eJournals unsere jugend 68/4

unsere jugend
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0342-5258
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
41
2016
684

Schulabsentismus systemisch betrachtet

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2016
Thorsten Bührmann
Katharina Boehmer
Umgang mit Schulabsentismus erfordert einen komplexen Interventionsansatz, um den dahinter stehenden Multiproblemlagen gerecht zu werden. Der Beitrag bietet hierfür ein systemtheoretisches Erklärungsmodell und zeigt konkrete Handlungsmöglichkeiten im System Schule und der Netzwerkarbeit auf.
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172 unsere jugend, 68. Jg., S. 172 - 181 (2016) DOI 10.2378/ uj2016.art26d © Ernst Reinhardt Verlag München Basel Schulabsentismus systemisch betrachtet Jugend stärken und Netzwerke gestalten als Aufgabenfelder der Kinder- und Jugendhilfe Umgang mit Schulabsentismus erfordert einen komplexen Interventionsansatz, um den dahinter stehenden Multiproblemlagen gerecht zu werden. Der Beitrag bietet hierfür ein systemtheoretisches Erklärungsmodell und zeigt konkrete Handlungsmöglichkeiten im System Schule und der Netzwerkarbeit auf. von Dr. Thorsten Bührmann Jg. 1973; Akademischer Rat am Institut für Erziehungswissenschaft der Universität Paderborn Das Problem des Schulabsentismus - als Grundphänomen staatlich geregelter Bildungssysteme - hat in den letzten 20 Jahren sowohl in der Forschung als auch in der Projektförderung in Deutschland zunehmend an Aufmerksamkeit gewonnen. Eine breite Sensibilisierung in der (Fach-)Öffentlichkeit wurde durch das vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend aufgelegte Programm „Schulverweigerung - Die 2. Chance“ erreicht, welches von 2006 bis 2013 Bestandteil unterschiedlicher ESF-Förderperioden gewesen ist. In diesem Zeitraum wurden bundesweit 189 Koordinierungsstellen aufgebaut. Die dort tätigen sozialpädagogischen Fachkräfte haben über 16.000 Jugendliche - dies zumindest die Zahl der dokumentierten Fälle - in Form individueller Prozessbegleitung (i. S. eines Case Management) erreicht. Es handelte sich um SchülerInnen allgemeinbildender Schulen, deren Schulabschluss belegbar durch aktive oder passive Schulverweigerung gefährdet war. Primäres Ziel war die Reintegration in die Regelschule, d. h. wieder regelmäßig die Schule zu besuchen, aktiv am Unterricht teilzunehmen und sich - im Rahmen einer zunehmend stabilisierenden Leistungsentwicklung - zu bemühen, einen Schulabschluss zu erreichen (Bührmann 2014). Katharina Boehmer Jg. 1987; Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Erziehungswissenschaft der Universität Paderborn 173 uj 4 | 2016 Schulabsentismus systemisch betrachtet Von besonderem Interesse für dieses Themenheft ist die Überführung in das Anschlussprogramm „JUGEND STÄRKEN im Quartier“ (seit 2015). In stärkerem Maße als bisher werden nun die sozialräumliche Einbettung der Hilfsangebote sowie die Etablierung effizienter und effektiver Strukturen der Zusammenarbeit zwischen Trägern der öffentlichen Jugendhilfe, freien Trägern der Jugendsozialarbeit, Jobcentern, Agenturen für Arbeit, Schulen, Quartiersmanagement und weiteren Partnern als Ziele des Programms benannt (BMFSFJ 2014). Aus fachlicher Perspektive stellt genau dies eine sinnvolle förderpolitische Schwerpunktsetzung dar. Sie wird der Komplexität des Phänomens in besonderem Maße gerecht, da sie die personenzentrierte Herangehensweise (individuelle Begleitung von Jugendlichen) mit Interventionen und Unterstützungsangeboten in den „betroffenen“ Systemen sowie einer kommunalen Netzwerkarbeit verbindet. Systemtheoretisches Erklärungsmodell Aus wissenschaftlicher Perspektive greift es zu kurz, den Erfolg sozialpädagogischer Maßnahmen ausschließlich am Ziel der schulischen Reintegration zu messen. Denn: Gründe und Anlässe von schulverweigerndem Verhalten liegen nicht nur bei den Jugendlichen selbst. Es handelt sich in jedem einzelnen Fall um ein komplexes Gefüge von unterschiedlichen Einflussfaktoren (Bührmann 2009; Ricking/ Schulze 2012). In diesem Gesamtgefüge wird das schulverweigernde Handeln von den Jugendlichen selbst zumeist als problemlösende Handlung angesehen, auf die mangels alternativer Handlungsstrategien zurückgegriffen werden muss: „Das war doch logisch, dass ich dann nicht mehr hingegangen bin. (…) Ich konnte ja gar nicht anders, als zu Hause zu bleiben.“ Dass diese Handlung wenig zielführend ist, ist ihnen durchaus bewusst: „Klar, aus heutiger Sicht war das dämlich von mir. Aber es ging eben nicht anders.“ So kann es beispielsweise sein, dass Schulverweigerung den Jugendlichen vordergründig den als belastend erlebten schulischen Leistungsdruck nimmt und damit zunächst ein Problem bewältigendes Verhalten darstellt. Die Schwierigkeiten, die hierdurch entstehen, spielen in diesem Augenblick keine Rolle, sie werden in ihrer Bedeutsamkeit erst später bewusst wahrgenommen. Zu berücksichtigen ist dabei, dass sich die Problemlage nicht alleine auf den schulischen Kontext beschränken lässt: Schulabsentismus geht zugleich einher mit persönlichen Problemlagen und eingeschränkten Handlungsstrategien im Umgang damit, Problemlagen im familiären Umfeld, nicht vorhandenen oder problemverstärkenden Peer-Kontexten sowie Erfahrungen gesellschaftlicher Chancenlosigkeit und Ausgrenzung. All dies steht in wechselseitiger Beziehung zueinander. Schulabsentismus als Merkmal dysfunktionaler Strukturen in unterschiedlichen Systemen Ein systemtheoretisches Erklärungsmodell wird dieser Komplexität gerecht, indem schulverweigerndes Verhalten als Ausdruck dysfunktionaler Strukturen in den o. g. Kontexten betrachtet wird. Dies umfasst zum einen die sog. Primärsysteme (Familie, Schule, Peer-Gruppe) sowie zum anderen zusätzliche Hilfesysteme, wie z. B. Jugendämter, HzE-Einrichtungen, aber auch schulpsychologische Dienste, Polizei etc., die zur Problemlösung herangezogen werden. Neben der Begleitung der Jugendlichen und dem Aufbau funktionaler Handlungsstrategien zur Bewältigung persönlicher Anforderungen sind zugleich Änderungen und Unterstützungsangebote in den Primärsystemen erforderlich: 174 uj 4 | 2016 Schulabsentismus systemisch betrachtet Erfolgreiche Ansätze zeichnen sich dadurch aus, dass sie zeitgleich und aufeinander abgestimmt sowohl bei den Jugendlichen selbst als auch in Schule, Familie sowie der Peer-Gruppe ansetzen. Beschränken sich die Bemühungen auf nur eines dieser Systeme oder ausschließlich auf eine individuumszentrierte Arbeit, so werden diese nur in seltenen Fällen zu einem nachhaltigen Erfolg führen, da sie meist durch weiterhin bestehende dysfunktionale Strukturen in den anderen Systemen überdeckt werden. Solch ein komplexer Interventionsansatz erfordert ein hohes Maß an Kooperation und Netzwerkarbeit. Dies stellt damit einen übergeordneten Faktor erfolgreicher Intervention dar. Denn: In vielen Fällen lassen sich bereits zahlreiche Interventionen auf unterschiedlichen Ebenen und von unterschiedlichen Akteuren finden. Diese folgen allerdings jeweils einer anderen Systemlogik, sind meist wenig aufeinander abgestimmt und behindern sich z. T. sogar gegenseitig. Eine kommunale Gesamtstrategie mit gemeinsamen Zielen und einer gemeinsam abgestimmten pädagogischen Arbeit scheint demgegenüber deutlich effizienter und effektiver. Merkmale sozialer Systeme zur Analyse von Dysfunktionalitäten Um die Dysfunktionalitäten im Einzelnen zu verstehen, lassen sich die Merkmale sozialer Systeme, wie sie im Modell der Personalen Sysöffentliche Jugendhilfe freie Träger Jugendsozialarbeit Polizei … … System Schule System Familie System Peers Struktureller Rahmen: Kommune Abb. 1: Der Jugendliche im Kontext unterschiedlicher Systeme 175 uj 4 | 2016 Schulabsentismus systemisch betrachtet temtheorie (König/ Volmer 2005) formuliert werden, heranziehen: Das Verhalten eines sozialen Systems ist bestimmt ➤ von den jeweiligen Personen und den emotionalen Bindungen zwischen diesen Personen. ➤ von den subjektiven Deutungen der einzelnen Personen, d. h. den Gedanken, die sie sich über die Wirklichkeit machen, aber auch von ihren Einstellungen, Befürchtungen und persönlichen Zielen. ➤ von sozialen Regeln, d. h. durch Sanktionen gestützte Handlungsanweisungen, die in expliziter oder impliziter („geheime Regeln“) Form festlegen, was man in einer Situation tun soll, tun darf oder nicht tun darf. ➤ von Regelkreisen bzw. zirkulären Interaktionsstrukturen, die ein System durch Veränderung, Korrektur und Selbstregulation im Gleichgewicht halten. ➤ von Systemgrenzen zur sozialen Umwelt, die mehr oder weniger geschlossen bzw. durchlässig sein können. ➤ von der bisherigen Entwicklung, bisherigen Erfahrungen und Routinen sowie der eigenen Geschichte. Vor diesem Hintergrund lässt sich sowohl für jedes Primärsystem als auch für die Zusammenarbeit der (Hilfe-)Systeme eine differenzierte Analyse hinsichtlich funktionaler und dysfunktionaler Strukturen bezogen auf das angestrebte Ziel „Teilnahme an schulischen Bildungsprozessen“ vornehmen. Exemplarisch wird dies am Beispiel Schule sowie der übergreifenden Netzwerkarbeit verdeutlicht. Als empirische Grundlage dienen eigene qualitative Studien, in deren Rahmen über 40 schulverweigernde Jugendliche sowie 30 pädagogische Fachkräfte und Schnittstellenakteure aus Schule, Jugendhilfe und Jugendsozialarbeit, Politik und Administration mittels Konstruktinterviews befragt wurden. Es wurden zudem 30 Projekte schulbezogener Jugendsozialarbeit hinsichtlich der praktizierten Interventionsansätze inhaltsanalytisch ausgewertet sowie der Aufbau einer kommunalen Jugendberatungsstelle (13plus) und die damit verbundenen Netzwerkaktivitäten in Berlin-Neukölln über den Zeitraum von drei Jahren wissenschaftlich begleitet (Bührmann/ Boehmer/ de Boer 2013; Bührmann 2009). Die angeführten Zitate stammen aus diesen Projekten. Sie dienen der Veranschaulichung und haben jeweils einen exemplarischen Charakter. Schule als Primärsystem bei Schulabsentismus Schule stellt einen wichtigen und prägenden Bezugspunkt für die Jugendlichen sowie einen wichtigen Ansatzpunkt für Interventionen dar: Die Problemlage wird durch die stattfindende Norm- und Regelverletzung der Schulpflicht an diesem Ort sichtbar und es ergeben sich Möglichkeiten einer schnellen und unmittelbar sichtbaren Intervention. Eine Schwierigkeit für Interventionen seitens der Schule liegt jedoch darin, dass diese meist Teil der komplexen Problemstruktur ist und damit selbst einer Intervention bedarf. Genau dies kann eine Aufgabe der Kinder- und Jugendhilfe sein. Dysfunktionale Strukturen im System Schule Vor dem Hintergrund der einzelnen Systemmerkmale lassen sich die Dysfunktionalitäten im Kontext von Schulabsentismus, die sich in unseren - sowie in ähnlicher Weise auch in anderen, zumeist quantitativen Studien (z. B. Sälzer 2010; Stamm/ Ruckdäschel/ Templer/ Niederhauser 2011) - gezeigt haben, folgendermaßen zusammenfassen: ➤ Es besteht eine geringe Bindung und Beziehungsqualität zu Lehrkräften und Mitschülern, die sich insbesondere in emotionaler Distanz 176 uj 4 | 2016 Schulabsentismus systemisch betrachtet und Teilnahmslosigkeit äußert: „Bis die Lehrer gemerkt haben, dass ich immer blau gemacht habe, hat das ein ganzes Schuljahr gedauert“ -, so die typische Aussage eines schulverweigernden Jugendlichen. Aus Sicht eines Lehrers stellt sich die Situation folgendermaßen dar: „Passive Schulverweigerer setzen sich gern nach hinten, da können sie abtauchen. (…) Und wenn man als Lehrer 20 bis 25 Schüler hat, ist man über jeden froh, der die Klappe hält. Deswegen gehen die ganz schnell unter, weil die auch nicht stören. Ich will nicht sagen, dass man die nicht registriert, (…) aber man akzeptiert das schnell erst mal so.“ ➤ Lehrkräfte erleben die Situation als Angriff auf ihre Autorität, als persönliches Scheitern oder Versagen in ihrer Lehrerrolle. Jugendliche deuten die Teilnahmslosigkeit demgegenüber als Desinteresse an der eigenen Person und sehen dies als Bestätigung ihres negativen Selbstbildes, insbesondere hinsichtlich des Selbstwertes. In der Folge verfestigen sich negative Einstellungen zu sich selbst, wie z. B. „Ich bin es halt nicht wert, dass er sich kümmert.“ ➤ Es liegen keine klaren, übergreifenden Regeln und Sanktionsmechanismen im Umgang mit Schulverweigerung vor. Bei Lehrkräften führt dies zu Unsicherheit und Überforderung, da jedes Mal neu entschieden werden muss, ob und in welcher Weise reagiert werden muss oder kann. Bei den Jugendlichen führen unklare Regeln und ausbleibende Sanktionen schließlich zu einerVerstärkung des Problemverhaltens: „In der Zeit, wo ich keinen Bock hatte, habe ich gesagt: ,Ich war krank.‘ In der 8. Klasse wollten die nicht unbedingt eine Entschuldigung haben. (…) Dann habe ich das auch immer so gemacht - ist doch logisch.“ Diese Reaktion ist wenig erstaunlich, denn aus subjektiver Sicht handelt es sich zugleich um ein problemlösendes Verhalten, wenn der Unterricht mit seinen Leistungsanforderungen z. B. als bedrohlich und Angst auslösend erlebt wird oder aber es im Familien- oder Peer-System „wichtigere Probleme“ zu klären gilt. ➤ Die Interaktion zwischen LehrerIn und Jugendlichem ist durch restriktives Erziehungsverhalten geprägt, welches von macht- und autoritätsorientierten Problemlösestrategien gekennzeichnet ist. Viele SchülerInnen berichten von Lehreräußerungen wie „Was tust du überhaupt noch hier? Träumen kannst du auch zu Hause“. Andere wiederum berichten, sie seien im Unterricht „überhaupt nicht mehr drangekommen“, die LehrerInnen haben sie „einfach übersehen“. Häufig überträgt sich solch ein negatives Verhalten der Lehrperson gegenüber dem bzw. der SchülerIn auch auf Mitschüler, das Verhalten der Lehrperson wird imitiert. Dies geht von Hohn über Spott bis hin zu massiven Beleidigungen. All dies wird als verletzend und abwertend empfunden, es führt schließlich beim Schulverweigerer zu Trotzhandlungen, Vergeltungsmaßnahmen, Lügen oder auch dem Schikanieren von anderen, schwächeren Mitschülern. Oder aber es führt zu Resignation und Apathie und damit zur Verstärkung der vorhandenen Schulverweigerungstendenz. Nicht selten beschreiben Jugendliche dies als Teufelskreis, aus dem sie keinen Ausweg finden: „Ich hatte kein’ Bock auf Hausaufgaben, ich wollte mich einfach nicht anstrengen. Dann habe ich Stress mit der Lehrerin bekommen. Dann haben mich auch die anderen Schüler vollgelabert, jeden einzelnen Tag. Das hat mich voll genervt. Also hatte ich noch weniger Bock.“ ➤ Problemverstärkend wirkt die zumeist sehr geschlossene Systemgrenze von Schule, d. h. es dauert sehr lange, bis Lehrkräfte Hilfe von außen anfordern und in integrierter Form zulassen. Häufig mangelt es bereits innerhalb des Systems an einem offenen Austausch über die Problematik. I. d. R. liegt kein systematisches Erfassungssystem vor, mit dessen Hilfe frühzeitig die spezifischen Anzeichen eines schulverweigernden Verhaltens fächerübergreifend erfasst und sichtbar werden - das System der Klassenbucheinträge ist hierfür unzureichend. Viele Lehrkräfte versuchen zunächst das Problem alleine zu lösen. Eine für sie logische 177 uj 4 | 2016 Schulabsentismus systemisch betrachtet Handlung, da sie die Ursache meist bei sich suchen und das Gefühl haben, ihren zumeist sehr hohen Ansprüchen an sich selbst („Ich muss alle Schüler mit meinem Unterricht erreichen“) nicht gerecht geworden zu sein. ➤ Schulabsentismus ist das Ergebnis eines Prozesses: Es hat sich in vielen Fällen zunächst mit passiven Formen (z. B. mentale Abwesenheit im Unterricht), auffälligen Änderungen im Arbeits- und Sozialverhalten (z. B. plötzlicher Leistungsabfall) oder sichtbaren Regelübertretungen (z. B. Unterrichtsstörungen) angedeutet - und ist mit dysfunktionalen Reaktionen der Lehrkräfte (z. B. Ignorieren) einhergegangen. Erst im letzten Schritt erfolgt ein Fernbleiben vom Unterricht, erst in Form von Gelegenheitsschwänzen einzelner Stunden, insbesondere von Eckstunden bei unbeliebten LehrerInnen und Fächern. Sowohl die Auswertung der vorliegenden Studien als auch die eigenen Befragungsergebnisse zeigen, dass es dabei immer ein auslösendes Moment, einen Bruch in der Biografie der Jugendlichen gab, der sie oder ihn aus der Bahn geworfen hat: „Das kann auch der Tod des geliebten Großvaters sein, in dessen Folge sich nicht ausreichend um das Kind gekümmert wurde. (…) Da fängt das an, sei es erst mit schlechten Noten oder gleich mit der Schulschwänzerei.“ (pädagogische Fachkraft). Die Analyse dieser „Brüche“ lässt deutlich werden, dass Schulabsentismus kein individuelles Problem oder gar eine psychische Störung oder Lernbehinderung der SchülerInnen darstellt, wie manche LehrerInnen annehmen. Der Prozess einer zunehmenden Abkehr von der Schule wird vielmehr durch krisenhafte Entwicklungen in einem komplexen Konstellationsgefüge verursacht. Vor diesem Hintergrund sind die o. g. Faktoren immer auch im Zusammenhang mit weiteren Dysfunktionalitäten in den anderen Primärsystemen sowie der Persönlichkeitsstruktur der Jugendlichen zu sehen (vgl. Abb. 1). Auf diese wird jedoch aufgrund der thematischen Schwerpunktsetzung dieses Beitrags nicht weiter eingegangen. Vielmehr sollen einige Grundsätze für Intervention und Prävention von Schulabsentismus im System Schule dargestellt werden, die sich auf den einzelnen Ebenen ergeben. Funktionale Strukturen im System Schule Die Ergebnisse der Studien zeigen, dass die Person der Lehrkraft sowie die Lehrer-Schüler-Beziehung einen positiven Einfluss nehmen können. Deutlich wird dies u. a. in Berichten einiger Schulverweigerer über gelungene Versuche ihrer LehrerInnen: Positiv wird es z. B. erlebt, wenn diese das Gefühl vermitteln, ihnen eine - ernst gemeinte (! ) - zweite Chance zu geben, und gleichzeitig Unterstützung anbieten: „Die Lehrer bemühen sich, dass alle mitmachen, auch die größten Störenfriede. Die geben uns z. B. auch Fragebögen vor der Klassenarbeit, damit wir besser lernen können. Hier bekommt man echt eine zweite Chance.“ Auch der persönliche Besuch eines Lehrers kann in diesem Zusammenhang als etwas Besonderes empfunden werden: „Dann stand der tatsächlich bei mir zu Hause vor der Tür und hat sich Zeit für mich genommen. Da wusste ich, der meint es ernst mit mir.“ Eine derartige positive Lehrer-Schüler-Interaktion basiert auf gegenseitiger Wertschätzung, sie erleben ihre Beziehung im Idealfall als vertrauens- und verständnisvoll (Tausch/ Tausch 1991, 118). Probleme und damit einhergehende Konsequenzen werden offen und transparent angesprochen, Problemlösungen gemeinsam ausgehandelt: „Wenn die Schüler erfahren, dass ihr Wort auch wichtig ist, dann wirkt sich das auch auf das Lernverhalten aus. Also emotionale Bindung und auch insgesamt Beteiligung an Schule“ (pädagogische Fachkraft). Eine grundlegende Maßnahme stellt hier die 178 uj 4 | 2016 Schulabsentismus systemisch betrachtet konsequente Umsetzung des von Dreikurs/ Dinkmeyer (2004) ausgearbeiteten Prinzips der „Ermutigung“ in Schule und Unterricht dar, d. h. den Jugendlichen wird gezeigt, dass sie trotz ihres problematischen Verhaltens zur Schulgemeinschaft gehören und positive Beiträge für diese liefern können. Allerdings hat dieser Einfluss der LehrerInnen auch systembedingte Grenzen: Nicht selten wird ein negatives Schulklima auf die einzelne Lehrperson übertragen, selbst wenn diese sehr bemüht ist. Dies wird vor allem dann deutlich, wenn die Ausführungen mehrerer SchülerInnen zu ein und demselben Lehrer(-verhalten) verglichen werden. So können die o. g. Verhaltensweisen auch durchaus negativ erlebt werden: „Unsere Lehrerin vereinbart immer einen Termin mit denen, die öfters Unsinn machen oder zu spät kommen. Die kommt dann sogar vorbei. (…) Wenn man aber lieber seine Ruhe haben will und keinen Bock auf Schule und Lehrer hat - das nervt dann halt nur.“ In einzelnen Fällen ist eine tragfähige Beziehung zwischen Lehrkraft und Schüler daher systembedingt nicht möglich und es besteht eine scheinbar unüberwindbare Hürde: „Ich hasse die Schule. Wir haben so doofe Lehrer. Lehrer sind grundsätzlich doof! “ In diesen Fällen sind enge Verzahnungen mit außerschulischen Angeboten erforderlich oder aber Schulsozialarbeit wichtig, die als Person ohne benotende und disziplinarische Verfügungsgewalt unbelastete Bindungen ermöglichen, die als sozialer Rückhalt für die Jugendlichen wirken: „Mit dem Schulsozialarbeiter komme ich sehr gut klar, der hilft mir in ein paar Situationen. Die Lust ist dann auch immer größer, wieder was für die Schule zu machen“. Und es braucht Geduld und Beharrlichkeit, da positive Entwicklungen ihre Zeit brauchen. Dies verdeutlicht sehr eindrücklich der von Daniel Pennac veröffentlichte Selbstbericht - ein ehemaliger Schulverweigerer, der inzwischen selbst als Lehrer tätig ist: „Die Lehrer, die mich gerettet haben - und aus mir einen Lehrer gemacht haben -, waren dafür nicht ausgebildet. Diese Lehrer haben sich nicht darum gekümmert, wann und wie es zu meinem schulischen Handicap kam. Sie verschwendeten keine Zeit damit, mir Moralpredigten zu halten. Sie waren Erwachsene und standen vor Jugendlichen, die unterzugehen drohten. Sie sagten sich, dass Not am Mann war. Und sprangen. Und kriegten mich nicht zu fassen. Und tauchten wieder nach mir, Tag für Tag, wieder und wieder. (…) Und zuletzt zogen sie mich heraus. Mich und noch viele andere. Sie haben uns buchstäblich vor dem Ertrinken gerettet. Wir verdanken ihnen unser Leben.“ (Pennac 2010, 38). Im System der Schule selbst besteht ein erster Schritt in einer grundsätzlichen Sensibilisierung der Lehrkräfte - als Grundlage für eine systematische Früherkennung. Wichtig ist, dass sich eine „Kultur des Hinschauens und Austauschens“ entwickelt. Bewährt hat sich hierfür ein zentrales und standardisiertes Erfassungssystem, damit gravierende Veränderungen im Schülerverhalten frühzeitig sichtbar werden. Im Weiteren hat sich die Implementierung eines schulinternen Verfahrenskatalogs mit einem festgelegten Handlungsplan bewährt, um einheitliche und für Jugendliche möglichst unmittelbar sichtbare Reaktionen sicherzustellen. Das Thema Schulabsentismus wird hierdurch zu einer gemeinsam geteilten Herausforderung im Gegensatz zu einer individuell verantworteten, es können Zuständigkeiten festgelegt werden sowie Routinen entwickelt werden - insbesondere auch in der Kooperation mit außerschulischen Partnern. Netzwerkarbeit als übergeordneter Faktor erfolgreicher Intervention Eines darf bei den bisher dargestellten Ansätzen nicht aus dem Blick geraten: Erfolgreiche Präventions- und Interventionsansätze zeichnen sich durch ein hohes Maß an Kooperation und Netzwerkarbeit aus. Eine systematische 179 uj 4 | 2016 Schulabsentismus systemisch betrachtet Analyse und Zusammenstellung zentraler Faktoren kann auch hier vor dem Hintergrund der einzelnen Merkmale sozialer Systeme vorgenommen werden: Auf Ebene der Personen behindern wechselnde Zuständigkeiten und Personalfluktuation (z. B. aufgrund zeitlich befristeter Beschäftigungsverhältnisse) den Aufbau tragfähiger Bindungen und persönlicher Kontakte. Die Etablierung eines „direkten Drahts“ und „kurzer Dienstwege“ in akuten Problemsituationen wird dadurch erheblich erschwert - ein Aspekt, der jedoch wichtig ist, um schnelle und für die Jugendlichen unmittelbar erfahrbare Interventionen einleiten zu können. Nicht selten gehen Jugendliche genau aus diesen Gründen zwischen den Hilfesystemen „verloren“, was folgender gemeinsamer Bericht einer Mutter und Tochter über den Beratungsprozess am Jugendamt verdeutlicht: „Sehr schwierig war es, als Frau xy weg war. Da ging nichts mehr. Die Nachfolgerin wurde von meiner Tochter abgelehnt: ,Mit der will ich nicht. Ich will Frau xy wieder haben. Warum ist die weg? ‘ Aus meiner Erfahrung ist es ganz, ganz wichtig, dass jemand da ist, der zu dem Jugendlichen eine Basis aufbaut. Das wird natürlich durch häufigen Wechsel und ständige Umstrukturierungen absolut gestört. Man macht dann einen Schritt nach vorne und zwei nach hinten.“ Eine besondere Herausforderung in der Netzwerkarbeit stellt das Zusammentreffen unterschiedlicher Professionen dar, über dessen Vorgehensweisen, Kompetenzen, Rollen und Zuständigkeiten im Hilfeprozess zumeist sehr festgefahrene, verallgemeinernde subjektive Deutungen vorherrschen. Eine gegenseitige Anerkennung und Wertschätzung ist vor allem dann erforderlich, wenn es um mehr gehen soll als den Austausch von Informationen und Ko- Aktivitäten, die nebeneinander und mit möglichst wenigen Überschneidungen stattfinden. Anzustreben sind demgegenüber Formen der Kollaboration und Ko-Konstruktion, indem unter Einbezug der spezifischen Wissens- und Kompetenzbestände grundlegende Übereinstimmungen in Zielen, Werten und pädagogischen Handlungen realisiert werden. Dass diese Überbrückung der z. T. sehr unterschiedlichen Systemlogiken und der damit verbundenen Vorstellungen über sinnvolles Handeln auf Ebene der subjektiven Deutungen durchaus Konflikte in sich birgt, lässt sich an den unterschiedlichen Verständnissen zur Bedeutung von „Druck“ verdeutlichen. Dies stellte in unseren Interviews eine zentrale Kategorie bei der Beantwortung der Frage dar, woran gute Arbeit im Beratungsprozess mit Jugendlichen festgemacht wird. Alle befragten Fachkräfte gingen von sich aus auf dieses Thema ein, allerdings mit sehr unterschiedlichen Zielansprüchen. Während sich beispielsweise Mitarbeitende von freien Trägern der Jugendsozialarbeit in unseren Interviews zumeist als „Anwalt des Jugendlichen“ verstehen, den Fokus konsequent auf dessen Bedürfnisse legen und insgesamt nach flexiblen Lösungen suchen, die Druck herausnehmen, fordern Lehrkräfte und Vertreter des Schulamtes häufig die konsequentere Umsetzung und Vermittlung von „spürbaren Konsequenzen“: „Es muss ganz klar sein, dass dann auch reagiert wird. (…) Wer bei rot über die Ampel fährt, weiß auch, dass die Stunde geschlagen hat. Genauso muss es bei Schulpflichtverletzung sein. (…) Bei aller Beratung, bei allem Verständnis, es muss auch klar sein, dass es Konsequenzen gibt. Und das ist ein Punkt, da würde ich mir manchmal mehr Druck wünschen.“ Wichtig ist hier ein moderierter Austausch über grundlegende Ansichten zur Erarbeitung einer gemeinsamen Basis. Hierbei bedarf es einer systematischen Klärung folgender Aspekte: ➤ inhaltlich-sachbezogenes Verständnis von Schulabsentismus: sozialpädagogische, schulpädagogische, psychologische, ordnungspolitische Perspektive 180 uj 4 | 2016 Schulabsentismus systemisch betrachtet ➤ Beziehungsaspekt: Wie werden die anderen Personen bzw. Professionen und die damit verbundenen Perspektiven bewertet? ➤ damit verbundene zumeist implizite Appelle: Welche Forderungen und Ansprüche werden an die anderen gestellt? ➤ dahinter stehende Selbstoffenbarungen: Wie sehen die einzelnen Personen sich selbst? Welche Ziele, Motivationen, Ansprüche haben sie? Wie und wo werden die eigenen Kompetenzen und Zuständigkeiten gesehen? Ziel eines solchen Prozesses muss nicht die völlige Übereinstimmung der subjektiven Deutungen sein. Vielmehr geht es darum, insbesondere an den Randbereichen, in denen keine Übereinstimmungen zu erzielen sind, auf Ebene der Regeln eindeutige Vereinbarungen über Zuständigkeiten und „Übergaben“ zu treffen, die eine Anschlussfähigkeit an die jeweilige Systemlogik ermöglichen. Wichtig sind in diesem Zusammenhang auf Ebene der Regelkreise kurze Feedbackschleifen. Nicht nur die Jugendlichen benötigen unmittelbar sichtbare Reaktionen, ebenso ist ein möglichst hohes Maß an Transparenz über laufende Prozesse und Aktivitäten für die Netzwerkakteure ein zentraler Erfolgsfaktor: „Es gibt Mitarbeitende, mit denen arbeite ich relativ zügig zusammen per Mailkontakt. Es gibt aber auch die Fälle, wo ich oft auf den Anrufbeantworter sprechen musste, wo ich nach einem halben Jahr keine Rückmeldung bekommen habe, wo ich nicht wusste, wie der Stand der Dinge ist.“ Schließlich zeichnen sich funktionale Netzwerke durch eine gemeinsame Geschichte, einen gemeinsamen Entwicklungsprozess aus, in dem es gelungen ist, sich als eigenes (Netzwerk)System zu etablieren - mit stabilen Bindungen zwischen einzelnen Personen, gemeinsamen Deutungen, Regeln und Interaktionsstrukturen, gemeinsamen Erfolgen und Misserfolgen. „Runde Tische“, „Task Forces“ und Arbeitsgruppen sowie die Realisierung von „Events“ in Form von Fachtagen, Kommunalen Zukunftskonferenzen o. Ä. können Anlässe schaffen, gemeinsame Entwicklungsprozesse zu initiieren und emotional erfahrbar werden zu lassen - dies verdeutlicht die folgende Aussage eines Mitarbeiters eines Kreisjugendrings bezogen auf eine Fachtagung: „Ich weiß noch, wie wir zu Beginn des Projektes ,Die 2. Chance‘ erstmals alle an einen Tisch geholt haben, die mehr oder weniger mit diesem Thema zu tun haben. Und nun sitzen wir alle zusammen auf dem Podium, vor über 250 Teilnehmern an unserem Fachtag im Bürgerhaus Backnang. Wenn das keine Erfolgsgeschichte ist.“ Netzwerkprozesse sind allerdings nicht vollends technisch steuerbar. Aus systemtheoretischer Perspektive ist zu beachten, dass es sich bei den Netzwerkakteuren immer auch um autopoietische, operational geschlossene Systeme handelt: Sie agieren grundsätzlich selbstreferenziell und sind ihrer Umgebung gegenüber autonom. Nicht selten, insbesondere in Phasen der Destabilisierung (z. B. bei personellen Wechseln in der Führung, Veränderungen in der inhaltlichen Ausrichtung, unklaren Finanzsituationen etc.) schließen sich häufig die vormals sehr durchlässigen Systemgrenzen - das System fokussiert sich auf seinen „Kern“. In solchen Fällen kann es passieren, dass vormals gewinnbringende Kooperationen nun als Konkurrenz und Bedrohung gedeutet werden, im Vordergrund steht die Erhaltung und Positionierung des eigenen Systems. Umso wichtiger ist auf Ebene der Systemumwelt ein professionelles, möglichst neutrales Netzwerkmanagement, welches in einem zirkulären Diagnose- und Interventionsprozess derartige Entwicklungen frühzeitig wahrnimmt und durch die Schaffung sog. struktureller Kopplungen, wie sie beispielsweise durch o. g. Veranstaltungen erfolgen können, gegensteuert. Das Programm „JUGEND STÄRKEN im Quartier“, das als förderpolitischer Einstieg in diesen Beitrag gewählt wurde, bietet genau hierfür Potenzial - und für die Kinder- und Jugendhilfe die 181 uj 4 | 2016 Schulabsentismus systemisch betrachtet Möglichkeit, sich als „Netzwerkmanager“ zu profilieren. Allerdings nur, wenn es in der konkreten Umsetzung vor Ort gelingt, die individuelle Arbeit mit den Jugendlichen mit der Arbeit an institutionellen Strukturen sowie der Steuerung von Netzwerken zu verzahnen - und dieses nachhaltig, d. h. unabhängig von zeitlich befristeten Fördergeldern, in der kommunalen Struktur zu verstetigen. Dr. Thorsten Bührmann Katharina Boehmer Universität Paderborn Warburger Str. 100 33098 Paderborn Tel. 05251/ 602918 thorsten.buehrmann@upb.de kboehmer@mail.upb.de Literatur BMFSFJ (2014): Förderrichtlinie Modellprogramm„JU- GEND STÄRKEN im Quartier“. ESF Förderperiode 2014 bis 2020. Förderphase 1. Januar 2015 bis 31. Dezember 2018. https: / / www.jugend-staerken.de/ filead min/ inhalt_dokumente/ Foerderrichtlinie_barriere frei_07.07.14.pdf Bührmann, T. (2014): Schulverweigerung - Eine Bilanz zum Ende des Programms„Die 2. Chance“. DREIZEHN - Zeitschrift für Jugendsozialarbeit, 11, 52 - 54 Bührmann, T. (2009): Erfolgreicher Umgang mit schulmüden Jugendlichen und Schulverweigerern. IN VIA, Paderborn/ Freiburg Bührmann, T., Boehmer, K., de Boer, B. (2013): Evaluation der Jugendberatungsstelle Schuldistanz 13plus in Berlin-Neukölln. Unveröffent. Abschlussbericht. Berlin Dreikurs, R., Drinkmeyer, D. (2004): Ermutigung als Lernhilfe. Klett-Cotta, Stuttgart König, E., Volmer, G. (Hrsg.) (2005): Systemisch denken und handeln - Personale Systemtheorie in Erwachsenenbildung und Organisationsberatung. Beltz, Weinheim/ Basel Pennac, D. (2010): Schulkummer. KiWi, Köln Ricking, H., Schulze, C. (Hrsg.) (2012): Schulabbruch - ohne Ticket in die Zukunft? Klinkhardt, Bad Heilbrunn Sälzer, C. (2010): Schule und Absentismus. Individuelle und schulische Faktoren für jugendliches Schwänzverhalten. VS, Wiesbaden Stamm, M., Ruckdäschel, Ch., Templer, F., Niederhauser, M. (2009): Schulabsentismus. Ein Phänomen, seine Bedingungen und Folgen. VS, Wiesbaden Tausch, R., Tausch, A.-M. (1991): Erziehungspsychologie. Begegnung von Person zu Person. Hogrefe, Göttingen