unsere jugend
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0342-5258
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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Medienbildung in Kindertagesstätten
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Norbert Neuß
Medien nehmen heute in fast allen Lebensbereichen von Kindern eine bedeutende Rolle ein. Ob im Rahmen von Familie, Freizeit, Schule oder im öffentlichen Raum, überall nutzen Kinder Medien (Smartphones, Handys, Tablet-PCs, Handheld-Konsolen, Apps, MP3-Player, Fernsehen, Hörcassetten). Medienbildung erhält damit in der pädagogischen Arbeit einen wichtigen Stellenwert.
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108 unsere jugend, 68. Jg., S. 108 - 117 (2016) DOI 10.2378/ uj2016.art17d © Ernst Reinhardt Verlag München Basel Medienbildung in Kindertagesstätten Medien nehmen heute in fast allen Lebensbereichen von Kindern eine bedeutende Rolle ein. Ob im Rahmen von Familie, Freizeit, Schule oder im öffentlichen Raum, überall nutzen Kinder Medien (Smartphones, Handys, Tablet-PCs, Handheld-Konsolen, Apps, MP3-Player, Fernsehen, Hörcassetten). Medienbildung erhält damit in der pädagogischen Arbeit einen wichtigen Stellenwert. von Prof. Dr. Norbert Neuß Medienpädagoge und Erziehungswissenschaftler, Hochschullehrer an der Justus-Liebig-Universität Gießen. Zahlreiche medienpädagogische Forschungsprojekte und Publikationen Die alltägliche Nutzung verschiedener Medien beginnt bereits sehr früh. In einem Internetforum findet sich beispielsweise folgende Aussage einer Mutter: „Habe gestern meinem Sohn (3 J.) die Biene Maja App (Flip in Gefahr) geladen. Er ist ganz begeistert von den Animationen und den tollen Bildern. Das Spiel ist ganz ok und die Ausmalbilder kommen gut an. Alles in allem eine prima App mit der bekannten und kindgerechten Biene Maja.“ Dieses Verwobensein von Medien in der Lebensrealität wird auch als Medienökologie bezeichnet und beginnt bereits in frühester Kindheit. Dies lässt sich auch an einigen ausgewählten Zahlen belegen. Mediennutzung bei Kleinkindern So hat die MINI-KIM Studie (MPFS 2014) die Mediennutzung von zwei bis fünfjährigen Kindern im Alltag erhoben, indem über 600 Haupterzieher befragt wurden. Demnach bestimmt die alltäglichen Aktivitäten dieser Altersgruppe vor allem das Spielen (drinnen: 85 %, draußen: 63 %). Bezüglich der Häufigkeit folgt auf dem dritten Platz jedoch schon das Fernsehen (44 %) ganz knapp vor der Beschäftigung mit Büchern (43 %) (vgl. Abb. 1; MPFS 2014, 7). Im Hinblick auf das Leitmedium Fernsehen ergeben sich folgende Nutzungszahlen. Bei den 3 - 5-jährigen Kindern liegt die durchschnittliche Sehdauer heute bei ca. 74 Minuten pro Tag. Dieser Wert ist seit 1995 relativ stabil. Bei den 6 - 9-Jährigen ist eine durchschnittliche tägliche Fernsehnutzung von ca. 91 Minuten im Jahr 2013 gemessen worden. Diese Werte sind seit Jahren relativ stabil. Höhere Zahlen ergeben sich bei der Verweildauer vor dem Fernsehen. Diese liegen bei den 3 - 5-Jährigen bei 138 und bei den 6 - 9-Jährigen bei 164 Minuten pro Tag (vgl. Feierabend/ Klingler 2014, 184). Diese deutliche quantitative Zunahme der Fernsehnutzung lässt sich auch schon in der sehr frühen Kindheit an einer veränderten emotionalen Medienbindung beobachten. „Im 109 uj 3 | 2016 Medienbildung in Kindertagesstätten Altersverlauf wird deutlich, dass sich die Bindung der Kinder zwischen zwei und fünf Jahren vollkommen dreht: Während bei den Zweibis Dreijährigen noch 56 Prozent der Stimmen auf (Bilder-)Bücher entfallen und auf das Fernsehen nur knapp ein Drittel entfällt, wird bei den Vierbis Fünfjährigen dem Fernsehen (53 %) die stärkste Bindungskraft zugesprochen, für Bücher würde sich nur noch ein Viertel entscheiden“ (MPFS 2014, 12). Hinzu kommt auch, dass digitale Medien, wie Spielecomputer, Familiencomputer und Tablets zunehmend an Bedeutung gewinnen (vgl. MPFS 2014, DIVSI 2015). Gerade digitale Medien werden auch im Hinblick auf die wichtige Rolle des Vorlesens in Familien thematisiert. So stellt die Stiftung Lesen mit ihren Forschungen die Frage nach der Bekanntheit, Verbreitung und Nutzung digitaler Lesemedien in Familien mit Kindern im Vorlesealter (vgl. Ehmig/ Seelmann 2014). Dabei interessiert z. B. inwiefern elektronische Leseangebote (per Smartphone oder Tablet) bereits für das Vorlesen genutzt werden. „In fast jeder fünften (18 %) dieser Familien betrachten die Eltern mehrmals in der Woche oder täglich eine Bilder- und Kinderbuch-App mit dem Kind, in jeder dritten Familie (31 %) ist dies einbis zweimal in der Woche der Fall. Bilder- und Kinderbuch-Apps bieten damit ein zweites Potenzial: zur Verstetigung des Vorlesens und Erzählens in der Familie. Sie machen Lust auf mehr und können so zu einer kontinuierlichen Nutzung führen“ (Ehmig/ Seelmann 2014, 198). Diese exemplarischen Ergebnisse verdeutlichen, dass viele Lebens- und Lernbereiche von Kindern medial durchzogen sind. Fachleute sprechen davon, dass Heranwachsende heute zu den digitalen Eingeborenen („digital native“) gehören, während die Erwachsenen zu den „digitalen Einwanderern“ („digital immigrants“) zählen. So können Erwachsene heute auch immer schwerer verstehen, welche Bedeutung die digitalen Medien für Heranwachsende haben. Dies ruft regelmäßig Befürchtungen hervor, denen nur durch eine aktive Auseinanderset- Abb. 1: Häufigkeit der Aktivitäten im Alltag von Kleinkindern (2 - 5 Jahre). Befragt wurden 623 Haupterziehende im Rahmen der miniKIM-Studie 2014. Drinnen spielen Draußen spielen Buch anschauen/ vorlesen Fernsehen Malen/ Zeichnen/ Basteln Freunde treffen Musik hören Hörspiele anhören Video/ DVD sehen Sport treiben Radio hören Musizieren Computer-/ Konsolen-/ Onlinespiele Handy/ Smartphone nutzen Tablet-PC benutzen Internet nutzen Ins Kino gehen jeden/ fast jeden Tag ein-/ mehrmals pro Woche 0 25 50 75 100 Aktivitäten im Alltag 2014 Quelle: miniKIM-Studie 2014, Angaben in Prozent Basis: alle Haupterzieher, n = 623 110 uj 3 | 2016 Medienbildung in Kindertagesstätten zung mit den Medien begegnet werden kann. Paradox ist es aber, wenn Erwachsene die neuen Digitalmedien üppig in ihren Alltag integrieren, aber von den Kindern Medienabstinenz verlangen. Medienkompetenz Daher ist auch für Kinder eine früh beginnende Medienerziehung notwendig. Ziel der frühkindlichen Medienbildung ist es, Kinder schon früh auf ihrem Weg in die Mediengesellschaft zu begleiten. Dabei sollen sie gefördert werden, kompetent, selbstbestimmt, sozial verantwortlich und kritisch mit den verschiedenen Medien und ihren inhaltlichen Angeboten umzugehen. Dieses Ziel wird auch häufig mit dem Begriff der Medienkompetenz beschrieben. Baacke (1998) sah den Begriff der Medienkompetenz eng an den der Kommunikativen Kompetenz gebunden. „Diese ‚kommunikative Kompetenz‘ ist allen Menschen von Geburt an gegeben, sie gehört zur menschlichen Grundausstattung. Dennoch muß sie gelernt, geübt und weiterentwickelt werden; heute fördern wir ‚kommunikative Kompetenz‘, ausgehend von der Primärsozialisation in der Familie, über vielfältige Bildungseinrichtungen, hinzu kommen Alltagserfahrungen und selbstsozialisatorische Prozesse des Weiterlernens. ‚Medienkompetenz‘ ist insofern eine Teilmenge der ‚kommunikativen Kompetenz‘ und wendet sich insbesondere dem elektronisch-technischen Umgang mit Medien aller Art zu, die heute in komplexer Vielfalt zur Verfügung stehen und deren Nutzung ebenfalls gelernt, geübt und gefordert werden muß.“ Einen Überblick über die Inhalte der Medienkompetenz bietet Tab.1. In Anlehnung an die ‚klassischen Aufgabenfelder‘ der Medienpädagogik hat Baacke eine Umsetzung von Medienkompetenz vorgeschlagen, die diesen Begriff in vier Zielbereiche gliedert: Medienkritik, Medienkunde, Mediennutzung und Mediengestaltung. Hinter den Begriffen verbergen sich Fähigkeiten wie das Analysieren, das Gestalten, das Kommunizieren und das Handeln mit Medien. Medienerziehung hat die Aufgabe, Medienkompetenz zu vermitteln. Konkret lassen sich folgende Fragen stellen: ➤ Welche Fähigkeiten sollte ein Nutzer in einem bestimmten Alter haben, um mit einem bestimmten Medium bzw. einem seiner spezifischen Bereiche ‚kompetent‘ umzugehen? ➤ Welches sind die Problembereiche, die sich aus der Nutzung dieses Mediums in dieser Altersstufe ergeben und welches sind die besonderen Chancen, die sich aus der Nutzung für diese Altersgruppe ergeben? ➤ Wie kann die medienpädagogische Förderung oder Kompetenzvermittlung für diesen Bereich aussehen? Begründungen für Medienbildung Medienkompetenzförderung in Kindertagesstätten wurde in den letzten Jahren mit unterschiedlichen Argumenten begründet. Fördermöglichkeiten Durch gezielte Lernangebote mithilfe von Neuen Medien (z. B. PC-gestützte Sprachförderung, Förderung des phonologischen Bewusstseins usw.) kann Teilleistungsschwächen begegnet werden. Medien können kognitive und sprachliche Kompetenzen fördern. Dazu gehören folgende Fähigkeiten: Zuhören, sich Dinge merken, Bedeutungen und Symbole erkennen, Nacherzählen und das Gehörte verstehen und spielerisch umsetzen. Dabei ist die Förderung mit Medienangeboten eingebunden in ein Netz weiterer pädagogischer Fördermaßnahmen. 111 uj 3 | 2016 Medienbildung in Kindertagesstätten Computer Fernseher Buch Radio Erforschen und Verstehen … als ein interaktives Medium kennenlernen … eine Symbolsensibilität entwickeln/ die Bedeutung von „Schaltflächen“ verstehen … Anwendungsmöglichkeiten des PCs kennenlernen … eine Fernsehlesefähigkeit erwerben (z. B. unterschiedliche Fernsehgenres kennen) … zunehmend komplexere Bilder und Geschichten verstehen … Drucktechniken kennenlernen … unterschiedliche symbolische Darstellungen unterscheiden … den Einsatz von Geräuschen und Musik zum Erzeugen von Gefühlen und Stimmungen erkennen Verarbeiten und Kommunizieren … die kennengelernten Inhalte durch verschiedene symbolische Formen anderen mitteilen (zeichnen, erzählen usw.) …lernen, durch Medienverarbeitung Distanz zum Gesehenen herzustellen … Themen und Bedürfnisse mithilfe von Geschichten ausdrücken lernen … … Phantasieanregung durch Tonkassetten kreativ umsetzen … Nutzen und Handhaben … mit grundlegenden technischen Fertigkeiten umgehen lernen (Maus bedienen können usw.). … Freude an der Nutzung haben und „Selbstregulierung“ (in Bezug auf die Nutzung) ausbilden … Fernsehangebote hinsichtlich eigener Bedürfnisse auswählen lernen … mit Videokamera selbst „Fernsehbilder“ erstellen … Gründe für eine ausgewogene Fernsehnutzung/ Freizeitgestaltung kennen und „verstehen“ … Bücher als Nachschlagewerke kennenlernen (z. B. Bestimmungsbuch) … eigene Tongeschichten aufnehmen Tab. 1: Differenzierung von Medienkompetenz 112 uj 3 | 2016 Medienbildung in Kindertagesstätten Qualitativ hochwertige Bildungsangebote Medienkompetenz wird als Schlüsselqualifikation in der Informationsgesellschaft betrachtet. Neben medientechnischen Fähigkeiten sollten Kitas auch hochwertige Medienangebote (Bilderbücher, CD-Rom; Hörcassetten, Apps usw.) bereitstellen. Dabei geht es auch darum, frühe Wissensklüfte zu vermeiden und auch für Kinder aus bildungsfernen oder ökonomisch benachteiligten Elternhäusern einen Zugang zu hochwertigen inhaltlichen Medienangeboten bereitzustellen. Prävention Mit der Zunahme an Medienerfahrungen sind neben vielfältigen frühen Kommunikationsmöglichkeiten auch Entwicklungsrisiken verbunden. So ist z. B. die Entwicklung, dass Kinder im Vorschulalter bereits einen eigenen Fernseher im Kinderzimmer haben, eher bedenklich. Bei Kindern, die im Alter von 3 - 5 Jahren ein eigenes Fernsehgerät im Kinderzimmer haben, verdoppelt sich die tägliche Fernsehnutzung fast. Diese Kinder sehen insgesamt zu späteren Tageszeiten Fernsehen und sie schauen unkontrollierter Fernsehen. An letztgenannte normative Bewertung schließen sich präventive Sichtweisen an, die die Abwendung von Entwicklungsbeeinträchtigungen von Kindern in den Blick nehmen. Hieraus begründet sich u. a. medienpädagogische Elternarbeit als Beitrag zum erzieherischen Jugendmedienschutz. Erziehungspartnerschaft Über 90 % der Kinder im Alter ab drei Jahren gehen in eine Kindertagesstätte. Medienkompetenzförderung ist nur in enger Zusammenarbeit mit den Familien sinnvoll. Daher bietet sich der Kindergarten als Institution besonders an, für das Thema zu sensibilisieren und ihm mit niedrigschwelligen Angeboten zu begegnen (vgl. Neuß 2012 a). Dabei ist zu bedenken, dass Medienbildung im Kindergartenalter auch mit Themen wie Gesundheitsförderung, Konsumerziehung und Bewegungserziehung und familiärer Freizeitgestaltung verbunden ist. Kinder verstehen Medienpädagogische Forschungen und hier vor allem die qualitative Rezeptionsforschung haben gezeigt, das auch Vorschulkinder von den Medien nicht „eingewickelt“ und „reizüberflutet“ werden, sondern dass sie bewusst Inhalte auswählen und in ihren Alltag integrieren (vgl. Bachmair 1994; Neuß 1999, 2012). Diese Forschungen haben gezeigt, dass Kinder aktive Rezipienten sind, d. h. sie interpretieren viele Medieninhalte ganz anders, als es Erwachsene tun. Dies macht die Medienerziehung in der Familie und im Kindergarten nicht gerade leichter, denn die Scheinsicherheit von „pädagogisch gut“ und „schlecht“ ist dadurch infrage gestellt. Ein kindorientiertes Urteil über die Sendung (oder andere Medienangebote, z. B. PC-Lern-Spiele) lässt sich ohne die Aussagen und Sichtweisen der Kinder kaum finden. Eben hier liegt eine Begründung von medienerzieherischer Arbeit im Kindergarten, bei der die Arbeit mit Kindern und die medienerzieherischen Fragen der Eltern verschränkt werden können (vgl. Neuß/ Michaelis 2002). Konzeptentwicklung Obwohl der Bildungsbereich „Medien und Medienkompetenz“ bisher nur von wenigen Kindertagesstätten konzeptionell hervorgehoben wurde, bietet er dennoch Chancen für die Konzeptentwicklung und das Kindergartenprofil. Dabei kann z. B. an Grundsätze des Situationsansatzes angeknüpft werden. Zimmer umschreibt als Kennzeichen des Situationsansatzes die „Orientierung des Lernens an Lebenssituationen von Kindern, die Verbindung von sozialem und sachbezogenem Lernen, die Einrichtung altersgemischter Gruppen, die pädagogische Mitwirkung von Eltern und anderen Erwachsenen, ein dialogisches Verhältnis von Lehrenden und Lernenden“ (Zimmer 1985, 21). 113 uj 3 | 2016 Medienbildung in Kindertagesstätten Der Situationsansatz ist folglich als eine Erweiterung der „Jahreszeitenpädagogik“ zu verstehen; als ein Ansatz, der die klassischen Kindergartenthemen (z. B. Weihnachten) um kindorientierte Themen ergänzt. Diese Begründungslinien, die vielfach auf Praxiserfahrungen und empirischen Forschungsergebnissen beruhen, haben auch dazu geführt, dass Medienkompetenzförderung auf unterschiedliche Weise in den Bildungsplänen für Kindertagesstätten verankert wurde. Während einige Bildungspläne der Medienpädagogik hohen Stellenwert beimessen und ihr einen eigenen Bildungsbereich einräumen, integrieren andere die Medienpädagogik eher in andere Bildungsbereiche. Für beide Vorgehensweisen lassen sich Argumente finden. Allerdings hat die Forschung in Bezug auf die Sozialisation und die Entwicklung von „Kindern mit Medien“ vielfache Erkenntnisse gewonnen und Bildungsbedarf verdeutlicht. Die Umsetzung von Medienbildung sollte nicht ausschließlich „integrativ“ verstanden werden, weil dann die Arbeit mit Medien lediglich unter dem Gesichtspunkt „Medieneinsatz als Methode“ ausgelegt wird (z. B. CD- Rom-Einsatz zur Sprachförderung). Daneben geht es auch darum, die Themen der Kinder in der Auseinandersetzung mit Medien wahrzunehmen und darauf entsprechend zu reagieren (z. B. Helden, Filmrealität/ Fiktion, Technikinteresse, Medienerlebnisse, Werbung und Konsum, Erfahrungserweiterung). Das bedeutet folglich, Medien, ihre Inhalte und die Interaktion mit ihnen selbst zum Thema zu machen. Aus dieser Überlegung lassen sich folgende Bereiche der Medienbildung begründen. Sechs Bereiche frühkindlicher Medienbildung Im Folgenden werden sechs Bereiche frühkindlicher Medienbildung knapp umrissen und anhand exemplarischer Beispiele und Fragen konkretisiert (vgl. Abb. 2). Medien durchschauen helfen Medien als kooperative Erziehungsaufgabe verstehen Medien zur Sensibilisierung der Sinne einsetzen Medien als Bildungsmaterial bereitstellen Medien als Erfahrungsspiegel betrachten Medien als Erinnerungs- und Erzählhilfe einsetzen Bereiche kindlicher Medienbildung Abb. 2: Bereiche frühkindlicher Medienbildung Quelle: Eigene Quelle. 114 uj 3 | 2016 Medienbildung in Kindertagesstätten Medien als Erfahrungsspiegel betrachten Kinder verarbeiten aktiv ihre Erlebnisse, die sie beschäftigen, die sie emotional bewegen oder die sie ängstigen, indem sie darüber sprechen, phantasieren, zeichnen oder Rollenspiele machen. Dies gilt für all ihre wichtigen Lebensbereiche (Familie, Kindergarten, Medien usw.). Auch die Verarbeitung von Medienerlebnissen ist ein wichtiger Bestandteil der frühkindlichen Erfahrungsbildung, weil sich die Kinder dabei die Beziehung zwischen ihrem eigenen Erleben und dem Medienerlebnis vor Augen führen können. Dies kann man wortwörtlich verstehen. Indem ein Kind z. B. aufzeichnet, was es im Fernsehen geängstigt hat, verdeutlicht es sich und anderen dieses zunächst unbestimmte Gefühl (vgl. Neuß 2001). Nicht selten drücken Kinder durch ihre Medienerlebnisse auch ihre eigenen lebenswelt- oder entwicklungsbezogenen Themen aus. Dazu ein Beispiel von einer Mutter, die eine Erfahrung von ihrem Sohn Sven beschreibt, der sich ein „Heidi“-Video ansah. Als Heidi aus der Idylle mit ihrem Großvater gerissen wird und in Frankfurt bei der hartherzigen Erzieherin leben muss, wollte Sven den Film nicht mehr weitersehen. Die Videokassette musste sogar in den Keller gebracht werden, damit er „Ruhe gab“. Erst als das angstbesetzte Thema „Trennung von den Eltern“ und „Allein sein“ von Sven erfolgreich verarbeitet war, konnte er sich dem Medieninhalt wieder nähern. Ausgehend von den Medienerlebnissen der Kinder können Erzieher/ innen spielerische Methoden der Verarbeitung (vgl. Neuß/ Zipf/ Pohl 1997) anbieten (Situationsorientierung). Dies geht aber nur, wenn eine dem Medienerleben der Kinder aufgeschlossene Atmosphäre herrscht. Erst dann kann die Beziehung der Kinder zu ihren aktuellen Medienhelden deutlich werden. Mithilfe von Mediengeschichten zeigen Kinder auch, was sie innerlich gerade bewegt. Medien zur Sensibilisierung der Sinne einsetzen Medien schränken nicht nur die sinnlichen Erfahrungen ein, weil sie in der Regel nur das Auge und das Ohr ansprechen, sondern sie können auch die Sensibilität für diese Sinne deutlich erhöhen. Wer schon mal mit Kindern ein Fotoprojekt durchgeführt oder eine Ton- Dia-Show erstellt hat, der weiß, wie diese Medien zum genauen Hinsehen und Hinhören auffordern. Indem Kinder in Medienprojekten (u. a. Trickfilm, Hörspiel, Video, Ton-Dia-Serie, Fotogeschichte) selbst gestalterisch mit Medien umgehen, lernen sie Medien zur Darstellung eigener Ideen und Themen produktiv zu nutzen (Handlungsorientierung). Die Projektarbeit mit Medien geschieht dabei immer in einer sozialen Gruppe und lässt sich außerdem zur Förderung der Phantasie einsetzen (vgl. Eder/ Neuß/ Zipf 1999). Medien als Erinnerungs- und Erzählhilfe einsetzen Auch Erwachsene fotografieren, schreiben oder erstellen Videofilme, um sich an Situationen, Erlebnisse oder Stimmungen zu erinnern. Medien helfen uns bei dieser Erinnerung. Sie sind Speicher von biografischen Erfahrungen. An einem Foto kann eine ganze Urlaubsgeschichte ‚hängen‘. Medien helfen uns zu erinnern, uns die Gefühle wieder wachzurufen, vergessene Details wiederzuentdecken, Situationen zu beschreiben und Personen zuzuordnen. Diese Möglichkeiten lassen sich durchaus in pädagogischen Zusammenhängen - und auch im Kindergarten - nutzen. Lernen hat immer mit Erinnern und Vergessen, mit Auswählen von bedeutsamen Dingen und Vergessen von unwichtigen Informationen zu tun. Medien können bereits im Kindergarten eingesetzt werden, um aus den vielfältigen Erfahrungen, die die Kinder in ihrer Lebenswelt machen, auszuwählen, sich daran zu erinnern und darüber zu sprechen (Erfahrungsorientierung). Konkret bedeutet dies, mit den Kindern eine persönliche „Erinnerungsschachtel“ oder ein „Erinne- 115 uj 3 | 2016 Medienbildung in Kindertagesstätten rungsbuch“ anzulegen, in das Fotos, Sammelstücke, Zeichnungen, CDs, Fundstücke und Ähnliches zusammengestellt werden können. Medien durchschauen helfen Der Kindergarten hilft Kindern, sich in der Welt zu orientieren. Allerdings wird dabei die Medien- und Konsumwelt noch weitgehend ausgeklammert. Es gibt aber Problembereiche des Medienverständnisses, bei denen Kinder Hilfestellung und Interpretationshilfen von Erwachsenen benötigen (Problemorientierung). Solche Problembereiche sind z. B. das Verständnis von Fernsehgewalt in Zeichentrickfilmen oder die mangelnde Unterscheidungsfähigkeit zwischen Fernsehprogramm und Werbung (vgl. Aufenanger/ Neuß 1999). Es geht folglich darum, ihnen beim Verstehen von Mediengestaltungen zu helfen und so aktiv eine media literacy (Medienlesefähigkeit) zu fördern. Hierzu können ErzieherInnen auf bestehende Materialien zurückgreifen, um Projekte anzubieten, die nicht nur lehrreich sind, sondern auch Spaß machen (vgl. LfM/ Neuß 2003). Zu diesem Bereich gehören auch erste technische Verständnishilfen (z. B. beim Bedienen eines Computers). Medien als kooperative Erziehungsaufgabe verstehen Die Einflüsse der Medien rufen bei jungen Eltern häufig Fragen und nicht selten Sorgen und Verunsicherungen hervor. Gängige Fragen zum Thema Fernsehen sind: ➤ Dürfen oder müssen Vorschulkinder überhaupt fernsehen? ➤ Wie lange sollte ein Vorschulkind fernsehen? ➤ Was tun, wenn das jüngere Kind einen Film beim älteren Geschwisterkind mit sehen will? ➤ Was tun, wenn ein Kind einen Film nicht mehr weiter sehen will? ➤ Sind Kinder den Fernseheindrücken hilflos ausgeliefert? ➤ Wie verarbeiten Kinder das Gesehene? ➤ Worauf müssen Eltern beim Umgang mit dem Fernsehen achten Auch die Fragen zum Thema „Computer und Computerspiele“ werden von Eltern in ähnlicher Weise gestellt. Allerdings wird der Computer und seine vermeintlichen Lern- und Bildungsmöglichkeiten deutlich positiver bewertet. Gerade der Kindergarten kann zu einem Kommunikationsort über erzieherische Fragen werden, wenn dafür ein entsprechend vertrauenswürdiger Rahmen angeboten wird. Neben allgemeinen Fragen der Erziehung können auf thematischen Elternabenden auch die zuvor beschriebenen Fragen aufgegriffen werden. Geht man ohne „pädagogischen Zeigefinger“ an das Thema heran, kann der Elternabend als Ausgangspunkt für tiefere Diskussionen über die Medienauswahl, familiäre (Medien-) Erziehungsgrundsätze sowie Chancen und Gefahren der Mediennutzung werden. Hierbei bietet es sich an, kooperative Formen der Zusammenarbeit (Familienwochenende, Elternabend und Elternnachmittage o. Ä.) mit den Medienprojekten der Kinder zu verknüpfen und diese zu einem gemeinsamen Lernprozess für alle Beteiligten (Kinder, Eltern und ErzieherInnen) werden zu lassen (Kooperationsorientierung). Medien als Bildungsmaterial bereitstellen Sicher gibt es in jedem Kindergarten Bilderbücher, manchmal auch einen Kassettenrekorder, seltener einen Fernseher und kaum einen Computer. All diese Medien aber bieten Kindern auf unterschiedliche Weise Bildungsmöglichkeiten und sind Bestandteil kindlicher Primärerfahrung. Einerseits machen Kinder Erfahrungen mit dem Medium selbst, andererseits erschließen sie sich selbstständig Informationen oder Geschichten (Bildungsorientierung). Ihnen die Medien in der heutigen Zeit vorenthalten zu wollen, bedeutet eine Einschränkung von Erfahrungs-, Erlebnis- und Informationsmöglichkeiten. Der Bildungsauftrag von Kindertageseinrichtungen kann mithilfe von unterschiedlichen Medien umgesetzt werden. Neuerdings 116 uj 3 | 2016 Medienbildung in Kindertagesstätten werden auch Computer und PC-gestützte Lernangebote im Kindergarten eingesetzt (Neuß/ Michaelis 2002). Für die Integration von Neuen Medien lassen sich folgende Gründe nennen: ➤ PC-Lernspiele werden eben nicht nur zum Lernen genutzt, sondern sind in die pädagogische Arbeit des Kindergartens oder des Hortes zu integrieren, und sie sind der Anlass, um bei den Kindern „Reflexionsprozesse“ über ihre Mediennutzung auszulösen. ➤ PädagogInnen können Kinder beim Computern mit Spiel-Software pädagogisch begleiten und ihnen positive Lernerfahrungen vermitteln. ➤ Schließlich soll der Bildungsprozess von allen Kindern durch gleiche Bildungschancen mit hochwertigen Medien gewahrt werden. ➤ Multimediale Lernsoftware erweitert die Erfahrungsmöglichkeiten von Kindern. ➤ Lernprogramme bieten gezielte Fördermöglichkeiten bei Teilleistungsschwächen (Sprache, Konzentration usw.). Ein Allheilmittel ist der Computer aber nicht. Seine Multimedialität unterstützt zwar die kindliche Motivation, sich mit Themen intensiv auseinanderzusetzen, ob sein Einsatz aber lernförderlich ist, hängt von der Qualität der Software, der pädagogischen Einbindung und der individuellen Begleitung durch die ErzieherInnen ab. Mit der Darstellung der medialen Bildungsbereiche im Kindergarten ist auch klarer geworden, was mit Medienkompetenz gemeint ist. Es geht nicht darum, Kinder möglichst früh zu Computerexperten zu machen, sondern den Computer als Spiel- und Lernmittel einzusetzen, und dabei den Kindern erlernbare Fähigkeiten zu vermitteln. Obwohl auch manche Pädagoginnen noch vom medienfreien Paradies träumen, sind Kinder bereits tief in die heutigen Medienwelten involviert. Medien sind allgegenwärtig, erfüllen bestimmte Bedürfnisse und können hervorragende Lernhelfer sein. Chancen von Medien bestehen in der aktiven und kreativen Nutzung dieser Medien zur Kommunikation, Gestaltung und Informationsgewinnung. Medien zum aktiv Produzieren zu nutzen (Hörspiele, Foto- und Bildergeschichten, Videofilme, Trickfilme herstellen, Bildbearbeitungen am Computer usw.) gehört dazu. Dies können pädagogische Fachkräfte vor allem erleben, wenn sie sich auf den Weg mit der Arbeit mit Neuen Medien machen. So können Medien in Kitas aktiv zur Sensibilisierung der Sinne eingesetzt werden und die Erfahrungen von Kindern erweitern (z. B. durch digitale Fotoapparate; digitale USB-Handmikroskope usw.). Gerade der pädagogisch überlegte und bewusste Umgang mit Neuen Medien (PC; Laptop, Tablet usw.) bietet Kitas neue pädagogische Möglichkeiten. Diese gilt es aber bewusst zu reflektieren. Unsinnig ist es, Kinder auf dem Tablet-PC ein Memory spielen zu lassen oder Ausmalbildchen machen zu lassen und sich dann über ihre medientechnischen Kompetenzen zu freuen. Das ist triviale „Medienpädagogik“. Vielmehr geht es darum, den Mehrwert von neuen Medien im Rahmen von pädagogischen Projekten zu nutzen. Dieser Mehrwert liegt in der Interaktivität der Lernangebote und den Möglichkeiten selbstgesteuerten Lernens, ihrer pädagogischen Einbettung, der kommunikativ-reflexiven Nutzung und der fachlichen Tiefe mancher digital aufbereiteter Inhalte. Umgang mit digitalen Medien ist zunehmend die vierte Kulturtechnik und ihr Erlernen beginnt nicht erst in der Schule. Daher ist die Förderung von Medienkompetenz bereits im Kindergarten unerlässlich. Ziel muss es dabei immer sein, die Kinder als Akteure ihres Bildungsprozesses zu erkennen und fördern und sie nicht an gesellschaftliche Bildungsanforderungen oder medientechnische Neuerungen anzupassen. Prof. Dr. habil. Norbert Neuß www.dr-neuss.de 117 uj 3 | 2016 Medienbildung in Kindertagesstätten Literatur Aufenanger, St./ Neuß, N. (1999): Alles Werbung, oder was? Medienpädagogische Ansätze zur Vermittlung von Werbekompetenz im Kindergarten. (Schriftenreihe der Unabhängigen Landesanstalt für das Rundfunkwesen, Bd. 13). 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