unsere jugend
4
0342-5258
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
71
2015
677+8
Jugendgewalt und Prävention in Berlin
71
2015
Albrecht Lüter
Mit der Arbeitsstelle Jugendgewaltprävention hat der Berliner Senat eine Einrichtung geschaffen, die kontinuierlich die Entwicklung der Jugendgewalt in der Stadt beobachtet und analysiert sowie Präventionsansätze evaluiert.
4_067_2015_7+8_0309
309 unsere jugend, 67. Jg., S. 309 - 320 (2015) DOI 10.2378/ uj2015.art51d © Ernst Reinhardt Verlag München Basel von Dr. Albrecht Lüter Jg. 1967; Diplom-Politologe; Leiter der Arbeitsstelle Jugendgewaltprävention Jugendgewalt und Prävention in Berlin Zum Profil der Arbeitsstelle Jugendgewaltprävention Mit der Arbeitsstelle Jugendgewaltprävention hat der Berliner Senat eine Einrichtung geschaffen, die kontinuierlich die Entwicklung der Jugendgewalt in der Stadt beobachtet und analysiert sowie Präventionsansätze evaluiert. Das Gesamtkonzept zur Reduzierung von Jugendgewaltdelinquenz in Berlin Vor dem Hintergrund eines bis zum Jahr 2007 zu verzeichnenden stetigen Anstiegs der Zahl der von Jugendlichen ausgeübten Gewaltdelikte hat die Landeskommission Berlin gegen Gewalt ein umfassendes „Gesamtkonzept zur Reduzierung von Jugendgewaltdelinquenz“ entwickelt, das im Jahr 2011 beschlossen wurde. Zentrales Ziel dieses Vorhabens war und ist, „die Konzepte zur Gewaltprävention bei Kindern und Jugendlichen mit dem Ziel weiter zu entwickeln, die von jungen Menschen in Berlin ausgeübten Gewaltdelikte zu reduzieren“ (Gesamtkonzept, 2). Die Landeskommission Berlin gegen Gewalt wurde 1994 durch Beschluss des Senats von Berlin als zentrales Berliner Präventionsgremium gegründet. Mitglieder sind heute die Staatssekretärinnen und Staatssekretäre der Senatsverwaltungen für Inneres und Sport, für Bildung, Jugend und Wissenschaft, für Justiz und Verbraucherschutz, für Gesundheit und Soziales sowie für Arbeit, Integration und Frauen. Mitglieder sind außerdem die Polizeivizepräsidentin, die Beauftragte des Senats von Berlin für Integration und Migration, der Opferbeauftragte des Landes Berlin sowie die Bürgermeisterinnen von Tempelhof-Schöneberg und Friedrichshain-Kreuzberg als Vertretung des Rats der Bürgermeister. Vorsitzender der Landeskommission ist seit dem 1. Dezember 2011 Andreas Statzkowski, amtierender Staatsekretär in der Senatsverwaltung für Inneres und Sport. Die Geschäftsstelle der Landeskommission Berlin gegen Gewalt ist mit MitarbeiterInnen aus den unterschiedlichen Ressorts interdisziplinär besetzt. Zu ihren Aufgaben gehören die Entwicklung, Förderung und Umsetzung von (Modell-)Projekten und Maßnahmen, wie beispielsweise das Berliner Modell der Kiezorientier- 310 uj 7 + 8 | 2015 Jugendgewaltprävention ten Gewalt- und Kriminalitätsprävention, das Rechtskundepaket, die Durchführung des Berliner Präventionstages, die Auslobung des Berliner Präventionspreises und die Organisation und Durchführung thematisch ausgerichteter Fachtagungen sowie weiterer Wettbewerbe. Weiterhin werden Forschungen zu verschiedenen Themenfeldern in Auftrag gegeben und Veranstaltungsreihen konzipiert und durchgeführt. Die Ergebnisse werden der Öffentlichkeit unter anderem durch Publikationen wie das Berliner Forum Gewaltprävention und über das Internet zugänglich gemacht. Kontinuierliche Abstimmungsprozesse mit allen beteiligten Ressorts gewährleisten, dass die Ressourcen der Verwaltungen und anderer Institutionen für die Prävention genutzt und entsprechende Maßnahmen durch die Landeskommission Berlin gegen Gewalt initiiert werden können. Das „Gesamtkonzept zur Reduzierung von Jugendgewaltdelinquenz in Berlin“ führt die Beiträge der verschiedenen Senatsverwaltungen zur Prävention von Jugendgewalt in Berlin zusammen und beschreibt ausführlich, was in den Zuständigkeitsbereichen der verschiedenen Senatsverwaltungen unternommen und welche Maßnahmen umgesetzt wurden, um Jugendgewalt vorzubeugen bzw. intervenierend einzugreifen. Auf dieser Grundlage werden Schwerpunkte gesetzt und Projekte bzw. Maßnahmen hervorgehoben, die als besonders förderungs- und unterstützungswürdig eingestuft werden, und Eckpunkte für ein weiteres Vorgehen in Form einer Priorisierung von Maßnahmen und der Auswahl von Maßnahmen zur weiteren Prüfung definiert. Als Querschnittsbedarf werden dabei auch Abstimmungsprozesse zwischen den Ressorts benannt. Das Gesamtkonzept orientiert sich darüber hinaus an den folgenden Handlungsansätzen: ➤ primäre Gewaltprävention stärken, ➤ früh und konsequent intervenieren, ➤ ganzheitlich und nachhaltig intervenieren, ➤ zügig und wirksam sanktionieren, ➤ geschlechtsspezifische Aspekte der Gewaltprävention in den Blick nehmen und ➤ Integration fördern. Diese Leitideen besitzen übergreifende Gültigkeit für das Handeln aller Verwaltungsbereiche und können als Grundlage einer entsprechenden Abstimmung fungieren. Als Bestandteil eines Senatsbeschlusses bildet das „Gesamtkonzept zur Reduzierung der Jugendgewaltdelinquenz“ eine zentrale Richtlinie, die die inhaltliche und praktische Ausrichtung von Jugendgewaltprävention in Berlin bestimmt. Vor dem Hintergrund, dass es in Berlin bezüglich der Entwicklung der Gewaltdelinquenz junger Menschen und der in diesem Zusammenhang ergriffenen präventiven und interventiven Maßnahmen weder ein aussagekräftiges Monitoring gibt noch Evaluationsergebnisse zu diesen Maßnahmen in ausreichendem Umfang vorliegen, ist ein zentrales Projekt im Rahmen des Gesamtkonzeptes die Implementierung einer „Arbeitsstelle Jugendgewaltprävention“, die diese komplexen Aufgaben übernimmt und auf Grundlage der Forschungsergebnisse unter anderem auch die Umsetzung der im Gesamtkonzept benannten Maßnahmen bewertet. Die Arbeitsstelle Jugendgewaltprävention Die Arbeitsstelle Jugendgewaltprävention, die durch Camino - Werkstatt für Fortbildung, Praxisbegleitung und Forschung im sozialen Bereich gGmbH - betrieben wird, nahm im Juli 2013 ihre Arbeit auf. Ihre zentralen Arbeitsbereiche bestehen in der Durchführung eines jährlichen Monitorings zur Entwicklung von Jugendgewalt in Berlin sowie zum Stand der Präventionsangebote und in der Entwicklung der „Evaluationskultur“ in Berlin durch die Auswer- 311 uj 7 + 8 | 2015 Jugendgewaltprävention tung bestehender Evaluationen, die Durchführung und Förderung externer Evaluationen von unterschiedlichen gewaltpräventiven Projekten sowie die Anregung von Selbstevaluationen. Im Ergebnis werden Bedarfe der Jugendgewaltprävention in Berlin definiert sowie bewertet, inwieweit das „Gesamtkonzept zur Reduzierung von Jugendgewaltdelinquenz“ und die dort benannten Maßnahmen weiterhin angemessen sind bzw. weiterentwickelt werden sollten. Weiterhin werden Qualitätsstandards für Präventions- und Interventionsmaßnahmen zur Reduzierung von Jugendgewalt entwickelt. Die Arbeitsstelle Jugendgewaltprävention konzentriert sich in ihrer Arbeit auf folgende Handlungsfelder: ➤ Kinder- und Jugendhilfe, ➤ Schule, ➤ Arbeit mit Jugendlichen nach Straffälligkeit, ➤ Polizei, ➤ Sport, ➤ Stadtentwicklung, ➤ Integration und Migration. Für jedes dieser Handlungsfelder wurde ein Qualitätszirkel eingerichtet, an dem VertreterInnen überwiegend aus der Praxis, aber auch aus der Wissenschaft teilnehmen und die Ergebnisse der Arbeitsstelle Jugendgewaltprävention vor dem Hintergrund ihrer Erfahrungen und Kenntnisse bewerten. Begleitet wird die Tätigkeit der Arbeitsstelle Jugendgewaltprävention weiterhin von einem übergeordneten Qualitätszirkel, der aus WissenschaftlerInnen unterschiedlicher Fachdisziplinen gebildet wird, und von der „Koordinierungsgruppe zur fachlichen Begleitung der Arbeitsstelle Jugendgewaltprävention“, die sich aus VertreterInnen der am „Gesamtkonzept zur Reduzierung der Jugendgewaltdelinquenz“ beteiligten Senatsverwaltungen und Vertreter/ innen der Mitglieder der Landeskommission Berlin gegen Gewalt zusammensetzt. Dadurch ist es möglich, ein umfassendes Bild der Berliner Präventionslandschaft zu entwerfen sowie die Ergebnisse schrittweise und zeitnah in die Weiterentwicklung von Präventionsmaßnahmen zur Verhinderung oder Reduzierung von Jugendgewalt einfließen zu lassen. Das Monitoring Jugendgewaltdelinquenz Im Sinne einer bedarfsangemessenen Ausrichtung der Präventionspraxis in Berlin nimmt neben der Einbindung des Akteurswissens aus den genannten Handlungsfeldern die systematisch angelegte Situationsanalyse nach wissenschaftlichen Qualitätskriterien einen zentralen Stellenwert für die Arbeitsstelle Jugendgewaltprävention ein. Vor allem zwei Module sind in dieser Hinsicht hervorzuheben. Neben dem kontinuierlichen Monitoring von Jugendgewalt, das in jährlichem Turnus angelegt ist und sich auf das Hellfeld der Gewaltdelinquenz richtet, ist zum Auftakt auch eine Dunkelfeldstudie umgesetzt worden, die Gewalterfahrung und Lebenslage von SchülerInnen der 7. Klassen in den Fokus nimmt. Neben der räumlichen Verbreitung und den Besonderheiten von Jugendgewalt in Berlin zielt das Monitoring auch auf die Überprüfung der Passgenauigkeit und Bewährung von Projekten und Maßnahmen der Jugendgewaltprävention. Es erhebt daher entsprechende Angebote in Berlin und bereitet die Befunde in einer nutzungsorientierten Form auf. Das Monitoring Jugendgewaltdelinquenz umfasst unterschiedliche Analyseebenen und identifiziert relevante Schwerpunktgebiete für die Bedarfsplanung. Die Analysen berücksichtigen daher neben der landesweiten Perspektive auch die Ebene der Bezirke und nach Möglichkeit, d. h. bei Verfügbarkeit entsprechender Daten und ausreichender Fallzahlen, auch die noch kleinräumigere Perspektive der Bezirksregionen. Außerdem wird der sozialräumlich differenzierte Zugang noch ergänzt um bereichsspezifische Analysen zum Berliner Schulwesen, das auch als Ansatzpunkt von Präven- 312 uj 7 + 8 | 2015 Jugendgewaltprävention tionsangeboten im Berliner „Gesamtkonzept zur Reduzierung der Jugendgewaltdelinquenz“ einen besonderen Stellenwert besitzt. Um das Aufkommen von Jugendgewalt in den Kontext der sozialen Situation und Entwicklung der Stadt einbetten zu können, bezieht das Monitoring Jugendgewaltdelinquenz mit seinem sozialräumlichen Zugang in breiter Linie überdies auch Indikatorensysteme des Berliner Monitoring Soziale Stadtentwicklung ein. Das Monitoring ist als Sekundäranalyse angelegt, die bestehende Datenbestände in einer bisher nicht verfügbaren Breite und Systematik aufbereitet und analysiert. Daten der polizeilichen Verlaufs- und Kriminalitätsstatistik nehmen dabei im Blick auf Jugendgewalt eine tragende Rolle ein und werden systematisch mit Daten zur sozialen Situation in Berlin und seinen Bezirken verknüpft. Ausgewertet wird dabei zunächst auf der Ebene der Stadt ein breites Spektrum von Gewalttaten, auf der kleinräumigeren Ebene erfolgt eine Konzentration auf in der polizeilichen Verlaufsstatistik erfasste sogenannte Rohheitsdelikte. Die ausgeprägte Fokussierung auf Gewalt an Schulen und die Reduzierung von Schuldistanz als präventiver Ansatz gehören zu den Kernelementen des Berliner Modells der Gewaltprävention. Zur Entwicklung schulischer Gewalt stehen verschiedene Informationsquellen zur Verfügung, die sich in Hinsicht auf ihren spezifischen Informationsgehalt und ihre Belastbarkeit unterscheiden, im Rahmen des Monitorings aber miteinander verzahnt und damit auch „gehärtet“ werden. Zum einen handelt es sich auch an dieser Stelle wiederum um Daten der polizeilichen Verlaufsstatistik zu an Schulen registrierten Rohheitsdelikten mit Tatverdächtigen von 8 bis unter 21 Jahren, die nach Aufbereitung durch die Arbeitsstelle Jugendgewaltprävention systematische Analysen auch auf der Ebene der Bezirksregionen erlauben. Überdies werden der Arbeitsstelle durch die Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Wissenschaft (SenBJW) Daten aus dem schulischen Notfallmeldesystem zur Verfügung gestellt. Das Land Berlin hat den Berliner Schulen seit 2005 fortlaufend aktualisierte und weiter entwickelte Notfallpläne zum Umgang mit Gewaltvorfällen und Krisensituationen an die Hand gegeben, die Unterstützung und Handlungsrichtlinien in Situationen von Mobbingvorfällen bis zu Amoktaten - also bei Taten von sehr unterschiedlichem Schweregrad - bieten. Teil dieser Notfallpläne ist auch ein Meldebogen, mit dem einschlägige Vorfälle an die Senatsverwaltung berichtet werden, die diese Informationen sammelt und bereithält. Diese Daten stehen der Arbeitsstelle Jugendgewaltprävention zur Verfügung und bilden ein breites Spektrum von Gewaltvorfällen ab. Schließlich konnte für das erste Monitoring 2014 auch auf Daten der Unfallkasse Berlin zurückgegriffen werden. Die Unfallkasse Berlin erfasst schulische Gewaltfälle, aus denen sich potenziell Schadenersatzansprüche ergeben können. Die Fallzahl dieser Vorfälle ist im Vergleich zu den erstgenannten Informationsquellen zwar zu gering, um Analysen auf der Ebene der Sozialräume aufzuschlüsseln; aufgrund des feingliedrigen Erfassungssystems sind jedoch Aussagen beispielsweise über die spezifischen Tatorte innerhalb des Sozialraums Schule und auch zur spezifischen Phänomenologie schulischer Gewalt möglich (Schroer-Hippel/ Karliczek 2014). Die landesweite Anlage des Monitoring und seine sozialräumliche Differenzierung setzen für Berlin neue Meilensteine bezüglich des verfügbaren Wissens zu Jugendgewalt. Jenseits generalisierter Befunde und Erkenntnisse bietet das Monitoring auch eine sehr konkrete wissenschaftliche Dienstleistung, indem es Akteuren des Landes und der Bezirke hochspezifisch aufbereitete Informationen zu ihren sozialräumlichen Kontexten an die Hand gibt. Systematische Erträge werden voraussichtlich im Zuge eines längeren, mehrere Kalenderjahre umfassenden Untersuchungszeitraums zunehmend differenzierter und auch im Blick auf zufällige Schwankungen irrtumssicherer formuliert werden können. 313 uj 7 + 8 | 2015 Jugendgewaltprävention Schon zum aktuellen Zeitpunkt zeichnet sich ab, dass sich die Entwicklung der Jugendgewalt auch in Berlin - im Einklang mit Forschungsbefunden aus dem nationalen und internationalen Rahmen - rückläufig verhält. Dieser Trend erhält sich stabil über die Kalenderjahre 2012 und 2013 und erstreckt sich zudem weitgehend, wenn auch in unterschiedlicher Intensität, über das gesamte Stadtgebiet. Als Hauptstadt und größte deutsche Metropole macht Berlin in regelmäßigen Abständen auch in Sachen Jugendgewalt Schlagzeilen, die sich auf ganz unterschiedliche Gegenstandsbereiche wie politisch motivierte Gewalt (1. Mai, rechte Gewalt), bestimmte Stadtgebiete (z. B. migrantisch geprägte Quartiere wie Neukölln) oder spezifische Tätergruppen (Intensivtäter) erstrecken. So ernst diese Phänomene von der Seite des Landes Berlin auch genommen werden, belegt das Monitoring Jugendgewalt, dass Berlin mitnichten auf dem Weg zu einer Metropole der Jugendgewalt ist. Allgemeine soziale Entwicklungsprozesse und ein Bündel von Präventionsmaßnahmen sorgen insgesamt für eine positive Gesamtbilanz, deren Stabilität allerdings unter Berücksichtigung neuer Problemlagen und Erscheinungsformen von Jugendgewalt fortlaufend zu beobachten sein wird. Das Monitoring Jugendgewalt erlaubt durch die systematische Berücksichtigung sozialstruktureller Informationen und auch dank partieller Anleihen bei einem anderen Monitoring-System des Landes Berlin - dem Monitoring Soziale Stadtentwicklung - überdies auch die Formulierung von Erklärungsangeboten zu sozialräumlichen Unterschieden des Gewaltaufkommens. Es zeichnet sich in diesem Kontext deutlich ab, dass der Sozialstatus der jeweiligen Regionen - gemessen an ausgewählten Indikatorvariablen (Arbeitslosigkeit (auch Jugend- und Langzeitarbeitslosigkeit), Bezug von Leistungen nach SGB II u. a.) ein entscheidender Erklärungsfaktor ist. Der zusätzliche Erklärungsbeitrag der jeweiligen interkulturellen Mischung der Bevölkerung ist demgegenüber zu vernachlässigen. Das Aufkommen von Jugendgewalt in Berlin variiert also in hohem Maß in Abhängigkeit von der allgemeinen sozialen Situation des lebensweltlichen Kontextes der Jugendlichen und lässt sich insofern nicht auf bestimmte Bevölkerungsgruppen einengen oder als Effekt eines hohen Migrantenanteils oder interkultureller Konfliktlagen beschreiben. Ein weiterer Befund, der sich über den bisher analysierten Untersuchungszeitraum hinweg als stabil erweist, richtet sich auf räumliche Brennpunkte von Jugendgewalt und die relevanten „Hotspots“ im Stadtgebiet. Berlin hat in den vergangenen Jahrzehnten als Hauptstadt und als Schnittstelle von Ost und West wie vielleicht keine andere deutsche Stadt eine dynamische Metamorphose durchlebt, die bis heute unabgeschlossen ist. Vor diesem Hintergrund erscheint es bemerkenswert, dass sich im Blick auf Hoch- und Extrembelastungen sozialer Räume mit Jugendgewalt ein bestimmtes Muster mit hoher Konsistenz abzeichnet: Als besondere Brennpunkte erweisen sich eher randstädtisch gelegene Gebiete, die durch Großsiedlungen mit schwieriger sozialer Lage geprägt sind. Wie kein anderer Bezirk steht in Berlin dabei der Bezirk Marzahn-Hellersdorf für eine Überlagerung schwieriger sozialer Lagemerkmale mit einer auch architektonisch-baulich eher unwirtlichen Umwelt. Wo Marzahn-Hellersdorf großflächig über mehrere Bezirksregionen hinweg von solchen Siedlungsstrukturen geprägt ist, gelten ähnlich gerichtete Befunde bezüglich des Aufkommens von Jugendgewalt aber auch in stärker fokussierten, enger auf einzelne Bezirksregionen konzentrierten Großsiedlungen. Hervorzuheben ist im Blick auf systematisch gerichtete Fragestellungen, dass Marzahn-Hellersdorf im Besonderen und andere Großsiedlungen im Allgemeinen keineswegs durchgehend durch einen hohen Anteil von AnwohnerInnen mit Migrationshintergrund geprägt sind. Eine Reihe der fraglichen Gebiete sind - als sogenannte Plattenbausiedlungen - im ehemali- 314 uj 7 + 8 | 2015 Jugendgewaltprävention gen Ostteil Berlins angesiedelt und weisen deutlich unterdurchschnittliche Anteile von durch Einwanderungsbiografien geprägten AnwohnerInnen auf. Die Hinweise auf die Konzentration von Jugendgewalt in Großsiedlungen an der städtischen Peripherie sollen dabei keineswegs innerstädtische Problemlagen in Abrede stellen, die sich in Bezirken mit einer Überlagerung von hoher ethnischer und kultureller Heterogenität mit schwierigen allgemeinen Lagemerkmalen ergeben. Bei aller gebotenen Differenzierung steht Marzahn-Hellersdorf aber in mindestens gleichem, wenn nicht sogar stärkerem Maße wie der ehemalige „Randale“-Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg oder das durch „Multikulti“ und Einwanderung geprägte Neukölln symbolhaft für empirisch zu beobachtende Entwicklungstrends von Jugendgewalt. Nicht alle im Blick auf Jugendgewalt einschlägigen Aspekte sind zugleich strafrechtlich und insofern auch im engeren Sinn kriminologisch relevant. Die bisher dargestellten Zugänge des Monitorings beziehen sich jedoch auf Merkmale, die kriminologisch gesprochen dem „Hellfeld“ der Jugendgewalt zuzurechnen sind. Daher bietet sich - wiederum kriminologisch gesprochen - ein Abgleich mit dem„Dunkelfeld“ der Jugendgewalt an. Entsprechend wurde durch die Arbeitsstelle Jugendgewaltprävention eine Dunkelfelderhebung an Berliner Schulen umgesetzt, an der insgesamt 773 SchülerInnen der 7. Klassen teilnahmen. Für die Befragung ausgewählt wurden insgesamt 15 Schulen in zehn Bezirksregionen, die sich jeweils durch eine überdurchschnittliche Gewaltbelastung im Hellfeld auszeichneten. Der Beitrag dieser Erhebung besteht neben einer aktuellen Beleuchtung des Dunkelfelds auch darin, Konkretisierungen und Erklärungsoptionen von Jugendgewalt auszuloten. Neben den Gewalterfahrungen der Jugendlichen - als Täter und als Opfer - wurde daher auch ein breites Spektrum an möglichen Einflussfaktoren erhoben. Dazu gehören die ➤ ethnische Zugehörigkeit, ➤ die allgemeine Lebenssituation, ➤ Wohnumfeld und Sicherheitsgefühl, ➤ der Freundeskreis und das Freizeitverhalten, ➤ Medienkonsum, ➤ das Verhältnis zur Schule, ➤ Wert- und Normorientierungen und ➤ der Grad der Problembelastung. Im Dunkelfeld bildet sich die ausgeprägte stadträumliche Ungleichverteilung der Jugendgewalt bemerkenswerterweise aber nur bedingt ab. Als besonders ausgeprägte Gewaltformen im schulischen Kontext zeichnen sich außerdem Mobbing und Bullying ab. Delinquente Peers, Schuldistanz, gewaltlegitimierende Männlichkeitsbilder sowie eigene Diskriminierungserfahrungen erweisen sich als relevante Bedingungsfaktoren, die sich bei Jugendlichen mit Migrationshintergrund kumulieren. Im Blick auf geeignete Präventionsstrategien ist zu unterstreichen, dass sich ein positives Schulklima als besonders relevanter Schutzfaktor erweist (Bergert et al. 2015). Selbstverständlich gehen die Erhebungen der Arbeitsstelle Jugendgewaltprävention zu umgesetzten Präventionsmaßnahmen weit über diesen wichtigen Teilaspekt hinaus. Durch wiederum nach Bezirken differenzierte Erhebungen zum Verbreitungsgrad landesweiter Handlungsansätze und Projekte - etwa der Polizei - und vertiefende Recherchen zu besonderen Akzentsetzungen und Strategien der Bezirke sollen schließlich tiefenscharfe Bezirksportraits entwickelt werden, die auch Aussagen über den Grad der Abstimmung von bestehendem Präventionsrepertoire und lokaler Gewaltbelastung erlauben sollen. Bestandsaufnahme zum Gesamtkonzept zur Reduzierung der Jugendgewaltdelinquenz Die Arbeitsstelle Jugendgewaltprävention verfügt mit den genannten Aktivitätssträngen über eine außergewöhnlich breit gefächerte und zudem kontinuierlich über mehrere Jahre fortge- 315 uj 7 + 8 | 2015 Jugendgewaltprävention schriebene Wissensbasis zu Jugendgewalt und zur Präventionspraxis in Berlin. Die damit verbundenen Erkenntnisgewinne sollen zugleich systematisch mit der Qualitäts- und Praxisentwicklung im Land verschränkt werden. Die Arbeitsstelle Jugendgewaltprävention zielt also mit ihren sozialwissenschaftlichen Analysen zu Jugendgewalt in städtischen Räumen zugleich auf die praxisnahe Situations- und Bedarfsanalyse. Neben der kontinuierlichen Arbeit der bereits genannten Qualitätszirkel, die die Rückkopplung der Arbeitsstelle Jugendgewaltprävention in die verschiedenen Handlungsfelder sicherstellen, sind hier herausragende Meilensteine besonders zu betonen. Dazu gehört gut anderthalb Jahre nach Einrichtung der Arbeitsstelle Jugendgewaltprävention vor allem eine umfassende Bestandsaufnahme über die konzeptionelle Grundlegung der Jugendgewaltprävention in Berlin - das„Gesamtkonzept zur Reduzierung der Jugendgewaltdelinquenz“. Diese Bestandsaufnahme führt Erträge aus dem Monitoring, der Dunkelfelderhebung und einer Evaluationssynthese mit weiteren Erhebungen zur Umsetzung und Bewährung von Maßnahmen zusammen und erlaubt damit eine fachlich fundierte und empirisch kontrollierte Einschätzung des landesweiten Konzeptes. Insofern diese Bestandsaufnahme gut vier Jahre nach Beschluss des „Gesamtkonzepts zur Reduzierung der Jugendgewaltdelinquenz“ eine belastbare Diskussionsgrundlage für eine aktuelle Einschätzung bereitstellt, ist sie auch ein plastisches Beispiel für die Einbeziehung fachlicher Impulse in den themenspezifischen Politikprozess. Die Bestandsaufnahme zum Gesamtkonzept umfasst dabei verschiedene Dimensionen, die jeweils spezifische Anforderungen an die Arbeitsstelle Jugendgewaltprävention richten. Konkret handelt es sich um 1) eine logische Systematisierung des Berliner Gesamtkonzepts anhand fachlicher Kriterien der Präventionsdebatte, 2) seine inhaltliche Bewertung auf der Grundlage empirisch identifizierter Problemlagen und Bedarfe und 3) eine Bestandsaufnahme zu seiner Umsetzung und Bewährung. Bezüglich seines Umfangs, seines konzeptionellen Reifegrads, vor allem aber auch seiner institutionellen Verankerung durch die Landeskommission Berlin gegen Gewalt und die kontinuierlich arbeitende Geschäftsstelle der Landeskommission Berlin gegen Gewalt verfügt das Land Berlin mit dem „Gesamtkonzept zur Reduzierung der Jugendgewaltdelinquenz“ über eine in mancher Hinsicht modellhafte Grundlegung. Dennoch haben sich aufgrund der Entstehung des „Gesamtkonzepts zur Reduzierung der Jugendgewaltdelinquenz“ als Kooperation mehrerer Verwaltungsressorts im Blick auf seine fachliche Bewertung weitergehende Anforderungen an die Systematisierung seiner konzeptionellen Grundstruktur und die inhaltliche Integration seiner verschiedenen Elemente ergeben. Die Arbeitsstelle Jugendgewaltprävention hat daher (1) eine logische Modellierung des „Gesamtkonzepts zur Reduzierung der Jugendgewaltdelinquenz“ vorgenommen, dessen Leit- und Mitterziele identifiziert, sie systematisiert und den relevanten primären, sekundären und tertiären Präventionsebenen zugeordnet. Alle Maßnahmen des „Gesamtkonzepts zur Reduzierung der Jugendgewaltdelinquenz“ werden somit in einer nach konsistenten Kriterien aufgebauten Zielmatrix verortet, womit Schwerpunktsetzungen der unterschiedlichen Verwaltungsbereiche klarer sichtbar, auch implizite Zielsetzungen expliziert und damit prinzipiell einer Überprüfung zugänglich gemacht werden. Diese Aufbereitung des „Gesamtkonzepts zur Reduzierung der Jugendgewaltdelinquenz“ fungiert in einem weiteren Schritt (2) als Grundlage, um es mit Befunden aus den Erhebungen zum Hell- und Dunkelfeld der Jugendgewalt in Berlin abzugleichen. Die Arbeitsstelle Jugendgewaltprävention hat dazu neben einer umfassenden 316 uj 7 + 8 | 2015 Jugendgewaltprävention Sichtung des kriminologischen Forschungsstandes die eigenen Studien unter den Leitfragen (a) der Verteilung von Jugendgewalt in Berlin, (b) den zentralen Orten der Gewalt, (c) den relevanten Merkmalen von jugendlichen Gewalttäter/ innen sowie (d) den markanten - sowohl schützenden wie auch gefährdenden - Einflussfaktoren verschränkt. In allen durch diese Leitfragen markierten Bereichen konnten damit auf der Grundlage einer sehr umfassenden Datenbasis bestehende Präventionsbedarfe abgeleitet werden. Wo die logische Modellierung auf eher konzeptioneller Ebene die Identifizierung strategischer Schwerpunkte und Lücken von Handlungsstrategien ermöglicht, bietet dieses Verfahren tatsächlich empirisch begründete Bewertungskriterien. Es eröffnet die Möglichkeit einer punktgenauen Überprüfung, inwieweit die gemäß der Situationsanalyse bestehenden Bedarfe bereits im„Gesamtkonzept zur Reduzierung der Jugendgewaltdelinquenz“ berücksichtigt worden sind. Im Ergebnis zeichnet sich ab, dass das „Berliner Modell“ der Gewaltprävention eine im Ansatz belastbare Berücksichtigung der zentralen Bedarfslagen des Landes bietet (vgl. Arbeitsstelle Jugendgewaltprävention 2015): ➤ Sozialräumlichen Aspekten und Zugängen wird umfassend Rechnung getragen. ➤ Zentrale Orte jugendlicher Gewalt - insbesondere die Schulen - werden auch in der Prävention besonders berücksichtigt. ➤ Der Stellenwert primärer und sekundärer sowie früh ansetzender Prävention ist konzeptionell abgebildet. ➤ Das Qualitätskriterium des vernetzten und kooperativen Vorgehens wird beachtet (Jugendhilfe - Schule, Kooperation mit Migrantenorganisationen etc.). Mit eher illustrativem Anspruch sollen an dieser Stelle aber auch einige Entwicklungspotenziale genannt werden. Angesichts der ungleichen Verteilung und erheblichen sozialräumlichen Konzentration von Jugendgewalt im Stadtgebiet empfiehlt es sich beispielsweise, besonders hoch belastete Sozialräume (Großsiedlungen) verstärkt zu berücksichtigen. Die Fortführung der in Berlin gut ausgebauten schulischen Prävention ist sinnvoll, wobei wiederum eine kooperative Strategieentwicklung relevanter Akteure an besonders belasteten Schulen unter Beachtung auch von Schulwegen und Schulhöfen sinnvoll erscheint. Ergänzende Unterstützung wird mittlerweile durch das Bonus-Programm der Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Wissenschaft für Schulen in schwieriger Lage bereits angeboten. Eine Verstärkung auch niedrigschwelliger, primärpräventiver Angebote im und für den öffentlichen Raum sowie die Bereitstellung von Angeboten zur individuellen Stärkunggegenüber problematischen Peer-Beziehungen (Positive Peer Culture) würden das Angebotsspektrum substanziell verbessern. Beide bisher genannten Zugänge - die logische Modellierung und die inhaltliche Bewertung des Gesamtkonzepts - beziehen zwar in unterschiedlichem Maß empirisches Wissen und fachliche Erkenntnisse ein, bewegen sich allerdings noch gleichermaßen auf der Ebene einer Konzeptprüfung. Gefragt wird, inwieweit das Handlungskonzept aus heutiger Perspektive als logisch konsistent und bedarfsgerecht ausgerichtet erscheint. Darüber hinausgehend hat die Arbeitsstelle Jugendgewaltprävention im Zuge ihres Auftrags an der Schnittstelle zwischen Wissenschaft, Praxis und Politik/ Verwaltung (3) untersucht, inwieweit das ja zunächst vor allem als strategische Rahmenplanung angelegte Berliner „Gesamtkonzept zur Reduzierung der Jugendgewaltdelinquenz“ - mit einer einerseits bereits zum Zeitpunkt des Beschlusses in Teilen praktisch realisierten Ausgangslage, andererseits aber auch mit zahlreichen zur Implementierung oder Verstetigung erst vorgesehenen Maßnahmen und Projekten - in den zurückliegenden Jahren seiner verbindlichen Geltung auch tatsächlich umgesetzt werden konnte und sich hierbei bewährt hat. Die erweiterte Bestandsaufnahme über alle im Berliner „Gesamtkonzept zur Redu- 317 uj 7 + 8 | 2015 Jugendgewaltprävention zierung der Jugendgewaltdelinquenz“ genannten Maßnahmen, Programme und Projekte und darüber hinaus auch einige weitere, aktuelle Handlungsansätze versteht sich dabei angesichts bestehender Ressourcengrenzen der Arbeitsstelle Jugendgewaltprävention nicht als Controlling oder Programmevaluation im denkbar umfassendsten Sinn. Ein derartiges Controlling würde nach Konzeptplanungen der Arbeitsstelle Jugendgewaltprävention sinnvollerweiseeinlängerfristigundbeteiligungsorientiert angelegtes Verfahren erfordern. In der bestehenden Form der Bestandsaufnahme geht es aber - wiederum unter Maßgabe der direkten Anschlussfähigkeit im politischen Prozess - um eine belastbare Bewertung der Umsetzungsstände und der Maßnahmenbewährung. Grundlage hierfür bieten Abfragen zu allen relevanten Projekten bei den zuständigen Senatsverwaltungen, vorliegende Evaluationen zu den genannten oder auch vergleichbarenMaßnahmensowieDokumentenanalysen und weiterführende Recherchen bei Trägern von Maßnahmen. Es ergibt sich somit eine punktgenaue Einschätzung des Berliner „Gesamtkonzepts zur Reduzierung der Jugendgewaltdelinquenz“ einige Jahre nach dessen Implementierung, die nicht zuletzt von ihrer Tiefenschärfe und Detailgenauigkeit bezüglich einzelner Handlungsansätze in Berlin lebt. Das macht naturgemäß die bündige Zusammenfassung wenig ertragreich - festgehalten werden kann jedoch, dass das Berliner„Gesamtkonzept zur Reduzierung der Jugendgewaltdelinquenz“ bis auf wenige Ausnahmen, die aber keine systematische Bedeutung haben, nachweisbar umgesetzt werden konnte (Arbeitsstelle Jugendgewaltprävention 2015). Einschränkend ist allerdings anzumerken, dass die Operationalisierung des Konzepts auf der Maßnahmenebene mittlerweile partiell schon einen veralteten Stand abbildet. Manche befristet angelegte Maßnahmen wurden beispielsweise längst abgeschlossen und durch thematisch anders akzentuierte Vorhaben abgelöst. Eine tatsächliche aktuelle Steuerungs- und Orientierungsfunktion ist daher nicht mehr in allen Teilaspekten des Konzepts gegeben. Die Bewährung abgeschlossener und noch laufender Maßnahmen wird seitens der zuständigen Verwaltungen aber bis auf wenige Ausnahmen als gut bis sehr gut eingeschätzt, wobei ausgewählte Maßnahmen sogar als für die Berliner Infrastruktur unverzichtbar eingeschätzt werden. Trotz zu verzeichnender Fortschritte bezüglich der Generierung evaluativen Wissens, die sich zum Teil auch auf besonders markante Ausschnitte der Berliner Präventionslandschaft beziehen (Neuköllner Modell, Anti-Gewalt-Veranstaltungen der Polizei an Schulen), lassen sich aber auch fortbestehende Bedarfe ausmachen. Bewährungseinschätzungen sind daher nicht immer überprüfbar oder nach wissenschaftlichen Kriterien formuliert. Hier zeichnen sich mit anderen Worten Herausforderungen bezüglich der Weiterentwicklung der Evaluationskultur in Berlin ab, womit wissenschaftsbasierte Evaluationen, aber auch eine darüber hinausgehende Kultur der Qualitätsorientierung gemeint ist. Unter dem Titel „Entwicklung einer Evaluationsstruktur“ ist genau dieses Vorhaben im Berliner „Gesamtkonzept zur Reduzierung der Jugendgewaltdelinquenz“ bereits als eine Aufgabe der Arbeitsstelle Jugendgewaltprävention vorgesehen. Förderung der „Evaluationskultur“ in Berlin In Berlin wie auch bundesweit entspricht die Zahl der durchgeführten Evaluationen von gewaltpräventiven Projekten nicht der Zahl der umgesetzten Projekte. Dies zu ändern und die Wirksamkeit und Passgenauigkeit von in Berlin umgesetzten Maßnahmen und Projekten der Prävention von und Intervention bei Jugendgewalt zu überprüfen, ist eine zentrale Aufgabe der Arbeitsstelle Jugendgewaltprävention. Indem die jeweiligen Stärken und Defizite unterschiedlicher Ansätze sichtbar gemacht werden, können Informationen für die Planung und Steuerung zukünftiger Arbeit gewonnen werden. 318 uj 7 + 8 | 2015 Jugendgewaltprävention Das Evaluationskonzept der Arbeitsstelle Jugendgewaltprävention besteht aus drei Säulen: ➤ Auswertung vorhandener Evaluationen, ➤ Förderung und Unterstützung von Selbstevaluation, ➤ Durchführung und Beauftragung von externen Evaluationen ausgewählter gewaltpräventiver Projekte und Maßnahmen. Aus der Zusammenführung der Ergebnisse der drei Säulen können Empfehlungen für die Weiterentwicklung des „Gesamtkonzeptes zur Reduzierung von Jugendgewaltdelinquenz“ generiert und Impulse für die Entwicklung von Qualitätskriterien der praktischen Arbeit in den Handlungsfeldern generiert werden. Die drei Evaluationsformen haben eine unterschiedliche Reichweite und Aktualität: Vorhandene Evaluationen beziehen sich auf Projekte und Maßnahmen, die möglicherweise nicht mehr oder nun anders umgesetzt werden. Gleichwohl bieten sie einen Wissensschatz, den es zu bergen lohnt: Sie können erste Hinweise auf innovative Projektansätze geben, die besonders erfolgreich sind, und sie zeigen auf, wo regelmäßig Schwierigkeiten auftreten, so dass bei aktuellen Evaluationen das Augenmerk gezielt auf solche Problembereiche gerichtet werden kann. Mittels einer Evaluationssynthese wurde dieses Wissen aufbereitet und systematisiert. Um die Qualität der so gewonnenen Erkenntnisse sicherzustellen, wurde der Evaluationssynthese eine Metaevaluation vorangestellt (vgl. Glock 2014; Glock 2015). Im Ergebnis zeigt sich, dass über die Hälfte aller evaluierten Berliner Projekte in den Bereichen Integration und Migration, Kinder- und Jugendhilfe sowie im Handlungsfeld Schule angesiedelt ist. Mehrheitlich lassen sich die evaluierten Angebote im Bereich Training verorten. Sie umfassen ein weites Angebot, das von freiwilligen Trainings im Schulkontext bis zu verpflichtenden Trainings nach richterlicher Weisung reicht. Für ausgewählte Projekte wird eine externe Evaluation mit dem Ziel durchgeführt, zu überprüfen, inwieweit dieses Projekt seine Ziele in Bezug auf die Prävention von oder auch Intervention bei Jugendgewalt erreicht, welche Wirkungen es diesbezüglich entfalten kann und was hierfür förderlich oder hinderlich ist. Im Sinne einer formativen Evaluation sind externe Evaluationen so konzipiert, dass Erkenntnisse noch im Verlauf der Evaluation an die Projekte rückgespiegelt werden und zu einer Verbesserung der Projektpraxis beitragen können. Selbstevaluationen richten sich in erster Linie auf eine Verbesserung und Weiterentwicklung der Projektpraxis: Dabei entfalten sie insbesondere eine projektinterne Steuerungswirkung. Sie haben den großen Vorteil, dass sie flächendeckend eingesetzt werden können. Auch wenn es im Rahmen einer Selbstevaluation kaum möglich ist, eine Wirkungsanalyse durchzuführen, liefern sie doch wichtige - durchaus auch jenseits des Projektes nutzbare - Informationen zur Zielerreichung, zu Bedingungen der Zielerreichung und zu einer erfolgreichen Umsetzungspraxis von Projekten. Die Arbeitsstelle Jugendgewaltprävention hat ein Konzept zur Selbstevaluation entwickelt, das die Besonderheiten der unterschiedlichen Handlungsbereiche berücksichtigt und eine - in der Reihe Berliner Forum Gewaltprävention publizierte - Handreichung zur Selbstevaluation für gewaltpräventive Projekte (Karliczek/ Bergert 2014) sowie ein Fortbildungsangebot umfasst. Weiterhin berät sie Projektträger bei der Umsetzung einer Selbstevaluation. Dass in Berlin im Zeitraum Januar 2006 bis Juni 2014 insgesamt (nur) 36 Projekte in Bereich der Jugendgewaltprävention evaluiert worden sind (Glock 2014, 13), macht deutlich, dass hier ein Evaluationsdesiderat besteht und dass es vermehrter Anstöße und Anstrengungen bedarf, um eine Evaluationskultur zu befördern und ausbauen. Vor diesem Hintergrund ist insbesondere die zweite Säule des Evaluationskonzeptes der Arbeitsstelle Jugendgewaltpräven- 319 uj 7 + 8 | 2015 Jugendgewaltprävention tion von Bedeutung: Hier geht es darum, jedes Jahr ca. acht bis zehn Evaluationen von gewaltpräventiven Projekten in Berlin entweder selber durchzuführen oder bei wissenschaftlichen Instituten in Auftrag zu geben. Die Auswahl der Projekte für die externen Evaluationen berücksichtigt alle oben genannten Handlungsfelder und hier jeweils Projekte der Prävention und der Intervention. Modellprojekte bzw. berlinspezifische Projekte werden bevorzugt evaluiert, aber auch einzelne Angebote der Regelstrukturen. Ein besonderes Augenmerk liegt weiterhin auf der Betrachtung von Prozessen der Zusammenarbeit und Vernetzung; so wird sich beispielsweise eine Evaluation damit beschäftigen, wie die unterschiedlichen gewaltpräventiven Angebote innerhalb eines Sozialraumes miteinander kooperieren, eine andere mit der Frage des Zusammenspiels der verschiedenen Maßnahmen, die an einer Schule umgesetzt werden. Die Ergebnisse aus den unterschiedlichen Evaluationen werden im Rahmen einer Evaluationssynthese zusammengeführt, die versucht, Antworten zu geben auf die Fragen, welche gewaltpräventiven Angebote sich bewähren, wie und bei wem sie wirken und was förderliche bzw. hinderliche Faktoren sind. Es geht also darum, die unverbunden nebeneinander stehenden Erkenntnisse aus Einzelstudien miteinander zu verknüpfen. Denn durch die Kombination der Ergebnisse können allgemeingültigere Aussagen über die Erfolgsbedingungen und Wirkmechanismen von gewaltpräventiven Angeboten getroffen werden (Glock 2014, 8). Angesichts der aktuellen Diskurse um Evidenzbasierung von Evaluation und Wirksamkeitsstudien mit hochkomplexen Designs, z. B. mit Kontrollgruppen ist es der Arbeitsstelle Jugendgewaltprävention wichtig anzuerkennen, dass der Gegenstand Gewaltprävention mit „besonderen Schwierigkeiten“ für eine Evaluation verbunden ist (Holthusen/ Hoops 2011, 13ff ): Häufig lassen sich feststellbare Veränderungen nicht direkt auf eine bestimmte Intervention zurückführen. Zudem sind weite Bereiche der Gewaltprävention, insbesondere in der Kinder- und Jugendhilfe, stark geprägt von wenig formalisierten pädagogischen Settings, in denen es nur sehr schwer möglich ist, Kontrollgruppen für die Untersuchung zu finden. In anderen Arbeitsfeldern allerdings werden deutlich strukturiertere Programme und Projekte durchgeführt, so beispielsweise im Bereich der Schule: Viele der hier umgesetzten Programme sind stärker formalisiert sowie auf Wiederholbarkeit angelegt, Vergleichsgruppendesigns sind eher möglich. Insgesamt wird die Arbeitsstelle die umgesetzten Evaluationen im Rahmen der handlungsfeldbezogenen Qualitätszirkel auch in einen weitergehenden Dialogprozess mit der Fachpraxis einspeisen, um kontextgebundenes, implizites Wissen angemessen einzubinden, das neben den auf kontextunabhängige Generalisierbarkeit angelegten Designs der Evaluationsforschung eigenständige Beachtung verdient. Dies alles berücksichtigend, legt die Arbeitsstelle Jugendgewaltprävention bei ihren Ausschreibungen zur Evaluation der ausgewählten gewaltpräventiven Projekten als auch bei den vor ihr selbst durchgeführten Evaluationen großen Wert darauf, dass die - beabsichtigten und erreichten - Wirkungen der jeweiligen Ansätze untersucht werden und dass hierfür ein multimethodisches und multiperspektivisches Vorgehen gewählt wird. Auf dieser Basis sind dann unterschiedliche, eher qualitativ oder eher quantitativ orientierte Designs möglich. Resümee Die im Auftrag der Landeskommission Berlin gegen Gewalt tätige Arbeitsstelle Jugendgewaltprävention kann zwei Jahre nach ihrer Einrichtung bereits auf umfassende Aktivitäten im Bereich der Forschung, Beratung und Praxisentwicklung zu Jugendgewalt zurückblicken. Mit einem zur jährlichen Fortschreibung vorgesehenen Monitoring Jugendgewaltdelinquenz und einer landesweiten Schülerbefragung hat 320 uj 7 + 8 | 2015 Jugendgewaltprävention sie aktuelle Analysen zum Hell- und Dunkelfeld der Jugendgewalt in Berlin vorgelegt und Bestandsaufnahmen über die Angebote im Land - auch in Form einer Datenbank - erstellt. Sie hat zahlreiche Evaluationen von Präventionsprojekten in unterschiedlichen Handlungsfeldern initiiert und selbst umgesetzt, die einen informativen Querschnitt durch die Berliner Angebotslandschaft bilden und zur Weiterentwicklung der Evaluationskultur beitragen. Durch eine Fortbildungsreihe und die Einrichtung handlungsfeldbezogener Qualitätszirkel hat sie außerdem Impulse für den fachlichen Austausch der Präventionspraxis in der Stadt gesetzt. Mit Blick auf das als Grundlage der Gewaltprävention im Land fungierende „Gesamtkonzept zur Reduzierung der Jugendgewaltdelinquenz“ zeigt sich im Rahmen einer umfassenden Bestandsaufnahme der Arbeitsstelle Jugendgewaltprävention, in die die gewonnenen Erkenntnisse eingeflossen sind, dass die vorgenommenen Weichenstellungen in vielerlei Hinsicht weiterhin gute Orientierungen bieten. Vier Jahre nach Verabschiedung des Senatsbeschlusses zum „Gesamtkonzept zur Reduzierung der Jugendgewaltdelinquenz“ kristallisieren sich in der sich dynamisch verändernden Metropole Berlin aber auch neue Fragestellungen heraus. So zeichnen sich neben der erfreulichen, allgemein rückläufigen Entwicklung der Jugendgewalt in Berlin auch sozialräumliche Brennpunkte von Jugendgewalt ab, die in hohem Maße wiederum bestehende soziale Belastungen zum Ausdruck bringen. Neben den am Beispiel Berlin oftmals thematisierten Spannungslagen im Gefolge der Einwanderungsgeschichte der Stadt möchte die Arbeitsstelle Jugendgewaltprävention daher die Frage untersuchen, ob soziale Konfliktpotenziale, die sich in besonderem Maße in von Ausgrenzungsprozessen bedrohten, zum Teil an der städtischen Peripherie angesiedelten urbanen Großsiedlungen konzentrieren, im Rahmen der Prävention von Jugendgewalt stärkere Beachtung finden sollten. Dr. Albrecht Lüter Camino - Werkstatt für Fortbildung, Praxisbegleitung und Forschung im sozialen Bereich gGmbH Boppstraße 7 10967 Berlin albrechtlueter@camino-werkstatt.de www.jugendgewaltpraevention.de Kontakt bei der Landeskommission Berlin gegen Gewalt: Ute Vialet ute.vialet@seninnsport.berlin.de www.berlin.de/ lb/ lkbgg Literatur Arbeitsstelle Jugendgewaltprävention (2015): Jugendgewalt und Prävention in Berlin. Befunde, Konzepte, Perspektiven. (Zur Veröffentlichung vorgesehener Bericht) Bergert, M., Karliczek, K.-M., Lüter, A. (2015): Gewalterfahrung und Lebenslage. Eine Dunkelfelduntersuchung an Schulen in Berlin. Berliner Forum Gewaltprävention Nr. 54, Berlin (im Druck) Gesamtkonzept zur Reduzierung von Jugendgewaltdelinquenz. In: www.jugendgewaltpraevention.de, 17. 4. 2015 Glock, B. (2014): Projekte, Programme und Maßnahmen der Gewaltprävention in Berlin. Meta-Evaluation und Evaluationssynthese von Berliner Evaluationen (2006 bis 2004). In: www.jugendgewaltpraevention. de, 17. 4. 2015 Glock, B. (2015): Gewaltpräventive Angebote für Jugendliche - eine Meta-Evaluation und Evaluationssynthese. Unsere Jugend 67, 59 - 70 Holthusen, B., Hoops, S. (2011): Zwischen Mogelpackung und Erfolgsmodell. DJI Impulse Nr. 94, 12 - 14 Karliczek, K.-M., Bergert, M. (2014): Handreichung Selbstevaluation. Handlungsempfehlungen für Projekte im Bereich der Jugendgewaltprävention. Berliner Forum Gewaltprävention Nr. 51, Berlin Schroer-Hippel, M., Karliczek, K.-M. (2014): Berliner Monitoring Jugendgewaltdelinquenz. Erster Bericht 2014. Berliner Forum Gewaltprävention Nr. 53, Berlin
