eJournals unsere jugend 68/1

unsere jugend
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0342-5258
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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2016
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Die interkulturelle Öffnung der stationären Erziehungshilfe

11
2016
Lisa Hartig
Silvia Muntetschiniger
Die Zahl unbegleiteter minderjähriger Flüchtlinge (umF) steigt in Deutschland stetig an. Von Januar bis Juli 2015 wurden in Frankfurt beispielsweise insgesamt 1232 umF in Obhut genommen. Im gesamten Jahr 2014 waren es lediglich 987. Erfahrungen in der stationären Jugendhilfe zeigen, dass die Betreuung dieser Zielgruppe besondere Anforderungen an die Soziale Arbeit stellt.
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22 unsere jugend, 68. Jg., S. 22 - 29 (2016) DOI 10.2378/ uj2016.art04d © Ernst Reinhardt Verlag München Basel Die interkulturelle Öffnung der stationären Erziehungshilfe Ein Erfahrungsbericht über die Arbeit mit unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen in Frankfurt am Main Die Zahl unbegleiteter minderjähriger Flüchtlinge (umF) steigt in Deutschland stetig an. Von Januar bis Juli 2015 wurden in Frankfurt beispielsweise insgesamt 1232 umF in Obhut genommen. Im gesamten Jahr 2014 waren es lediglich 987. Erfahrungen in der stationären Jugendhilfe zeigen, dass die Betreuung dieser Zielgruppe besondere Anforderungen an die Soziale Arbeit stellt. von Lisa Hartig Jg. 1986; Erziehungswissenschaft (M. A.), Ethnologie (B. A.) an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz, Sozialpädagogin in einer Inobhutnahmeeinrichtung für umF in Frankfurt a. M. Ein wichtiges Handlungsfeld der Sozialen Arbeit ist die Unterstützung von Kindern und Jugendlichen bei gesellschaftlichen Herausforderungen, Problemlagen und Benachteiligungen. Hierbei spielt es zunächst keine Rolle, wer diese Kinder und Jugendlichen sind, denn nach § 1 SGB VIII hat „jeder junge Mensch […] ein Recht auf Förderung seiner Entwicklung und auf Erziehung zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit“. Angesichts der steigenden Anzahl von unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen werden in der Praxis der stationären Erziehungshilfe konzeptionelle Ansätze der Sozialen Arbeit auch auf die Arbeit mit umF übertragen. Die Angebote der stationären Jugendhilfe tragen mit dazu bei, dass umF - trotz ihrer schwierigen Lebenslage - Vertrauen und soziale Beziehungen aufbauen, eine eigene, von dem sozialen Umfeld akzeptierte Identität entwickeln und den Zugang zu Bildungsangeboten und Freizeitmöglichkeiten eröffnen können (Stauf 2012, 88f ). Als erschwerend erweist sich dabei, dass die umf zum Teil schwer traumatisiert sind und ihnen nicht selten ein Gefühl von Geborgenheit und Sicherheit sowie eine Zukunftsperspektive fehlt, um Selbstwirksamkeit zu erfahren und positiv in eine Zukunft in Deutschland zu sehen (ebd., 47). Silvia Muntetschiniger Jg. 1988; Mag. phil., Studium der Pädagogik, Afrikanischen Philologie und Ethnologie an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz, Sozialpädagogin in einer vollstationären Folgeeinrichtung für umF in Frankfurt a. M. 23 uj 1 | 2016 Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge Die Vermittlung von Vertrauen, Verlässlichkeit und Schutz wird in der Inobhutnahme von der Frage nach der richtigen„Dosierung“ bestimmt, denn es erscheint unseres Erachtens notwendig, den kurzen Betreuungszeitraum von drei bis neun Monaten stets zu berücksichtigen. Daraus resultiert der Balanceakt, einerseits ein Vertrauensverhältnis zu den Klienten aufzubauen und andererseits transparent zu machen, dass der Aufenthalt in der Inobhutnahme auf einen bestimmten, aber gleichzeitig unvorhersehbaren Zeitraum begrenzt ist. Aus unseren Erfahrungen in der stationären Jugendhilfe besteht eine zentrale Herausforderung in der Praxis der Sozialen Arbeit darin, den Spagat zwischen den auf Vertrauen und Verlässlichkeit setzenden Angeboten der Jugendhilfe und dem oft ungewissen Ausgang eines langwierigen Asylverfahrens auszuhalten. Im Folgenden möchten wir diese und weitere Herausforderungen anhand spezifischer Handlungsfelder aufzeigen und mögliche Lösungsansätze vorstellen. Die Vielfalt unbegleiteter minderjähriger Ausländerinnen und Ausländer In Abhängigkeit von den Fluchtgründen und Situationen im Herkunftsland können in der stationären Erziehungshilfe mindestens zwei Gruppen unbegleiteter minderjähriger Ausländerinnen und Ausländer unterschieden werden. Zur Gruppe der unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge (umF) gehören Kinder und Jugendliche, bei denen politische oder humanitäre Asylgründe vorliegen. Sie kommen überwiegend nicht aus der EU. Zur zweiten Gruppe zählen minderjährige unbegleitete Auswärtige (muA), welche ebenfalls in Inobhutnahmeeinrichtungen der Jugendhilfe untergebracht sind, bei denen jedoch im Gegensatz zu den umF keine politischen oder humanitären Asylgründe vorliegen. Die Gruppe der minderjährigen unbegleiteten Auswärtigen (muA) stellt dabei besondere Herausforderungen an die pädagogischen Fachkräfte der stationären Jugendhilfeeinrichtungen: Infolge ihrer zumeist schlechten Aussicht auf Asyl sehen einige muA dauerhaft wenig Zukunft in Deutschland und weisen daher auch Zugangsbarrieren zu den Angeboten der Jugendhilfe auf. Aufgrund der fehlenden Anerkennung und der Perspektivlosigkeit besteht eine nicht geringe Gefahr, dass sich ein Teil der Jugendlichen sozial abweichend verhält (z. B. Anschluss an „Subkulturen“, kriminelles Verhalten). Dabei besteht unseren Erfahrungen nach ein großes Ziel der minderjährigen unbegleiteten Auswärtigen darin, ein friedliches Leben in Deutschland zu führen, am gesellschaftlichen Leben teilzuhaben und sich in die Gesellschaft zu integrieren. Dieser Anspruch wird jedoch häufig aufgrund der geringen Chancen auf eine dauerhafte gesellschaftliche Teilhabe und Integration sowie der täglichen Konfrontation in der Unterkunft mit umF (welche eine bessere Aussicht auf Asyl in Deutschland haben) deutlich erschwert. Chancen der muA bestehen letztlich vor allem darin, über Integrationsleistungen ein Bleiberecht in Deutschland zu erhalten. Für die Erreichung dieses Ziels sind aus sozialpädagogischer Sicht Gespräche mit den Jugendlichen hilfreich, um sie a) bei alltäglichen Problemen und Sorgen zu beraten, b) in der Formulierung kleinschrittiger Lebensziele zu fördern, c) dabei zu unterstützen, ihren Weg zu gehen und sich nicht entmutigen zu lassen und ihnen d) das Gefühl zu geben, dass sie ebenso wie die umF in Deutschland willkommen sind und unterstützt werden. In den Gesprächen mit den muA geht es gleichzeitig auch darum, sich mit alternativen Lebensszenarien und einer möglichen Rückführung auseinanderzusetzen, kulturelle Werte aus dem Herkunftsland zu reflektieren sowie die Muttersprache zu pflegen. Die stationäre Erziehungshilfe hat insofern einen Doppelauftrag: 1. gesellschaftliche Teilhabe und Integration und 2. reflektierte Auseinandersetzung mit einer möglichen Rückführung. 24 uj 1 | 2016 Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge Akkulturation, Integration und Adoleszenz Erwartungen, die in den Herkunftsländern ihren Ausgangspunkt nahmen und an welche sich die Jugendlichen während der Flucht und in der Inobhutnahme klammerten, werden in die Folgeeinrichtung mitgebracht. Da der Aufenthalt der Jugendlichen in den Inobhutnahmen auf einige Monate begrenzt ist und sie jederzeit verlegt werden können, werden sie zumeist von den pädagogischen Fachkräften auf die Zeit danach vertröstet: Erst dann ist ein regulärer Schulbesuch möglich und lohnt sich der Beitritt in einen Verein - in Ausnahmefällen ist auch ein Schulbesuch in der Inobhutnahme möglich. Stellen sie fest, dass sie sich weiterhin auf Wartezeiten einrichten müssen und nicht alle Wünsche realisierbar sind, kann dies Unzufriedenheit, Ungeduld und Enttäuschung auslösen. Eine Erklärung kann sein, dass der auf der Flucht allgegenwärtig erlebte Mangel im Zufluchtsland noch nachwirkt. Pädagogische Fachkräfte sollten daher eine ehrliche Auseinandersetzung mit den Jugendlichen nicht scheuen, ihren Erwartungen mit Verständnis entgegentreten und sie bei der Dekonstruktion eines überzogenen Deutschlandbildes begleiten. Hilfreich ist es auch, die vermeintliche „Undankbarkeit“ mancher Jugendlicher zum Gegenstand einer Teamsitzung oder Supervision zu machen, um die Ursachen zu ergründen. Ein realistisches Deutschlandbild zu entwickeln, macht einen Bestandteil des Akkulturationsprozesses aus, den Zick als „Aneignung neuer kultureller Umwelten“ definiert (Zick 2010, 74). Soziale Integration als Strategie und Zielsetzung im Kontext der Akkulturation impliziert einen Balanceakt zwischen der Bewahrung von Merkmalen der Herkunftskultur, der Aufnahme neuer kultureller Eigenheiten und interkultureller Beziehungen. An diesem Punkt setzt unsere Arbeit an, denn zusätzlich zu den Herausforderungen an eine gelungene Integration sind die Jugendlichen mit Veränderungen im Zuge der Adoleszenz konfrontiert. Das heißt wir begleiten und unterstützen die jungen Menschen bei ihrer Identitätsarbeit: dem Aushandeln eines Gleichgewichts zwischen dem personalen und dem sozialen Selbst (Zenk 1999, 360). Konkret bedeutet dies, den Jugendlichen einen Rahmen zu ermöglichen, innerhalb dessen sie neue Rollen ausprobieren können und lernen, unterschiedliche - teils kulturell bedingte - Teilidentitäten zu vereinbaren. Auf der Flucht entwickelten die jungen Menschen Überlebensstrategien und übernahmen Rollen und Aufgaben, die im Aufnahmeland an Bedeutung verlieren und durch andere Rollen ersetzt und in neue Handlungskompetenzen transformiert werden müssen. Zu unseren weiteren Aufgaben gehört das Beobachten von Verhaltensweisen, denn erst auf den zweiten Blick werden Symptome von Traumata hinter der oft fröhlichen und selbstbewussten Selbstdarstellung der Jugendlichen erkennbar. Konflikte und Widersprüche im Reifungs- und Integrationsprozess sind unabdingbar (Schulte 2000, 36) - pädagogische Fachkräfte sollten diese daher auch austragen und nicht, aufgrund einer Überidentifikation mit den Jugendlichen, darauf verzichten (von Balluseck 2003, 169). Um ihnen ein Gefühl der Wertschätzung entgegenzubringen und mögliche Sprachbarrieren auszuräumen, kann dabei das Hinzuziehen eines Dolmetschenden hilfreich sein. Im Folgenden wird näher auf die Bedeutung der Gruppe der unbegleiteten minderjährigen Auswärtigen und deren Unterbringung in der stationären Erziehungshilfe im Hinblick auf Ernährung und Fastenzeiten, Feste und Feiertage, Sprache sowie Bildung eingegangen. Ernährung und Fastenzeiten Einen großen Stellenwert in der Sozialen Arbeit mit umF nimmt das Thema Essen ein, welches für reichlich Konfliktpotenzial und Dauergesprächsstoff sorgen kann. Insbesondere der 25 uj 1 | 2016 Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge Umgang mit den Fastengewohnheiten der Jugendlichen erfordert Fingerspitzengefühl und Rücksichtnahme. Während die Bräuche und die Bedeutung des Fastenmonats Ramadan den pädagogischen Fachkräften zumeist bekannt sind, bedarf es zusätzlich fundierter Kenntnisse der Fastenregeln anderer Glaubensgemeinschaften. Zunächst ist eine Befragung der betreffenden Jugendlichen ratsam: Wie lange und wie oft wird gefastet? Auf welche Lebensmittel wird verzichtet und was für eine Bedeutung kommt dem Fasten zu? Daneben gibt es weitere Möglichkeiten, beispielsweise einen Experten zum Gespräch einzuladen und einen Fastenkalender zu besorgen oder anzulegen. Das Hauptaugenmerk unserer Arbeit liegt auf der Gleichbehandlung der Jugendlichen, indem das Fasten ebenbürtig berücksichtigt und keine Religion übervorteilt beziehungsweise benachteiligt wird. Das Ende einer Fastenzeit sollte in einem angemessenen Rahmen gewürdigt werden. Dazu bietet es sich an, mit den Jugendlichen Essen zu gehen oder ein Fest zu feiern. Zudem gibt es in der Folgeeinrichtung, auf der dieser Erfahrungsbericht unter anderem basiert, sowohl an Weihnachten als auch am Ende des Ramadans für jeden ein kleines Geschenk. Die Zeit des Fastens ist für die Jugendlichen bedeutungsvoll und herausfordernd zugleich. Die langen Fastenzeiten kosten Kraft und können Gereiztheit hervorrufen. Aus diesem Grund gehören neben der Wertschätzung und der Unterstützung auch die Gelassenheit zur sozialpädagogischen Haltung. Ein Bestandteil des Akkulturationsprozesses ist das Vertrautwerden mit der hiesigen Küche. So listen Kennedy und Ward in ihrer Skala zur Messung von soziokultureller Kompetenz das Item „getting used to the local food/ finding food you enjoy“ auf (Kennedy/ Ward 1999, 663). Darauf fußt unsere Zielsetzung, einen Ausgleich zwischen dem Gewöhnen an die deutschen Essensgepflogenheiten und der Berücksichtigung von Essgewohnheiten der Herkunftsländer zu ermöglichen. Konträr zu ihrer Heimat erfahren die Jugendlichen, dass das Zubereiten von mehreren warmen Mahlzeiten am Tag in Jugendhilfeeinrichtungen als zeitaufwendig und untypisch aufgefasst wird. Ein Entgegenkommen kann darin bestehen, sie einerseits an das sogenannte „Abendbrot“ heranzuführen und ihnen andererseits genügend Freiräume für das Zubereiten ihrer Lieblingsspeisen zuzugestehen - und das nicht nur am Wochenende. Diese Mischform aus den Modellen der offenen und der geschlossenen Küche sehen wir als einen möglichen Lösungsweg an, um Konfliktpotenzialen vorzubeugen. Anstatt den Jugendlichen jeden Abend ein einheitliches Essen zur Verfügung zu stellen, lohnt es sich, ihnen mehr Verantwortung zu übertragen und sie unter Aufsicht selbst kochen zu lassen. Das Modell der offenen Küche ist dabei aufgrund der hohen Anzahl an Jugendlichen in Inobhutnahmen am Wochenende realistischer. Dies trägt dem übergeordneten Ziel von stationären Jugendhilfeeinrichtungen, der Verselbstständigung, Rechnung. Die Auseinandersetzung mit den kulinarischen Gewohnheiten aus der Heimat mit Einbezug von Jugendlichen aus anderen Herkunftsländern schafft zudem biografische Kontinuität. Der Austausch und die Weitergabe solcher Traditionen ist ein wichtiger Bestandteil der eigenen Kultur (Weiss 2001, 43ff ). Noch eine Anmerkung: Streitereien rund um das Essen können stellvertretend für ein tiefgründigeres Problem ausgetragen werden. In diesem Fall ist nicht die Mahlzeit der eigentliche Gegenstand der Kritik, sondern der Betroffene ist generell unzufrieden mit seiner Situation. Daher ist es unsere Aufgabe, Konflikte jeglicher Art zu hinterfragen und zusammen mit dem Jugendlichen herauszufinden, worauf die Missstimmung beruht. Feste und Feiertage Wichtige Momente im Jahr bilden religiöse Feste wie beispielsweise Weihnachten, Ostern, Ramadan und das Eritreisch-Orthodoxe Fasten (zom fassiga und zom lidet). Außerdem werden 26 uj 1 | 2016 Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge Geburtstage und Auszüge der Jugendlichen nach deren Wünschen und den strukturellen Vorgaben der Einrichtung gefeiert. Es ist dabei wichtig, dass die Jugendlichen nicht mit den für sie unbekannten Festen und deren Bedeutungen überfordert werden. Erfahrungsgemäß werden alle Feste von den Jugendlichen mitgetragen und die meisten von ihnen finden Gefallen daran. Wir empfehlen daher, den Jugendlichen bei der Gestaltung der Feierlichkeiten Verantwortung zu übertragen. Zudem fühlen sie sich ernst genommen, wenn sie aufmerksamen Zuhörern etwas über ihre Kultur, Religion und ihr Herkunftsland erzählen können. Ebenso interessieren sie sich für andere Kulturen und Religionen. Die Ausübung und Gestaltung von Festen ist jedoch an den Dienstplan, die Gegebenheiten in der Einrichtung sowie die Motivation des Fachpersonals und der Jugendlichen gebunden (Jordan 2000, 129f ). Unsere Aufgabe sollte es deswegen sein, Strukturen so gut zu organisieren, dass sie die Ausübung von Festen nicht oder nur wenig beeinträchtigen sowie die Jugendlichen in ihrer individuellen Religionsausübung, bei gleichzeitiger Toleranz gegenüber anderen Religionen und Wertevorstellungen, unterstützen. Sprache Eine besondere Aufgabe der Jugendhilfe ist es, den Minderjährigen Strategien an die Hand zu geben, mit denen sie trotz der „herrschenden Bedingungen die eigenen Vorstellungen durch- (…) setzen“ können (Theilmann 2005, 84). Hierzu ist es laut Theilmann notwendig, die Integration in die Gesellschaft zu fördern und den Jugendlichen das„Erlernen der deutschen Sprache, [einen] Schulabschluss, [und eine] berufliche Ausbildung“ (ebd., 88) zu ermöglichen und das deutsche Normen- und Wertesystem zu vermitteln. Nach Theilmann und unseren eigenen Erfahrungen ist der Spracherwerb ein Bereich, dem in der alltäglichen Arbeit mit umF eine Schlüsselfunktion zukommt. Besonders in den Inobhutnahmeeinrichtungen bestehen bei Ankunft der Jugendlichen erhebliche Sprachbarrieren, welche die Kreativität der pädagogischen Fachkräfte erfordert. Diese Verständnisschwierigkeiten erschweren die pädagogische Arbeit und den Beziehungsaufbau mit den Jugendlichen, jedoch sind sie mit der Hilfe von Dolmetschenden, Betreuenden und nonverbaler Kommunikation überwindbar. Allgemein wird der Sprache, zur Vermittlung von individuellen Bedürfnissen und Anforderungen aus der näheren Umgebung, eine funktionale Bedeutung zugeschrieben. Darüber hinaus ermöglicht Sprache den Zugang zu Bildungseinrichtungen und die Partizipation an der hiesigen Gesellschaft. Aus diesen Gründen sollten die Jugendlichen unmittelbar nach ihrer Ankunft in einer Inobhutnahmeeinrichtung einen Sprachkurs besuchen. Außerdem ist es notwendig, dass die Betreuer mit den Jugendlichen korrektes Deutsch sprechen und - spätestens in der Folgeeinrichtung - im alltäglichen Geschehen nur in Ausnahmefällen auf andere Sprachen ausweichen. Bezogen auf den Sprachgebrauch in einer multikulturellen Gruppenzusammensetzung ist positiv zu beobachten, dass die Jugendlichen nach einer gewissen Zeit Deutsch als Kommunikationssprache wählen. Die Ressource Multilingualität bzw. Multikulturalität eröffnet den Jugendlichen in der heutigen globalisierten Welt enorme Chancen, daher ist es laut Jordan (2000, 124) Aufgabe der Jugendhilfe, die Jugendlichen bei der Entwicklung einer bikulturellen und multilingualen Lebensrealität zu unterstützen. Diese trägt zur Erleichterung des transnationalen Alltags 27 uj 1 | 2016 Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge und zur Aufrechterhaltung einer biografischen Kontinuität durch den Erhalt der Muttersprache bei. Vernachlässigt der junge Mensch seine Erstsprache, verliert er einen Teil seiner kulturellen Identität und die Ankunft wird bei einer möglichen Rückkehr in das Ursprungsland durch den Sprachverlust erschwert (Fitzinger, 218ff ). Die Muttersprache der Jugendlichen wird in den Bildungssektoren kaum beachtet. Es besteht jedoch der Anspruch, dass durch den Sprachunterricht „die Kommunikationsfähigkeit in der deutschen Sprache hergestellt und in der Muttersprache erhalten werden [soll]“ (Jordan 2000, 123). Die Umsetzung von muttersprachlichen Konversationskursen scheitert meist an fehlendem Personal oder an einer zu geringen Teilnehmerzahl (Weiss et al. 2001, 111; Badawia 2002, 319f ). Ein ergänzendes Angebot kann hier der Kontakt zu Tandempartnern oder zu Mitgliedern von Religionsgemeinschaften und Kulturvereinen sein. Bildung In Frankfurt wird den minderjährigen Flüchtlingen, die in Folgeeinrichtungen untergebracht sind, in der Regel ein Schulbesuch in sogenannten Intensiv- und EIBE-Klassen ermöglicht. Dies erfolgt in sozialpädagogisch begleitenden Bildungsgängen zur Berufsvorbereitung mit dem Ziel, einen Schulabschluss zu erwerben. Erschwert wird der Zugang zu Bildungsangeboten für diejenigen, die während ihrer Einreise auf 17 Jahre geschätzt werden, aber zum Zeitpunkt ihrer Verlegung in eine Folgeeinrichtung bereits die Volljährigkeit erreicht haben. Um einen der heiß begehrten Schulplätze „ergattern“ zu können, müssen sie eine Prüfung, bei der Grundkenntnisse in Deutsch und in Mathematik abgefragt werden, bestehen. Die Prüfungsinhalte stellen unter anderem durch den fluchtbedingten Schulausfall eine Herausforderung dar. Zudem bringen die vielen Bewerber aus der Europäischen Union zumeist bessere Voraussetzungen mit. Die Nachteile der strukturellen Trennung von Erziehung und Bildung in pädagogischen Institutionen werden hierbei offenkundig: Während Fachkräfte in der Jugendhilfe pädagogische Ziele fokussieren, ist die Vermittlung von Bildungsinhalten Aufgabe der Lehrkräfte (von Balluseck 2003, 159ff ). Ebenso ist zu bemängeln, dass es keine zentralen Bildungsstandards gibt und erhebliche Unterschiede zwischen den Bildungsangeboten für umF in den einzelnen Bundesländern vorliegen. Können die jungen Menschen nun nicht beschult werden, müssen die Einrichtungen übergangsweise ein Unterstützungsangebot leisten, welches ihnen die Chance für einen späteren Schulbesuch ermöglicht. Ansonsten droht die Motivation und Integrationsbereitschaft der oftmals durchaus bildungsaffinen Jugendlichen durch das Fehlen einer Zukunftsperspektive abzunehmen. Die Frage lautet also: Wie können die Jugendlichen Unterstützung erfahren, wenn ihnen der Zugang zur Schule zunächst verwehrt bleibt? Elementar ist der fortführende Besuch eines Sprachkurses, denn neben der Verbesserung ihrer Deutschkenntnisse erfahren die Jugendlichen einen geregelten Tagesablauf. Unsicherheit und Ungewissheit, welche begleitende Gefühle während der Flucht und des Asylverfahrens sind, werden innerhalb dieses sozialen Rahmens durch Stabilität und Verbindlichkeit ersetzt (Treber 2009, 75). Daneben stellen wir Bildungsangebote in den Einrichtungen bereit, welche eine Hausaufgabenbetreuung und zusätzliche Deutschstunden umfassen. Darüber hinaus arbeiten wir eng mit den Stadtteilbibliotheken zusammen, deren Mitarbeiter Lesepatenschaften vermitteln, und wir greifen auf das Engagement von Studenten, pensionierten Lehrkräften und anderen freiwilligen Helfern zurück. Neben diesen Angeboten ist die sozialpädagogische Betreuung unerlässlich. Die Zeit des Wartens auf die Einschulung sollte als Ansporn gesehen und konstruktiv durch Lernen genutzt werden. Die 28 uj 1 | 2016 Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge Vereinbarung von Teillernzielen kann den Jugendlichen als Orientierung zur Bewältigung des Lernumfangs dienen. Ihnen muss auch verständlich gemacht werden, dass gute Fortschritte in Deutsch und Mathematik nicht nur eine Voraussetzung für das Bestehen der Prüfung sind, sondern auch einen schnelleren Schulabschluss ermöglichen. Die genannten Förderungsmaßnahmen liegen in der Reichweite unseres eigenen Handlungsspielraums. Doch sollte es dabei nicht bleiben: Wir verstehen unseren Auftrag darin, uns für bundeseinheitliche Standards einzusetzen und den Zugang zu Bildungseinrichtungen zu verbessern. So fordern wir vom Gesetzgeber die bundesweite EinführungeinerBerufsschulpflicht für Asylbewerber zwischen 16 und 21 Jahren. Ein Exempel statuierte diesbezüglich das Bundesland Bayern mit der Umsetzung der Berufsschulpflicht seit September 2013 (B-UMF). Schlussbemerkung Zusammenfassend betrachtet steht die stationäre Erziehungshilfe nach unseren Erfahrungen in der Arbeit mit unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen und Auswärtigen vor einigen pädagogischen Herausforderungen. Es geht in der stationären Erziehungshilfe zum einen um eine gesellschaftliche Teilhabe und Integration der minderjährigen unbegleiteten Flüchtlinge und Auswärtigen in Deutschland. Zum anderen geht es - zumindest bei den minderjährigen unbegleiteten Auswärtigen - auch um eine reflektierte Auseinandersetzung mit einer möglichen Rückführung, da diese wahrscheinlicher ist als bei den unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen (umF). In den stationären Einrichtungen ist ein tolerantes, friedliches und rücksichtsvolles Miteinander zwischen Betreuerinnen/ Betreuern und unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen und Auswärtigen pädagogisch wichtig, um die Jugendlichen in der Entwicklung und Erziehung zu einer „eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit“ (SGB VIII) zu unterstützen und die gesellschaftliche Teilhabe und Integration zu fördern. Daneben sollte unseres Erachtens der Bewahrung und Förderung der Individualität der Jugendlichen sowie einer beidseitigen kulturellen Annäherung eine hohe Bedeutung beigemessen werden. Normen und Werte sollten nicht diktiert, sondern sensibel vermittelt werden. Eine gewisse Orientierung und Sicherheit können in Deutschland durch verlässliche Strukturen, die Erläuterung von Rechten und Pflichten geboten werden. Durch soziale Beziehungen in einem sicheren Umfeld entsteht ein Schutzraum, innerhalb dessen sich die Jugendlichen von ihren Traumata erholen, sich entwickeln und neu orientieren können. Dafür brauchen sie konstante und verlässliche Bezugspersonen, die sie immer wieder bei der Entwicklung einer Perspektive und dem Verfolgen ihrer Ziele ermutigen. Mit der Gewährleistung von verlässlichen Strukturen und der Unterstützung der (stationären) Erziehungshilfe ist es unbegleiteten Flüchtlingen und Auswärtigen möglich, in der Ankunftsgesellschaft teilzuhaben und sich zu integrieren sowie zugleich die eigenen Werte, Normen und (Sprach-)Kompetenzen zu bewahren. Wir erkennen täglich in unserer Arbeit die Potenziale der unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge und wünschen uns, dass diese auch von der hiesigen Gesellschaft anerkannt und gefördert werden. Lisa Hartig (M. A.) Kolping Jugendwohnen Frankfurt gGmbH Lange Str. 26 60311 Frankfurt a. M. Lisa.Hartig@gmx.de Silvia Muntetschiniger (M. A.) Internationales Familienzentrum e.V. Geschäftsstelle Wiesenhüttenplatz 33 60329 Frankfurt a. M. Silvia_muntetschiniger@web.de 29 uj 1 | 2016 Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge Literatur Badawia, T. (2002): „Der dritte Stuhl“ - Eine qualitative Studie im Stil der Grounded Theory zum produktiven Umgang bildungserfolgreicher Immigrantenjugendlicher mit kultureller Differenz im Prozess der bikulturellen Identitätsbildung. IKO Verlag für interkulturelle Kommunikation. Frankfurt a. M. Fitzinger, O. (2006): Interkulturelle Erziehung und Bildung. In: Fried, L., Roux, S. (Hrsg.): Pädagogik der frühen Kindheit. Handbuch und Nachschlagewerk. Beltz, Weinheim, 216 - 223 Jordan, S. (2000): Fluchtkinder. Allein in Deutschland. Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge in der Bundesrepublik Deutschland - Eine explorative Studie ihrer pädagogischen Versorgung. Loeper Literaturverlag, Karlsruhe Kennedey, A., Ward, C. (1999): The measurement of sociocultural adaption. 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VS, Wiesbaden http: / / www.berta-jourdan.de/ index.php/ schulformen/ bildungsgaenge-zur-berufsvorbereitung-eibe., 10. 9. 2015 http: / / www.b-umf.de/ de/ themen/ bildung, 10. 9. 2015