eJournals unsere jugend 68/2

unsere jugend
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0342-5258
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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2016
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Kinderarmut in einem Wohlfahrtsstaat wie Deutschland

21
2016
Maksim Huebenthal
Kinderarmut in einem Wohlfahrtsstaat wie Deutschland (be)greifen zu wollen, ist nicht nur mit ‚technischen Differenzen‘ in der Armutsmessung, sondern auch mit tiefergehenden ‚konzeptionellen Differenzen‘ verbunden. Die Armut von Kindern lässt sich als spannungsgeladenes Phänomen skizzieren, das in den vier Facetten Erziehungs-, Bildungs-, Geld- und Rechtearmut zutage tritt.
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50 unsere jugend, 68. Jg., S. 50 - 56 (2016) DOI 10.2378/ uj2016.art09d © Ernst Reinhardt Verlag München Basel Kinderarmut in einem Wohlfahrtsstaat wie Deutschland Was ist das eigentlich? Kinderarmut in einem Wohlfahrtsstaat wie Deutschland (be)greifen zu wollen, ist nicht nur mit ‚technischen Differenzen‘ in der Armutsmessung, sondern auch mit tiefergehenden ‚konzeptionellen Differenzen‘ verbunden. Die Armut von Kindern lässt sich als spannungsgeladenes Phänomen skizzieren, das in den vier Facetten Erziehungs-, Bildungs-, Geld- und Rechtearmut zutage tritt. von Dr. Maksim Huebenthal Jg. 1980; Diplom-Pädagoge, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Sozialpädagogik und Sozialpolitik der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, z. Zt. Vertretung der Professur für Erziehungswissenschaft mit dem Schwerpunkt Kindheitsforschung an der Bergischen Universität Wuppertal Einleitung Der vorliegende Beitrag basiert auf der Annahme, dass es verfehlt wäre, hinter der landläufigen Moralisierung und Skandalisierung von Kinderarmut einen einheitlichen Diskurs anzunehmen, in welchem sich die darin eingebundenen Akteure darüber einig wären, was u. a. Ursache und Problem von Kinderarmut sei und wie es angemessen darauf zu reagieren gälte. Um diese Annahme zu untermauern und zugleich einen Einblick in die Kinderarmutsdebatte zu geben, werden nachfolgend zunächst zentrale Ansätze zur quantitativen Vermessung der Armut von Kindern dargestellt. Um über die dortigen ‚technischen Differenzen‘ hinauszugehen, werden danach die ‚konzeptionellen Differenzen‘ des Kinderarmutsphänomens vorgestellt, und im Schlussteil wird die dahinterliegende Spannung zwischen Assimilation und Emanzipation nachgezeichnet. Kinderarmut messen - aber wie? Kinderarmut lässt sich in einem Wohlfahrtsstaat auf dreierlei Art quantitativ vermessen: 1. Im Sinne der relativen Einkommensarmut gelten derzeit Kinder als arm bzw. zumindest von einem Armutsrisiko betroffen, die in einem Haushalt leben, dessen nettoäquivalenzgewichtetes Einkommen unter 60 % des Durchschnitts liegt (ausführlicher: Huebenthal 2009, 9ff ). Öffentliche Aufmerksamkeit erhielt diese Form der (Kinder-)Armutsmessung im Zuge des ‚Dritten Armuts- und Reichtumsberichts‘ der Bundesregierung, da hier unter Verwendung gleicher Armutsmaße zwei unterschiedliche Kinderarmutsraten für das gleiche Bezugsjahr (2005) publiziert wurden: Daten des 51 uj 2 | 2016 Was ist Kinderarmut im Wohlfahrtsstaat Deutschland? Sozioökonomischen Panels (SOEP) mit 26 % und Daten der European Union Statistics on Income and Living Conditions (EU-SILC) mit 12 % (BMAS 2008, 305f ). Das Vertrauen in die Gültigkeit derartiger empirischer Befunde wurde circa drei Jahre später erneut auf die Probe gestellt, als es zur (vermeintlichen) „Statistikpanne beim DIW“ (Spiegel online 2011) kam. Dabei wurde die vom ‚Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung‘ (DIW) für 2009 ausgegebene Kinderarmutsrate von moderaten 16,4 % durch Analysen der OECD unter Druck gesetzt, da diese mit den gleichen SOEP-Daten eine Kinderarmutsrate von lediglich 8,3 % errechnete (OECD 2011, 41). Auch wenn im aktuellen ‚Vierten Armuts- und Reichtumsbericht‘ SOEP- und EU-SILC-Daten mit circa 16 % eine ähnliche Kinderarmutsrate für 2010 ausgeben (BMAS 2013, 461f ), heißt dies keinesfalls, dass es keine grundlegende Kritik am Ansatz der relativen Einkommensarmut mehr gäbe. So wird zum einen zu Bedenken gegeben, dass Kinderarmut im Sinne einer relativen Einkommensarmut in einem armen Land etwas anderes ist als in einem reichen. Zum anderen wird darauf verwiesen, dass Kinder in dieser Logik nicht als arm gelten, sobald das familiäre Einkommen oberhalb der Armutsgrenze liegt: unabhängig davon, ob ihre Lebensqualität durch Probleme wie elterliche Suchterkrankungen o. Ä. beeinträchtigt ist (UNICEF 2007, 7 und 2012, 11). 2. Methodisch weniger komplex, aber keinesfalls weniger kontrovers fällt der Ansatz aus, Kinderarmut als Grundsicherungsabhängigkeit zu definieren. Hier gibt die Bundesagentur für Arbeit eine SGB-II-Hilfequote von 15,7 % bei den unter 15-Jährigen aus (Bezugszeitpunkt, April 2015), was eine im Vergleich zur Gesamtheit der SGB-II-Empfänger beinahe doppelt so hohe Armutsbetroffenheit bedeutet (BfA 2015, 09/ 71). Neben der Dunkelzifferproblematik, die Irene Becker bei Kindern auf circa 1 Million schätzt (2007, 36f ), wird vor allem moniert, dass mit dem Grundsicherungsbezug eine wohlfahrtsstaatlich bekämpfte Form der Armut vorliegt bzw. eigentlich vorliegen müsste. Kritisch angemerkt wird zudem das hohe Risiko, das die politische Definitionshoheit dieses Armutsansatzes in sich trägt, indem durch eine Verengung des SGB-II-Adressatenkreises eine rein rechnerische Absenkung der (Kinder-)Armutsrate vorgenommen wird. 3. Kinderarmut als mehrdimensionale Kindheitsbeeinträchtigung zu operationalisieren, wird im deutschen Kinderarmutsdiskurs vor allem mit der sogenannten AWO-ISS-Kinderarmutsstudie in Verbindung gebracht. Hier werden seit 1997 längsschnittartig die Lebenslagen von Kindern in Familien mit relativer Einkommensarmut mit denen von nicht-einkommensarmen Kindern verglichen (vgl. Holz 2006). Auf der international vergleichenden Ebene manifestiert sich der mehrdimensional-kindheitsbezogene Zugang zu Kinderarmut gegenwärtig u. a. in der Verwendung eines Deprivationsindexes. So gilt laut UNICEF ein Kind als arm bzw. depriviert, wenn es ihm an mindestens zwei von insgesamt 14 Items mangelt, weil die Eltern sich diese nicht leisten können. Zu diesen Items zählen u. a. der Besitz von zwei Paar passenden Schuhen, Zugang zum Internet sowie die Möglichkeit, Geburtstag feiern zu können. Empirisch betrachtet liegt Deutschland mit Platz 15 im Mittelfeld der erfassten 27 Länder (UNICEF 2012, 2). Kritik an dieser Form der Kinderarmutsmessung findet sich u. a. als Eigenreflexion in der UNICEF-Report-Card selbst. Die dort herausgestellten Zweifel lassen sich zu folgender Doppelfrage verdichten: Warum sind es gerade die verwendeten und nicht andere Items und warum ist die Grenze, die arme bzw. deprivierte von nicht-armen bzw. nichtdeprivierten Kindern trennt, ausgerechnet bei zwei Items zu ziehen (UNICEF 2012, 11ff )? Ähnlich gelagerte Fragen nach der Auswahllogik der in den Blick genommenen Lebenslagedimensionen bzw. den dahinterliegenden Normativismen lassen sich vom Grunde her an alle mehrdimensionalen Kinderarmutszugänge herantragen. 52 uj 2 | 2016 Was ist Kinderarmut im Wohlfahrtsstaat Deutschland? Kinderarmut - ein Phänomen zwischen Erziehungs-, Bildungs-, Geld- und Rechtearmut Hinter den unterschiedlichen Messansätzen und den damit verbundenen ‚technischen Differenzen‘ zeichnen sich auch ‚konzeptionelle Differenzen‘ ab. Diese werden nachfolgend anhand der Kurzskizzierung einer vom Autor durchgeführten empirischen Analyse des gegenwärtigen politischen Feldes der Bundesrepublik in den vier Facetten Erziehungs-, Bildungs-, Geld- und Rechtearmut entfaltet (Huebenthal im Druck). a) Kinderarmut als Erziehungsarmut Diesem Kinderarmutsverständnis zufolge entsteht Kinderarmut einzig aufgrund des Individualversagens der Angehörigen einer moralisch „verkommenen“ Unterschicht. Im Zuge des ihnen attestierten Mangels an bürgerlichen Tugenden wie Verantwortungsbewusstsein, Zuverlässigkeit, Fleiß, Hingabe etc. gelten sie als missachtete Normabweichler. Ihnen wird vorgeworfen, als Folge ihrer Tugendlosigkeit zum einen ihre ökonomische Wohlfahrt trotz Erwerbsfähigkeit durch wohlfahrtsstaatliche Grundsicherungsleistungen anstelle einer Arbeitstätigkeit zu produzieren und zum anderen als Eltern der Erziehungspflicht gegenüber ihren Kindern nicht genügend nachzukommen. Kinderarmut gilt hier also als familiäres Verwahrlosungsproblem unter den SGB-II-Empfängern, das sich bspw. in unzureichend mit Pausenbrot ausgestatteten und hungrigen bzw. hygienisch ungenügend versorgten Kindern zeigt, die im Extremfall schweren Kindeswohlbeeinträchtigungen unterliegen. Diese familiäre ‚Verwahrlosung‘ wird nicht nur als Abweichung von der moralischen und ökonomischen Ordnung der Gegenwartsgesellschaft verstanden, sondern auch als Bedrohung der zukünftigen Gesellschaft mit ihrem Bedarf an Bürgern, die potenziell willig und in der Lage sind, Verantwortung für sich und andere zu übernehmen. Als Strategie zur Bekämpfung dieser Problemlage wird für eine Doppelstrategie bestehend aus Arbeit und Erziehung votiert. Im arbeitsbezogenen Teil geht es darum, stärker auf eine angebotsorientierte Wirtschaftspolitik zum Erhalt und Ausbau von Arbeitsplätzen zu setzen und zugleich durch eine Verschlechterung der Lebensbedingungen der SGB-II-Grundsicherungsempfänger den Druck auf diese Gruppe zum Überwinden der wohlfahrtsstaatlichen Abhängigkeit zu erhöhen. Im erziehungsbezogenen Teil ist primär eine ‚Sozialpädagogisierung‘ der Kinderinstitutionen wie Kindergarten und Schule zur stärkeren außerfamiliären Werte- und Normenvermittlung sowie eine Expansion früher, präventiver und kontrollierender Kinderschutzmaßnahmen angedacht. Die Kinderarmutsbekämpfung folgt dem Gesamtziel, die als „tugendlos“ wahrgenommene Unterschicht langfristig zur als tugendhaft eingestuften Mittelschicht zu transformieren und somit die Bundesrepublik als ‚mittelschichtzentrierte Arbeitsgesellschaft‘ zu festigen. b) Kinderarmut als Bildungsarmut Folgt man dieser Sinngebung, findet sich die Ursache für Kinderarmut in der Kombination einer wohlfahrtsstaatlichen und elterlichen Defizitlage. Das wohlfahrtsstaatliche Defizit umfasst demnach zwei Probleme: Erstens fällt die Qualität der öffentlichen Bildung im Allgemeinen zu niedrig aus und die spezifisch herkunftsbedingten Bedürfnisse von Kindern sozioökonomisch benachteiligter Eltern werden unzureichend berücksichtigt. Zweitens ist die ökonomische Umverteilung von Marktgewinnern zu Marktverlierern zu gering ausgeprägt, was u. a. zur Folge hat, dass sich die Eltern der zweitgenannten Gruppe schlechter von den Bildungssystemdefiziten freikaufen können als die erstgenannte Elterngruppe (bspw. durch private Nachhilfe oder Privatschulen). Zusätzlich zu diesem Problem haben die Bildungsfernen innerhalb dieser Elterngruppe - dieser Kinderarmutskonstruktion zufolge - das Defizit, über vergleichsweise geringere Fähigkeiten 53 uj 2 | 2016 Was ist Kinderarmut im Wohlfahrtsstaat Deutschland? und streckenweise auch eine geringere Motivation als sozioökonomisch höher gestellte Eltern zu verfügen, wenn es darum geht, die Bildung ihrer Kinder zu befördern. Aus diesem wohlfahrtsstaatlich-elterlichen Doppel-Defizit resultiert das Kinderarmutsproblem, dass die Kinder der‚bildungsfernen Marktverlierereltern‘ vergleichsweise geringere Chancen auf formale Bildungserfolge und damit gut bezahlte Positionen am Arbeitsmarkt haben. Als Problemkern gilt auf der individuellen Ebene, dass somit Lebenschancen des späteren Erwachsenen (nicht die des gegenwärtigen Kindes! ) übergebührend von der Zufälligkeit der Geburt und zu wenig von der eigenen Leistung abhängen. Auf der letztlich dominierenden gesellschaftlichen Bezugsebene wird die verpasste Chance moniert, potenziell verfügbares Humankapital best-möglich in allen Gesellschaftsschichten abzuschöpfen, wobei die Problematisierung auf dieser Ebene bis hin zur Angst vor generellen Verweigerungshaltungen sich zunehmend als chancenlos erachtender junger Menschen reicht. Als adäquate Gegenstrategie auf das so wahrgenommene Kinderarmutsproblem wird eine massive Ausweitung der öffentlichen Bildungsbemühungen unter dem Vorzeichen der Arbeitsfähigkeitsschaffung erachtet, welche notfalls auch durch einen Rückbau monetärer Unterstützungsleistungen finanziert werden soll. Allen voran geht es darum, den frühkindlichen Bereich durch stärker als Bildungsstätten ausgerichtete Kindertageseinrichtungen umzubauen sowie mehr Ganztagsschulangebote zu installieren. Das Ziel der hier verfolgten Bemühungen zur Kinderarmutsbekämpfung liegt neben der allgemeinen Steigerung der Bildungsqualität in der Schaffung stärker herkunftsunabhängiger Bildungs- und damit‚fairerer‘ Arbeitsmarktchancen. Diese individuumsbezogene Zielsetzung ordnet sich letztlich dem gesellschaftsbezogenproduktivistischen Gesamtziel unter, die Konkurrenzfähigkeit des Marktes durch effektiver abgeschöpftes Humankapital potenziell fähiger, zukünftiger Arbeitsbürger aufrechtzuerhalten (für die Figur der ‚citizen-worker of the future‘ siehe: Lister 2003). c) Kinderarmut als Geldarmut Kinderarmut als Geldarmut zu begreifen, bedeutet, dieses Problem im Diskurs der klassischumverteilungsorientierten politischen Linken zu positionieren. Diesem Kinderarmutsverständnis nach resultiert die Armut von Kindern aus dem fatalen Zusammenwirken zweier potenziell auch antagonistisch auftretender Institutionen: Kapitalismus und Wohlfahrtsstaat. Die Ursache des Kinderarmutsproblems wird darin gesehen, dass sich der deutsche Wohlfahrtsstaat unter dem Einfluss des Neoliberalismus als „bester Freund“ eines entmenschlichenden, demokratiezerstörenden und profitmaximierenden Kapitalismus geriert. Der deutsche Wohlfahrtsstaat trägt - dieser Konstruktion zu Folge - zur kapitalistischen Dichotomie von Geldreichen und Geldarmen bei, indem er bspw. einkommensreiche Familien durch den höher als das Kindergeld ausfallenden Kinderfreibetrag finanziell stärker unterstützt als einkommensarme Familien bzw. auch, indem das Subsidiaritätsprinzip in der Grundsicherung konsequent hochgehalten, in der Förderung teils noch solventer Großunternehmen streckenweise jedoch ungeprüft ausgeblendet wird. Im Zuge der ‚unheiligen Allianz‘ von Wohlfahrtsstaat und Kapitalismus liegt nicht lediglich eine gesellschaftliche Spaltung in Geldarme und -reiche vor. Vielmehr wird hier als Folge der Kapitalakkumulation als Merkmal kapitalistischer Gesellschaften einerseits und dem sukzessive voranschreitenden Abbau der sozialen Rechte und Leistungen für die geldarme Bevölkerung andererseits das Problem der ökonomischen Ungleichheit als ein vom Grunde her wachsendes Phänomen in der Bundesrepublik eingestuft. Folgt man der vorliegenden Konstruktion, zeigt sich dieses Problem auf der strukturellen Ebene u. a. in einer zunehmenden Spaltung der Löhne und einer vor allem im Zuge der Agenda 2010 vorgenommenen Entwertung der Grundsicherung. Auf der individuellen Ebene wird eine Manifestation der wachsenden ökonomischen Ungleichheit im sukzessiven Auseinandergehen der Schere zwischen Geldreichen und Geld- 54 uj 2 | 2016 Was ist Kinderarmut im Wohlfahrtsstaat Deutschland? armen hinsichtlich des ihnen zur Verfügung stehenden Einkommens und Vermögens gesehen. In diesem Problemverständnis wird die Einkommens- und Vermögensarmut von Familien mit Kindern als eine unter zahlreichen Ausprägungen eines generellen Armutsproblems bzw. Problems extremer ökonomischer Ungleichheit und zugleich als Phänomen der Kinderarmut gesehen. Als Strategie zum Abbau der (Kinder-)Armut wird für eine Verringerung der Einkommens- und Vermögensarmut qua Wohlfahrtsstaatsmaximierung plädiert, deren familienbezogener Teil vor allem in den Bereichen der Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik angesiedelt ist. Bezüglich der Arbeitsmarktpolitik wird u. a. die Einführung von Mindestlöhnen gefordert, die es auch klassischen Zwei-Kind-Familien ermöglicht, an Konsumnormalitäten teilzuhaben. Für die Sozialpolitik wird die Einführung eines bedingungslosen Grundeinkommens gefordert. Das Gesamtziel dieser Strategie liegt in der Schaffung einer ökonomisch gleicheren Gesellschaft, in der die Spitzen des individuellen Einkommens und Vermögens nicht mehr so deutlich vom Bevölkerungsdurchschnitt abweichen. Die damit einhergehend angestrebte Verbesserung der gesellschaftlichen Teilhabemöglichkeiten ist allerdings ohne explizite Bezüge zu den spezifischen Bedarfen und Problemlagen der in den einkommens- und vermögensarmen Familien lebenden Kinder angelegt. d) Kinderarmut als Rechtearmut In der Logik dieser Konstruktion liegt die Wurzel der Kinderarmutsproblematik in der Fehlannahme der jeweils herrschenden Politik und des sie rahmenden politisch-parlamentarischen Mainstreams, wonach der deutsche Wohlfahrtsstaat kinderfreundlich angelegt sei und die Rechte von Kindern achte. Aus der Perspektive der hier zu beschreibenden Konstruktion ist das genaue Gegenteil der Fall: Obwohl Deutschland 1992 die UN-Konvention über die Rechte des Kindes (UN-KRK) ratifiziert und sich folglich völkerrechtlich verbindlich verpflichtet hat, die Kindern in dieser Konvention zugesicherten Versorgungs-, Schutz- und Teilhaberechte zu gewährleisten, werden nach wie vor grundlegende Bedürfnisse von Kindern sowie der Geist der UN-KRK im wohlfahrtsstaatlichen Denken und Handeln missachtet. Im Zuge dessen sind diejenigen Kinder, deren Eltern (bzw. näheres Umfeld im weiteren Sinne) diese wohlfahrtsstaatliche Marginalisierung nicht privat kompensieren können, von der Teilhabe an einer ‚normalen‘ Kindheit in Deutschland ausgeschlossen. Dieser Ausschluss bzw. der damit verbundene maßgebliche Mangel an kindlichen Teilhabeoptionen wird hier als Kinderarmut verstanden. Die Armut eines Kindes kann folglich - im Gegensatz zu den drei vorangegangenen Konstruktionen - auch in ökonomisch reichen Familien auftreten: vorausgesetzt es liegt eine signifikante Begrenzung der Teilhabeoptionen des Kindes in einem der von der UN-KRK-Logik abgedeckten Lebensbereiche vor. Zur Charakterisierung dieses Kinderarmutszugangs ist es notwendig, zwei weitere Aspekte anzuführen, die jenseits vom hier attestierten Kinderarmutsproblem liegen: Erstens wird in dieser Konstruktion nicht nur der Mangel an kindlichen Teilhabeoptionen problematisiert, sondern darüber hinaus auch der gegenwärtige Stand einer ‚normalen‘ Kindheit in Deutschland, da diese Normalität als noch zu weit entfernt vom Ideal der UN-KRK erachtet wird. Zweitens geht diese Konstruktion von der Annahme aus, dass generational betrachtet Kinder im Vergleich zu Erwachsenen als solches als arm zu verstehen sind, da sie vor signifikant mehr Strukturbeeinträchtigungen stehen, wenn es darum geht, über die ökonomischen, politischen, kulturellen etc. Ressourcen mitzubestimmen. Als Strategie, um Kinderarmut zu bekämpfen und zugleich die Kindheitsnormalität in Deutschland in eine ‚gute‘ Kindheit im Sinne der UN- KRK zu überführen, wird für eine querschnittartig anzulegende„Großreform“ des deutschen Wohlfahrtsstaates plädiert. Diese soll u. a. die Verankerung von Kinderrechten im Grund- 55 uj 2 | 2016 Was ist Kinderarmut im Wohlfahrtsstaat Deutschland? gesetz, die Einführung einer Kindergrundsicherung, die Etablierung eines stärker inklusiven Umgangs mit Kindern mit Behinderungen sowie Flüchtlingskindern, einen Ausbau partizipativer Strukturen für Kinder sowie eine kritische Zurückhaltung gegenüber einseitig kontrollierend-strafenden Kinderschutzbemühungen umfassen. Als Gesamtziel wird anvisiert, von einer als bisher adultistisch-nationalbezogen geprägt wahrgenommenen Wohlfahrtsstaatslogik zu einer wohlfahrtsstaatlich ermöglichten, kindgerechten Gesellschaft zu kommen, in welcher Teilhabeungleichheiten zwischen Kindern und Erwachsenen sowie innerhalb der Gruppe der Kinder passé sind. Schluss: Assimilation oder Emanzipation? So unterschiedlich die vier Kinderarmutskonstruktionen ausfallen, geht es ihnen allen um eine Transformation der wohlfahrtsstaatlichen Regulierung sozial verletzter Kindheiten. Unterschiede bestehen bei der spannungsgeladenen Differenz eines assimilationsvs. eines emanzipationsverankerten Zugangs zu Kinderarmut. So zielen die Erziehungsarmutskonstruktion und die Bildungsarmutskonstruktion auf eine Einpassung des in die Kinderarmutsproblematik involvierten Individuums in vergleichsweise nur mäßig zu reformierende wohlfahrtsstaatliche bzw. gesamtgesellschaftliche Strukturen (Assimilationszugang). Das von Armut betroffene Kind und deren Eltern sollen im Zuge funktionalerer Erziehungs- und Bildungsprozesse effektiver in die in ihren Grundfesten nicht zu hinterfragende Grundordnung der bundesrepublikanischen Gesellschaft assimiliert werden. Demgegenüber sind die Geldarmutskonstruktion und die Rechtearmutskonstruktion auf die Befreiung des in die Kinderarmutsproblematik verwobenen Individuums aus maßgeblich umzubauenden wohlfahrtsstaatlichen sowie gesamtgesellschaftlichen Unterdrückungsstrukturen ausgerichtet (Emanzipationszugang). Diese Emanzipation soll der von Armut betroffenen Familie vor allem durch die Überwindung monetärer Problemlagen bzw. gezielt dem Kind durch eine stärkere Verwirklichung seiner völkerrechtlichen Anspruchsrechte mehr gesellschaftliche Teilhabemöglichkeiten in einer ökonomisch nivellierten bzw. generational neu geordneten deutschen Gesellschaft einräumen. Resümierend stehen - aus der hier entfalteten Perspektive - die Sozialpolitik und die sozialpädagogische Praxis im Bereich der Kinderarmutsregulierung vor der Frage, inwiefern es ihnen um die Veränderung des Individuums zum Wohle der Gesamtgesellschaft oder die Veränderung der Gesellschaftsstruktur zum Wohle des Einzelnen geht. Dr. Maksim Huebenthal Vertretung der Professur für Erziehungswissenschaft mit dem Schwerpunkt Kindheitsforschung Bergische Universität Wuppertal, Fakultät für Human- und Sozialwissenschaften Gaußstraße 20, 42119 Wuppertal huebenthal@uni-wuppertal.de Literatur Becker, I. (2007): Armut in Deutschland. Bevölkerungsgruppen unterhalb der ALG II Grenze in Deutschland. SOEP Papers on Multidisciplinary Panel Data Research. DIW, Berlin Bundesagentur für Arbeit (BfA) (2015): Amtliche Nachrichten der Bundesagentur für Arbeit. Nummer 09/ 2015. 63. Jahrgang. Nürnberg Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) (Hrsg.) (2013): Lebenslagen in Deutschland. Der 4. Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung. Berlin Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) (Hrsg.) (2008): Lebenslagen in Deutschland. Der 3. Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung. Berlin 56 uj 2 | 2016 Was ist Kinderarmut im Wohlfahrtsstaat Deutschland? Holz, G. (2006): Lebenslagen und Chancen von Kindern in Deutschland. Aus Politik und Zeitgeschichte (APuZ) 26, 3 - 11 Huebenthal, M. (im Druck): Soziale Konstruktionen von Kinderarmut. Sinngebungen zwischen Erziehung, Bildung, Geld und Rechten. Beltz/ Juventa, Weinheim Huebenthal, M. (2009): Kinderarmut in Deutschland. Empirische Befunde, kinderpolitische Akteure und gesellschaftspolitische Handlungsstrategien. Expertise im Auftrag des Deutschen Jugendinstituts. München Lister, R. (2003): Investing in the Citizen-workers of the Future. Transformations in Citizenship and the State under New Labour. Social Policy and Administration 37, 427 - 443, http: / / dx.doi.org/ 10.1111/ 1467-9515.00350 OECD (2011): Doing Better for Families. Paris Spiegel online (2011): Statistikpanne beim DIW: Forscher patzen bei Berechnung der Kinderarmut. 6. 5. 2011. Verfasst von böl. In: www.spiegel.de/ wirt schaft/ soziales/ statistikpanne-beim-diw-forscherpatzen-bei-berechnung-der-kinderarmut-a-761070. html, 31. 10. 2015 UNICEF (2012): Measuring Child Poverty. New league tables of child poverty in the world‘s rich countries. Innocenti Report Card No. 10. Florenz UNICEF (2007): Child Poverty in Perspective. An Overview of Child Well-Being in Rich Countries. Innocenti Report Card No. 7. Florenz