auch immer wieder von der Bosheit seiner Formulierungen, wenn er etwa davon spricht, dass die Langeweile ein Berufsmerkmal des Parlamentariers sei (202), oder dieser Satz: „Nein, es mangelt dem Parlament nicht an den Glaubwürdigen. Aber wir kennen nur jene, die sich für Talkshows nicht zu schade sind“ (210). Ganz besonders hat mir dann gefallen, wenn er zu einer Rede des Parlamentarischen Staatssekretärs Ole Schröder, des Ehemannes der damaligen Familienministerin, schreibt, „Er spricht fließend Sarrazin“ (242). Überhaupt kann er sich - wenn diese Sentenz hier mal erlaubt ist - wundervoll „ekeln“, ich will und muss das ausführlicher zitieren, um deutlich zu machen, wie klar positioniert Roger Willemsen ist: „Auf dem Bahnhof begegnet mir Martin Lindner (FDP) wieder. Er ist in Begleitung, das gegelte Haar schillert. Heute hat er einmal ‚Quatsch‘ reingerufen, einmal ‚albern‘. Das war’s. Gestern hat er gesagt: ‚Es gibt in Deutschland eine Zunahme von Armutsberichten, aber keine Zunahme von Armut.‘ Der Gedanke gefiel ihm so gut, dass er ihn sogar wieuj 7 + 8 | 2015 345 Rezensionen derholte. In einem ICE begegnet Herr Lindner der Armut nicht. Aber als ich auf dem Bahnsteig sehe, wie sich ihm die Verkäuferin des Obdachlosenmagazins ‚Straßenfeger‘ nähert, ist mir die Situation schon zu plakativ, denn ich weiß, was folgen wird: die abwehrende Geste, die sich abwendende Person. Hier wenigstens fielen Reden und Handeln zusammen.“ (62). Und auch das hat mir unter dieser Rubrik gut gefallen, wenn er Niels Annen (SPD) aus einer Entgegnung zu Sahra Wagenknecht so zitiert und „analysiert“ : „… und Wagenknechts Rede ist ihm ‚ein Beitrag zur Debatte, der diesem Haus nicht würdig‘ ist - und diesem Dativ auch nicht, möchte man ergänzen, denn warum sollte die Liebe zum Land die Liebe zur deutschen Sprache nicht einschließen? “ (370) Und er ist klug, ein präziser Beobachter des Geschehens vor ihm, eigentlich unter ihm, denn er schaute ja von oben auf das Parlament. Er hat Respekt und behält immer wieder einen menschlichen Blick, ist sympathisch parteilich, zeigt überdeutlich, wen er mag und wen nicht. Nur wenige Beispiele dazu. ➤ Wenn er zu Norbert Geis, einen der letzten wirklich konservativen Parlamentarier in der Diskussion um Ehe, Homo-Ehe, Familienbild und anderes, schreibt: „Er hat [hierzu] keinen Spielraum für Kompromisse, und so blitzt in seinem ehrenhaften Starrsinn auch etwas von der vielgesuchten ‚Glaubwürdigkeit‘ des Parlamentariers auf. Wenig später werde ich mit Geis zufällig im Aufzug stehen, in seiner Begleitung eine junge Frau, der er das Parlament erklärt, seine Umgangsformen von ausgesuchter Höflichkeit, die Konversation zugewandt und voller Liebenswürdigkeit, sein Habitus der des Gentlemans … Als der Aufzug hält, ist es der jungen Frau und mir unmöglich, nach Geis ins Freie zu treten. Er besteht darauf, uns den Vortritt zu lassen - eine flüchtige Begegnung mit einem Typus, dessen Verschwinden das Parlament nicht bereichert.“ (119f ) ➤ Zu einer Unterstellung in der Parlamentsdebatte, Frauen verstünden nichts von Wirtschaftspolitik und bevorzugten Klatschpostillen, die unkommentiert durchgeht, so sein Kommentar: „Die Verachtung gegenüber den Frauen aber steigert sich in der Verachtung gegenüber den Armen.“ (92) ➤ Zur Abschiedsrede von Anton Scharf (SPD): „Der nächste am Pult, Heinrich L. Kolb (FDP), widmet seine Rede ganz dem Vorredner. Eine erstaunliche, aber sympathische Nutzung des Parlaments für das Sentimentale ist das. Anschließend geht ‚der Toni‘, wie er immer wieder genannt wird, zum FDP-Mann und umarmt ihn vor dem gesamten Plenum, gefolgt von Abgeordneten aller Fraktionen, die den offensichtlich von allen geschätzten Mann so lange umarmen, bis er schnellen Schrittes von dannen zieht. Es schadet dem Parlament nicht, sich so zu zeigen.“ (266f ) ➤ Oder zu einer Rede von Dieter Rossmann (SPD): „Die SPD kann immer wieder diese Überzeugten aufbieten, die an das Gewissen nicht appellieren, sondern es verkörpern.“ (282) ➤ Zu einer Rede von Heidrun Dittrich (Die Linke) zu den Rechten der Alten, die sie mit einem Verweis auf Stephane Hessel abschloss, der kurz davor mit 95 Jahren verstorben war: „Er überlebt die Deportation durch die Gestapo und blieb aktiv. Er schrieb ‚Empört Euch! ‘, setzte sich für Menschenrechte und die Überwindung der Armut ein. Er schlug vor, das Gemeinwohl vor die Interessen des Großkapitals zu setzen. Das sollten wir auch tun. Das war das einzige Mal, dass im Parlament eine Erinnerung an die außerparlamentarische Opposition aufschien.“ (125) ➤ Und schließlich noch einer, den Roger Willemsen offenbar nicht so mochte: „Jetzt steht Verteidigungsminister Thomas de Maizière (CDU/ CSU) selbst am Rednerpult, klein, dunkel gekleidet mit gestreiftem Schlips, ein Vollzugsbeamter in Kriegsfragen.“ (281) 346 uj 7 + 8 | 2015 Rezensionen Roger Willemsen hat dann auch nicht vergessen, wenigstens an einer Stelle auf seinen berühmten Vorgänger, Wolfgang Koeppen, und seinen Roman „Das Treibhaus“ zu erinnern, der erste mir bekannte Versuch, Parlamentarismus nach 1945 genauer zu betrachten und zu analysieren (133). Ich hoffe sehr, dass diese Zeilen zum Lesen herausfordern: politische Literatur zum „Sozialen im weitesten Sinne“, also auch für unsere „Zunft“ von Bedeutung und von ganz besonderer Qualität. Ich füge an, von einem geschrieben, den ich seit „Die Enden der Welt. Geschichte vom Reisen“ (2011) noch für einen elegant plaudernden Bildungsbürger gehalten habe: Ich habe mich geirrt! Prof. Dieter Kreft kremie.nuernberg@t-online.de DOI 10.2378/ uj2015.art55d