unsere jugend
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0342-5258
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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2016
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Rezension: Britta Sievers / Severine Thomas / Maren Zeller, 2015: Jugendhilfe - und dann? Zur Gestaltung der Übergänge junger Erwachsener aus stationären Erziehungshilfen
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2016
Karsten Speck
Bislang hat sich die Jugendhilfeforschung in Deutschland wenig damit auseinandergesetzt, wie Jugendlichen der Übergang aus dem stationären Jugendhilfesystem in die Erwachsenenwelt gelingt. Ungeklärt ist: Was passiert, wenn Jugendliche aus dem System der Jugendhilfe entlassen werden (sollen) und sehr frühzeitig und ohne familiären Rückhalt selbstständig handeln müssen? [...]
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uj 1 | 2016 41 Rezensionen Britta Sievers / Severine Thomas / Maren Zeller, 2015: Jugendhilfe - und dann? Zur Gestaltung der Übergänge junger Erwachsener aus stationären Erziehungshilfen. IGfH: Frankfurt, 224 Seiten, € 19,90 Bislang hat sich die Jugendhilfeforschung in Deutschland wenig damit auseinandergesetzt, wie Jugendlichen der Übergang aus dem stationären Jugendhilfesystem in die Erwachsenenwelt gelingt. Ungeklärt ist: Was passiert, wenn Jugendliche aus dem System der Jugendhilfe entlassen werden (sollen) und sehr frühzeitig und ohne familiären Rückhalt selbstständig handeln müssen? Das vorliegende Buch beschäftigt sich angesichts dieser offenen Frage mit dem Übergang von jungen Menschen aus stationären Erziehungshilfen ins Erwachsenenleben und hebt die erheblichen Herausforderungen dieser Zielgruppe bei der erfolgreichen Lebensbewältigung hervor. Im Fokus des Buches stehen sogenannte Care Leaver. Das Buch, welches empirische Befunde präsentiert und zugleich Anregungen für die Praxis, die Ausbildung und Lehre geben soll, stützt sich auf ein Praxisforschungsprojekt zum Thema„Nach der stationären Erziehungshilfe - Care Leaver in Deutschland“, welches von der Internationalen Gesellschaft für erzieherische Hilfen (IGfH) und der Universität Hildesheim durchgeführt wurde. Im Rahmen des Praxisforschungsprojektes wurden unter anderem Recherchen in Deutschland und im Ausland, ExpertInneninterviews sowie ExpertInnenworkshops für den Ergebnistransfer durchgeführt. Zum Aufbau und Inhalt des Buches Das Buch umfasst insgesamt fünf Kapitel. Nach der Einleitung, die sich vor allem mit dem Praxisforschungsprojekt und dem Aufbau des Buches beschäftigt, wird im ersten Kapitel anhand vorliegender Studien und Befunde zunächst auf die Statuspassage Care Leaver und deren Ausgangssituation in Deutschland eingegangen. Die Autorinnen stellen in einem interessanten Überblick spezifische Herausforderungen für Care Leaver sowie Befunde von Erziehungshilfestudien zur Lebensbewältigung und Wirkung sowie von subjektorientierten und biografieanalytischen Studien vor. Sie kritisieren, dass beim Ende stationärer Erziehungshilfen kaum Anschlusshilfen folgen, und konstatieren, dass der Statuspassage Leaving Care in der Forschung und Praxis mehr Bedeutung beigemessen werden sollte. Das zweite Kapitel geht auf der Basis von empirischen Befunden aus dem Projekt auf übergreifende Perspektiven beim Übergang aus stationären Hilfen ins Erwachsenenalter ein (Selbstständigkeit, Bildung und Biografie, regionale Disparitäten und die Schnittstellen zu anderen Hilfesystemen), um - so die Autorinnen - „die Vielschichtigkeit, in der sich die institutionalisierte Begleitung ins Erwachsenenalter sowie die individuelle Ablösung aus dem System der Kinder- und Jugendhilfe vollzieht, kenntlich zu machen“ (S. 14). Das dritte Kapitel beschäftigt sich - nicht ganz trennscharf zum zweiten Kapitel - mit der Praxis der Übergangsbegleitung in Deutschland und greift dabei wieder auf Aussagen von befragten Expertinnen und Experten des Praxisforschungsprojektes zurück. Im Fokus der Darstellung stehen der Übergang in den eigenen Wohnraum, das Erwachsenwerden zwischen Kompetenztraining und Entwicklungsbegleitung, die Bedeutung sozialer Beziehungen im Übergang, der Übergang in Ausbildung und Arbeit sowie schließlich die Nachbetreuung und Ehemaligenarbeit. Bei den Ausführungen wird sich an den Beschreibungen der Befragten orientiert, die jeweils sehr anschaulich durch ausführliche Interviewzitate illustriert und durch Praxisbeispiele ergänzt werden. Das vierte Kapitel betrachtet die Übergangsbegleitung für Care 42 uj 1 | 2016 Rezensionen Leaver aus einer internationalen Perspektive. Präsentiert werden Studienergebnisse, Rechtsgrundlagen und vor allem Beispiele guter Übergangspraxis aus dem Ausland. Als Schlüsselfaktoren für einen gelingenden Übergang arbeiten die Autorinnen anhand der Fachliteratur 1. stabile, soziale Beziehungen und Wegbegleiterinnen/ Wegbegleiter, 2. eine stabile und zufriedenstellende Wohnsituation, 3. positive Bildungserfahrungen, 4. eine physische und psychische Gesundheit sowie 5. das Vorhandensein alltagspraktischer Kompetenzen heraus. Erfahrungen aus dem Ausland verweisen zudem auf erfolgreiche Ansätze bei der Übergangsbegleitung durch eine Verlängerung der Erziehungshilfe, eine nachgehende Betreuung sowie eine institutionenübergreifende Unterstützung während des Übergangs ins Erwachsenenalter. Die Übergangsbegleitung kann demnach an zwei Schnittstellen erfolgen: Zum einen in Form einer Vorbereitung während der stationären Hilfe und zum anderen als Begleitung und Nachsorge während des Übergangs (S. 175). Das Buch schließt im fünften Kapitel mit Empfehlungen für unterschiedliche Akteure zur gelingenden Übergangsbegleitung ab. Unter Berücksichtigung der Ergebnisse des Praxisforschungsprojektes, aber auch vorliegender Grundsatzpapiere wird unter anderem eine längere Unterstützung der Care Leaver in der Kinder- und Jugendhilfe, eine intensivere Kooperation und Koordination beim Übergang zwischen den Hilfesystemen, die Schaffung von niedrigschwelligen Beratungsangeboten, eine Förderung von Selbsthilfeaktivitäten bei den Care Leavern, eine anwaltschaftliche Vertretung ihrer Rechte sowie spezielle Beratungs-, Informations- und Unterstützungsangebote für ältere Jugendliche und junge Erwachsene in den Erziehungshilfen gefordert (S. 198f ). Zusammenfassung Das Buch vermittelt einen sehr guten Einblick in den aktuellen Forschungsstand, die Herausforderungen für Care Leaver beim Übergang aus stationären Erziehungshilfen ins Erwachsenenleben sowie erfolgversprechende nationale und internationale Lösungsansätze für die Übergangsbegleitung. Als gewinnbringend erweisen sich die Darstellung von empirischen Befunden, die Interviewzitate aus dem Praxisforschungsprojekt sowie die Praxisbeispiele aus dem In- und Ausland. Das Buch dürfte für Praktiker im Bereich der stationären Erziehungshilfe, aber auch für die Jugendpolitik und Fachwissenschaft aufgrund der Erkenntnisse zur Übergangsbegleitung in den Erziehungshilfen von hohem Interesse sein. Wünschenswert wären für Leserinnen und Leser allenfalls kurze Einleitungen und Zusammenfassungen am Anfang bzw. Ende der einzelnen Kapitel sowie eine systematischere Trennung von Forschungsstand, Selbsteinschätzungen der befragten Expertinnen und Experten sowie der Interpretation durch das Autorinnenteam. Dies schmälert jedoch nicht den positiven und erkenntnisreichen Gesamteindruck des Buches. Prof. Dr. Karsten Speck, Oldenburg karsten.speck@uni-oldenburg.de DOI 10.2378/ uj2016.art06d
