unsere jugend
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Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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Die Integration von Kindern aus Flüchtlingsfamilien
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Yvonne Bakenecker
„Bei uns ist Platz für jedes Kind.“ Ein Satz, der bei der Gelsenkirchener Kindertagesbetreuung (GeKita) in Zeiten von Flucht und Zuwanderung eine hohe Bedeutung bekommt.
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371 unsere jugend, 68. Jg., S. 371 - 379 (2016) DOI 10.2378/ uj2016.art51d © Ernst Reinhardt Verlag München Basel von Yvonne Bakenecker Jg. 1984; Dipl. Sozialpädagogin/ Dipl. Sozialarbeiterin, Fachberatung bei GeKita mit dem Schwerpunkt EU-Ost Zuwanderung und Flüchtlinge Die Integration von Kindern aus Flüchtlingsfamilien Die Gelsenkirchener Kindertagesbetreuung (GeKita) „Bei uns ist Platz für jedes Kind.“ Ein Satz, der bei der Gelsenkirchener Kindertagesbetreuung (GeKita) in Zeiten von Flucht und Zuwanderung eine hohe Bedeutung bekommt. In Gelsenkirchen leben über 6.000 Zuwanderer aus EU-Ost und über 4.000 Flüchtlinge. Davon 1561 Kinder im Alter von 0 - 6 Jahren. Für eine Kommune wie Gelsenkirchen, die Zuwanderung seit Jahrzehnten lebt, trotz allem eine große Herausforderung. Um auf diese Herausforderung eingehen zu können, mussten neue Konzepte geschaffen werden, die den Bedürfnissen der neu zugewanderten Familien entsprechen. Lebenssituationen von geflüchteten Kindern Familien, die vor Krieg, Verfolgung und Gewalt flüchten, haben häufig eine lange Odyssee hinter sich, bis sie ihr Ziel von einem Leben in Sicherheit erreicht haben. Die Erwartungen an diese Familien sind von allen Seiten groß. Ziele einer gelungenen Integration werden durch Politik und soziales Umfeld verfasst. Der Mensch, vor allem die Kinder und der Faktor Zeit werden dabei häufig vergessen. Kinder, die eine Fluchtgeschichte hinter sich haben, mussten lernen in der ersten und häufig prägendsten Phase ihres Lebens auf vieles zu verzichten. Der größte Verzicht dabei ist die Befriedigung ihrer kindlichen Bedürfnisse. Keine Familie verlässt ihre Heimat ohne Grund In den Herkunftsländern der Familien herrscht Krieg, tyrannische Herrschaften verbreiten Angst. Der Tod ist allzeit präsent. Ein Leben mit demokratischen Rechten und Wertevorstellungen ist nicht mehr möglich. Stattdessen herrschen Gewalt und Unterdrückung. Berichte von geflüchteten Familien ähneln sich stark. Eltern erklären, dass sie lange Zeit darüber nachgedacht haben, ob sie ihren Kindern den langen und schwierigen Weg der Flucht zumuten können. Die Gründe, warum sie sich häufig dafür entscheiden, scheinen für Menschen, die in Deutschland leben selbstverständlich: die Hoffnung auf ein Leben in Sicherheit für die Familie, vor allem für die Kinder. 372 uj 9 | 2016 Die Integration von Kindern aus Flüchtlingsfamilien Diese Hoffnung ist es auch, die die Familien und die Kinder die Flucht überstehen lässt. Kinder und Eltern berichten von tagelangen Märschen bei Nacht, von Kälte, Hunger, Gewalt und dem Tod. Kinder sehen also Dinge, vor denen sie beschützt werden sollten, die sie nicht erleben sollten. Eltern machen sich nach diesen Erlebnissen Vorwürfe, ob es die richtige Entscheidung gewesen ist, ob sie ihren Kindern mit dem Erlebten mehr geschadet haben als geholfen, ob ihre Kinder nun ein Leben lang traumatisiert sind. Die Zukunft wird zeigen, wie sich die Kinder langfristig entwickeln. Die Praxis zeigt momentan, dass die Eltern häufig traumatisiert sind, die Kinder aber aufgrund ihrer eigenen Resilienz den Start in ein neues Leben gut meistern können. Eine große Rolle spielt dabei aber die Zeit. Nach einem langen Weg kommen die Familien also an der deutschen Grenze an. Für sie beginnt nun ein neues Leben mit hohen Erwartungen von beiden Seiten. Zumeist bringen Busse sie in Erstaufnahmeeinrichtungen, sogenannte Notunterkünfte in Turnhallen oder Schulen. Diese Unterkünfte sind aufgrund der hohen Anzahl an geflüchteten Menschen notwendig, gleichzeitig aber auch aus Sicht der Familien defizitär. Viele unterschiedliche Kulturen, Religionen und Charaktere treffen aufeinander, leben auf engstem Raum ohne Privatsphäre zusammen. Wo es aber unter den Erwachsenen häufig zu Konflikten kommt, sieht man überall spielende, lachende Kinder. Sie schaffen es häufig schneller, sich auf die neuen Bedingungen einzustellen, als ihre Eltern. Pädagogischer Ansatz der Gelsenkirchener Kindertagesbetreuung In Gelsenkirchen gibt es 66 städtische Tageseinrichtungen und Familienzentren für Kinder. Insgesamt werden über 5.000 Kinder von pädagogischen und therapeutischen Fachkräften betreut und gebildet. Die Betreuung umfasst dabei gemäß dem Auftrag nach dem Kinderbildungsgesetz die Bereiche Bildung, Erziehung und Betreuung. Die Ausgestaltung dieser Bereiche ist mannigfaltig und orientiert sich an den Bedarfen der Eltern. Neben erweiterten Öffnungszeiten, gesunder Verpflegung, auch über Mittag, oder Beratungs- und Freizeitangeboten stehen immer das Wohl des Kindes und dessen möglichst optimale Förderung im Zentrum des pädagogischen Handelns. Die Tageseinrichtungen von GeKita sind konfessionell und weltanschaulich nicht gebunden und stehen allen Kindern, unabhängig von Kultur und Religion, offen. Den Fachkräften steht ein umfangreiches Qualifizierungs- und Fortbildungsangebot zur Verfügung, sodass die Qualität der Arbeit einem ständigen Anpassungsprozess unterliegt und somit auf höchstem Niveau gesichert wird. Für GeKita ist eine Zusammenarbeit mit Eltern von großer Bedeutung und Wichtigkeit. Ebenso wird vertrauensvoll mit anderen Institutionen, wie Grundschulen, Frühförderstellen etc. zusammengearbeitet. Niederschwellige und flexible Angebote notwendig Der reguläre Besuch einer Tageseinrichtung für Kinder ist vertraglich fest geregelt, Kontinuität spielt dabei eine große Rolle. Die aus EU-Ost eingewanderten oder geflüchteten Familien sind häufig mit diesen Strukturen nicht vertraut. In ihren Herkunftsländern gibt es keine vergleichbaren Strukturen. Einer der Gründe, warum die Schaffung von niederschwelligen und flexiblen Angeboten notwendig war. Die frühe Kontaktaufnahme und Begleitung der Eltern ist für einen erfolgreichen Start im neuen Lebensumfeld besonders wichtig. Um die Mütter und Väter aus EU-Ost zugewanderten und geflüchteten Familien zu erreichen, musste daher ein Umdenken stattfinden und 373 uj 9 | 2016 Die Integration von Kindern aus Flüchtlingsfamilien mussten neue Konzepte entwickelt werden. Leitprinzip war die Pflege einer Willkommenskultur, die einerseits Integration ermöglicht und andererseits den sozialen Frieden wahrt. Diese Angebote mussten so ansprechend gestaltet werden, dass Eltern sie gerne mit ihren Kindern nutzen möchten. Alle Angebote vermitteln ein „Herzlich Willkommen“. Mütter und Väter sollen sich nicht allein fühlen, sondern als Teil einer Gruppe erleben. Im Rahmen der Angebote können sie positive Selbstbilder erarbeiten. Eine Situationsanalyse ist im interkulturellen Kontext erforderlich, denn diese Eltern sind keine homogene Gruppe. Die Kinder wachsen mit unterschiedlichen herkunfts- und familienkulturellen Standards auf. Frühzeitige Angebote im Gesundheits- und Bewegungsbereich sind notwendig, die unterschiedlichen Essenskulturen müssen gefördert und berücksichtigt werden. Herausforderungen für die Arbeit in der Kita mit geflüchteten Kindern In den vergangenen Monaten war das Thema „Flucht und deren Folgen“ in den Medien und der Öffentlichkeit beherrschend. Leider werden häufig pauschalisierende Schlüsse gezogen, Ängste geschürt und Vorurteile gestärkt. Immer wieder ist von stark traumatisierten Kindern die Rede. Die Menschen haben Bilder von weinenden Kindern in den Köpfen, die in der Ecke sitzen und ihre Umwelt kaum noch wahrnehmen. Es werden zahlreiche, teure Fortbildungen zu diesem Thema angeboten, der Markt dafür boomt. Doch wie ist es in der Realität? Flüchtlingskinder sind in erster Linie Kinder! Häufig bekomme ich die Frage gestellt, was die Herausforderung für die Arbeit in der Kita mit geflüchteten Kindern sei. Fakt ist, dass die hohe Anzahl an Kindern eine Herausforderung darstellt, da die Platzkapazitäten in den Einrichtungen begrenzt sind. Hinzu kommt, dass die Familien zunächst der deutschen Sprache nicht mächtig sind. Eine Stadt wie Gelsenkirchen lebt jedoch seit Jahren von Zuwanderung. Es ist für das pädagogische Personal in den Tageseinrichtungen zunächst eine gewohnte Situation ihres Berufsalltags, mit Kindern und Eltern zusammenzuarbeiten, die der deutschen Sprache nicht mächtig sind und eine alternative Kommunikation geschaffen werden muss. Menschen aus Kommunen, in denen Zuwanderung etwas völlig Neues ist, beantworte ich die Frage immer gleich. In erster Linie sind es Kinder! Geflüchtete Kinder haben dieselben Bedürfnisse wie jedes andere Kind auch. Dieses sollte die Grundeinstellung bei der Arbeit mit dieser Zielgruppe sein. In einer Kita bringt jedes Kind seinen eigenen „Rucksack“, vollgepackt mit der eigenen Sozialisationsgeschichte, einem eigenen Charakter und Bedürfnissen mit. Das Motto von GeKita„Bei uns ist Platz für jedes Kind“ wird in den Tageseinrichtungen und Projekten umgesetzt, es werden keinerlei Unterschiede gemacht, jedem Kind und deren Familie wird mit Wertschätzung begegnet. Wenn geflüchtete Eltern und ihre Kinder den Weg in eine Tageseinrichtung für Kinder oder in ein niederschwelliges Angebot finden, haben sie einen langen Weg als „Flüchtling“ hinter sich. Sie werden an der Grenze als „Flüchtling“ empfangen, sie leben als „Flüchtling“ in einer Unterkunft und werden in ihrem Umfeld als „Flüchtling“ wahrgenommen. Bei den Angeboten von GeKita sollen sie das Gefühl bekommen, den „Mantel des Flüchtlings“ vor den Einrichtungen ablegen zu können. Sie werden wieder als Mütter, Väter und Kinder wahrgenommen. Wichtig ist, dass den Kindern zunächst die Möglichkeit und die Zeit gegeben wird anzukommen und wieder „Kind sein zu dürfen“. Es muss 374 uj 9 | 2016 Die Integration von Kindern aus Flüchtlingsfamilien berücksichtigt werden, dass die Kinder in der frühen Vergangenheit auf vieles verzichten und vieles erleben mussten. Jedes Kind reagiert darauf anders. Sollte einem/ r Erzieher/ in in der langfristigen Zusammenarbeit mit einem Kind auffallen, dass es nicht schafft, das Erlebte zu verarbeiten, müssen zuständige Fachkräfte, wie Kinderpsychologen, Beratungsstellen etc., nach Rücksprache mit den Eltern hinzugezogen werden. Eine eventuelle posttraumatische Belastungsstörung zu diagnostizieren oder zu behandeln, ist nicht Aufgabe von einem/ r Erzieher/ in. Ansätze und Angebote für und mit geflüchteten Kindern in der Kita Sprache ist Schlüsselkompetenz Die Fähigkeit mit seiner Umwelt kommunizieren zu können, ist für die emotionale, soziale und kognitive Entwicklung eines Menschen unerlässlich. Sprache ist als Schlüsselkompetenz anzusehen. Insbesondere für geflüchtete Kinder und zugewanderte Kinder aus EU-Ost ist eine kontinuierliche und konsequente Sprachförderung unumgänglich. Zusammenarbeit mit Eltern Zur ersten (Ein)-Bindung der Mütter und Väter aus Flüchtlingsländern und EU-Ost ins deutsche Bildungssystem sind zunächst niederschwellige und flexible Angebotsformen erforderlich. Diese Formen müssen für die Elternschaft derart „attraktiv“ gestaltet sein, dass sie diese gerne mit ihren Kindern kennenlernen und nutzen möchten. Die frühzeitige Kontaktaufnahme und Begleitung der Eltern ist für einen erfolgreichen Start in ihrem neuen Lebensumfeld von besonderer Bedeutung. Erfahrungsgemäß richten sich die Angebote vorrangig an die Mütter mit ihren Kindern. Angebote für Väter bzw. für die Familie sind ebenfalls mitkonzipiert. Die Angebote von GeKita zeichnen sich durch die Merkmale „niederschwellig“ und „Förderung des Selbstwertes der Mütter“ aus. Mütter erfahren sich als kompetent für ihr Kind. Alle Angebote zielen darauf ab, dass sie (kurz- und langfristig) das deutsche Bildungssystem, Werte und Normen in Deutschland kennenlernen und daraus für sich und ihr Kind bzw. die ganze Familie ihre Lebenswelt in der neuen Stadt gestalten. Dann gehört der regelmäßige Kindergartenbesuch für sie ebenfalls dazu. Angebote in direkter Nähe des Wohnumfelds Die Angebote müssen die Familien in direkter Nähe ihres Wohnumfelds erreichen können. Kurze Zugangswege stellen eine wichtige Gelingungsbedingung dar. Unbürokratische, niederschwellige Angebote sind für die Eltern unkompliziert erreichbar. Brückenprojekt: Mobile Kita Gelsenkirchen Der Zuzug von Zuwanderern aus Osteuropa und von Flüchtlingsfamilien stellte auch für eine Stadt wie Gelsenkirchen eine große Herausforderung dar. Im Jahr 2013 wurde daher das Rahmenkonzept zur Integration von Kindern und Jugendlichen aus Rumänien erarbeitet. Die Entwicklung zeigte zuvor, dass eine hohe Anzahl von Familien aus EU-Ost nach Gelsenkirchen zuwandern wird. Um diese in die Stadtgesellschaft zu integrieren wurde das Handlungskonzept „Zuwanderung im Rahmen der EU-Osterweiterung: Bulgarien und Rumänien“ erarbeitet. Dabei arbeiten die verschiedensten Bereiche, wie Fachabteilungen der Stadtverwaltung, Wohlfahrtsverbände, Ordnungsdienste eng vernetzt zusammen. 2015 wurde das Konzept auf die Arbeit mit Flüchtlingsfamilien übertragen. 375 uj 9 | 2016 Die Integration von Kindern aus Flüchtlingsfamilien Es wurde zu Beginn nach einem Konzept gesucht, wie die Familien und vor allem die Kinder möglichst schnell erreicht werden können. Denn eines ist sicher: die beabsichtigte Integration in die Stadtgesellschaft funktioniert am besten durch Bildung. Um die Familien von Beginn an mit dem deutschen Bildungssystem vertraut zu machen, entstand die Idee der Mobilen Kita. Ein spezielles Konzept der Kinder- und Familienbegleitung, mit besonderer Flexibilität, kurzen Wegen und Elterneinbindung. Die MoKi führt die Kinder langfristig an den Besuch einer Regeleinrichtung „Kita“ heran, sie ersetzt sie nicht! Ziel ist es, dass die Kinder langfristig eine Kindertageseinrichtung besuchen. Finanziert wird die MoKi über Fördermittel des Landes NRW im Rahmen der EU-Ost-Zuwanderung und durch Landesfördermittel zur Betreuung von Kindern in besonderen Fällen, so genannte Brückenprojekte. Die Finanzierung ist noch bis Ende 2016 gesichert. Das Konzept Mobile Kita MoKi ist die Abkürzung für Mobile Kita: Ein Wohnwagen und ein Wohnmobil mit Basis- Kita-Ausstattung stehen von montags bis freitags zwischen 9 und 16 Uhr in der Nachbarschaft von Flüchtlingen und Zuwandererfamilien aus Rumänien und Bulgarien. Die Familien erhalten Bildung direkt vor der Haustür. Sie müssen nicht sofort nach Ankunft in eine fremde, für sie unbekannte Einrichtung, sondern können zunächst ohne Verpflichtungen mit ihren Kindern erste Angebote kennenlernen. Die Teilnahme ist kostenlos, willkommen sind Kinder jeder Nationalität. Es gibt keine festen Hol- und Bringzeiten, es werden keine Betreuungsverträge zwischen GeKita und den Eltern geschlossen. Standorte Die MoKi ist zurzeit an fünf Standorten in Gelsenkirchen vertreten. Die Standorte konzentrieren sich auf den Süden der Stadt, da sich dort ein Großteil der Zielgruppen ansiedelt. Pro Tag werden zwei Standorte parallel bedient. Zudem gibt es einen festen Standort in einem ehemaligen Ladenlokal, der werktags ebenfalls täglich geöffnet ist. Die Standorte sollen aufgrund des Bedarfs weiter ausgebaut werden. Die Außenstandorte werden, wenn möglich, so gewählt, dass sie direkt an einem Spielplatz liegen, sodass dieser in der täglichen Arbeit genutzt werden kann. Angebote der MoKi Die MoKi bietet niederschwellige, offene Angebote für Kinder bis zum 6. Lebensjahr an. Es werden attraktive Spiel- und Lernangebote gemacht. Die Eltern werden durch die Kinder eingebunden, eine Stärkung der Elternkompetenzen wird erreicht. Die unterschiedlichen herkunfts- und familienkulturellen Standards finden Berücksichtigung und werden wertgeschätzt. Es findet eine regelmäßige Sprachförderung mit dem Lernkonzept „Hokus und Lotus“ statt. Die Kinder lernen dabei durch Gestik und Mimik auf einer Phantasiereise erste deutsche Wörter. In dem Sprachkurs „Mama lernt Deutsch in der Kita“ lernen auch die Mütter einfache, alltagsorientierte deutsche Sätze, während die Kinder durch Fachkräfte der MoKi betreut werden. Auch die Gesundheitsförderung ist ein wichtiger Bestandteil des Konzepts. Das Gesundheitsamt bietet in regelmäßigen Abständen eine kostenlose Impfsprechstunde an, zu denen die Eltern durch das Personal der MoKi begleitet werden. 376 uj 9 | 2016 Die Integration von Kindern aus Flüchtlingsfamilien Spielgruppen In den Stadtteilen, in denen die MoKi präsent ist, sind parallel Spielgruppen in den umliegenden städtischen Kindertageseinrichtungen eingerichtet worden, die nachmittags außerhalb der regulären Öffnungszeiten der Einrichtungen stattfinden. Die Spielgruppen sind ein wichtiges Bindeglied zwischen MoKi und Regeleinrichtung Kita. Die Spielgruppen finden in Begleitung der Eltern, zumeist Müttern statt. Sie lernen erstmals gemeinsam eine Kita von innen kennen und können sich mit der Umgebung vertraut machen. Das erleichtert vor allem den Eltern im weiteren Verlauf, ihre Kinder in die Obhut einer staatlichen Institution zu geben. Sie haben bereits einen persönlichen Eindruck davon, wo sich ihre Kinder aufhalten werden, und das erste Vertrauen ist aufgebaut. Auch der Eingewöhnungsprozess der Kinder wird dadurch erleichtert. Resonanz und Zahlen Die Moki wurde durch die Familien und Kinder von Beginn an sehr gut angenommen. Im April 2014 war der erste Einsatz. Der bunt beklebte Wohnwagen fuhr zu seinem Standort und wurde direkt von den Familien wahrgenommen. Die Neugierde war groß, Werbung war nicht nötig. Am ersten Tag kamen bereits 20 Kinder, am zweiten 40 und am dritten 60. Da es ein Ferientag war, kamen auch die älteren Geschwister dazu. Der Zulauf war überwältigend. Mittlerweile wird die MoKi durchschnittlich von 25 Kindern pro Standort besucht. Eine Kontinuität der Besucher ist gegeben. Seit April 2014 wurde die MoKi rund 7.700 Mal besucht. Die Spielgruppen wurden über 300 mal aufgesucht (Stand 31. 1. 2016). Viele der Kinder konnten bereits in Kindertageseinrichtungen aufgenommen werden. Die Rückmeldungen aus den Einrichtungen sind, dass es die Kinder leichter haben, sich im Kitaalltag zurechtzufinden. Häufig können sie bereits einige Worte Deutsch, kennen den strukturierten Tagesablauf einer Kita. Die Eltern kennen die Rahmenbedingungen und können sich gut auf die Zusammenarbeit einlassen. Team der MoKi Das Konzept der MoKi ist ein großer Erfolg, dieses ist an den stetig steigenden Teilnehmerzahlen und dem wachsenden großen Vertrauen der Eltern abzulesen. Die Umsetzung des Konzepts ist nur mit umfassend qualifizierten Fachkräften möglich. Die Fachkräfte brauchen ein besonderes Profil, eine besondere Belastungsfähigkeit, da sie neben der alltäglichen Arbeit auch häufig mit den Lebens- und Fluchtgeschichten der Familien konfrontiert werden. Eine gesunde Distanz ist unumgänglich und notwendig. Zudem muss sich das Personal abgrenzen können, wissen, wann und wie sie die Familien an andere Beratungsstellen anbinden. Das MoKi-Team ist multikulturell und arbeitet multiprofessionell. In der alltäglichen Arbeit spielen häufig soziale Aspekte eine große Rolle, daher ist die Stelle des Koordinators mit einem Sozialpädagogen besetzt. Zum Team gehören zudem eine Erzieherin, die in Rumänien geboren und aufgewachsen ist, eine Erzieherin, die im Iran gelebt hat, ein Erzieher, der Erfahrung in der mobilen Jugendarbeit gesammelt hat, eine Erzieherin mit türkischem Migrationshintergrund, eine Kinderpflegerin, die aus Syrien stammt, und eine Kinderpflegerin, welche vor einigen Jahren selbst aus Afrika nach Deutschland eingewandert ist. Außerdem wurden mit Unterstützung des Integrationscenters für Arbeit zwei Fahrer eingestellt, die sich um das Steuern der Gespanne und den Aufbau vor Ort kümmern. Die Mitarbeiter der MoKi sprechen insgesamt elf Sprachen. Sie schaffen neben der Übersetzungsarbeit auch eine Brücke zwischen den Kulturen und dienen als Vorbilder für eine gelungene Integration. 377 uj 9 | 2016 Die Integration von Kindern aus Flüchtlingsfamilien Des Weiteren wird das Team durch mehrere Ehrenamtler unterstützt. Durch die Bewilligung des Landes NRW zur Kinderbetreuung in besonderen Fällen konnte das Personal aufgestockt werden. Zu Projektbeginn bestand das Team aus zwei Fachkräften und einem Fahrer. Erfolge, Herausforderungen und Grenzen der Ansätze und Angebote Zu Beginn des Projektes gab es einige Zweifler, die an den Erfolg der Maßnahme nicht glaubten. Vorurteile, dass das Konzept zu niederschwellig und die Zielgruppe kaum erreichbar sei, waren zu widerlegen. Heute ist die hohe Teilnehmerzahl und gute Überleitung in das Regelsystem der Beweis, dass diese Niederschwelligkeit der Schlüssel zum Erfolg ist. Brückenprojekte als Lückenfüller? Kritiker der Brückenprojekte sagen, dass sie nur geschaffen werden, um den Ausbau von Kitaplätzen zu vermeiden und Geld einzusparen. Das Geld solle lieber für den Kitaausbau verwendet werden. Es ist richtig, dass viel zu wenige Kitaplätze vorhanden sind, Regelstrukturen ausgebaut werden müssen. Gelsenkirchen war vor einigen Jahren noch eine schrumpfende Stadt, die Bevölkerung ging zurück. Niemand dachte an den Ausbau von Kita- oder Schulplätzen, da niemand ahnen konnte, dass sich die Bevölkerungsstruktur in diesem Maße verändern wird. Kitaneubauten sind somit unumgänglich und auch notwendig. Doch der Neubau einer Kita von der Planung bis zur Eröffnung kann Jahre dauern. Die Kinder sind aber bereits jetzt da, sie benötigen bereits jetzt eine Förderung, um eine gute, lückenlose Bildungsbiografie zu erhalten. Würde es die Brückenprojekte nicht geben, würde eine Vielzahl der Kinder ohne Deutschkenntnisse und Erfahrung mit einer deutschen Bildungsinstitution eingeschult werden. Die Folgen sind absehbar. Den wichtigsten Faktor aber, den Kritiker der Brückenprojekte immer wieder vergessen, sind die Familien und Kinder selbst. Diese kennen bei ihrer Ankunft das deutsche Bildungssystem noch nicht, ihre Heimatländer haben andere Strukturen, eine Überforderung durch Regelinstitutionen kann erfolgen. Eine erfolgreiche Integration und ein guter Start in einer neuen Lebenswelt brauchen Zeit, Verständnis und Kultursensibilität. Es werden speziell an die Zielgruppe orientierte Angebote benötigt. Dieses können Brückenprojekte bieten. Fachkräfte in Regeltageseinrichtungen haben laut KiBiz eng vorgegebene Strukturen, die sie umsetzen müssen. In Brückenprojekten ist mehr Zeit vorhanden, um intensiver mit den Eltern zusammenzuarbeiten. Diese Zusammenarbeit wird danach in den Regeleinrichtungen gefestigt und noch weiter ausgebaut, aber in einer vorgegebenen Struktur, die die geflüchteten Eltern zunächst abschrecken könnte. Zudem müssen sie zunächst verstehen, warum sie ihre Kinder mehrere Stunden am Tag zu fremden Menschen geben sollen, die sie nicht kennen, ihre Sprache nicht sprechen und hohe Erwartungen an sie haben. Das Leben in einem neuen Land ist bereits eine Herausforderung, die deutsche Bürokratie vereinfacht das Ganze nicht. Unser alltägliches Leben ist durch Strukturen geprägt und es gibt Vorgaben, an die sich ein Bürger zu halten hat, um nicht negativ aufzufallen. Die geflüchteten Familien und Familien aus EU-Ost kennen diese Vorgaben jedoch nicht, alles ist neu für sie. Ein praktisches Beispiel zur Verdeutlichung: In Deutschland gibt es die umweltfreundliche Mülltrennung. Es ist selbstverständlich, dass Plastikmüll zum Recyceln getrennt vom Restmüll in die gelbe Tonne geworfen wird und die Bewohner eines Hauses in jeder un/ geraden Woche des Monats die Tonne an die Straße zur Abholung stellen. Dieses System verlangt Organisation, vor allem aber das Wissen über diesen Ablauf. Die zugewanderten Fami- 378 uj 9 | 2016 Die Integration von Kindern aus Flüchtlingsfamilien lien wissen dieses aber nicht, sind also zunächst ein Störfaktor in der Hausgemeinschaft, wenn sie gegen die Hausordnung verstoßen. Um diesem vorzubeugen werden in der MoKi genau solche grundlegende und alltägliche Dinge mit den Eltern thematisiert. In Brückenprojekten möglich, im Kitaalltag häufig nicht machbar. Ebenso muss natürlich mit den Eltern, auf der Ebene der interkulturellen Sensibilität, westliches Erziehungsverhalten thematisiert werden. Es müssen Fakten über Kinderschutz angesprochen werden, die bei allen Kindern gleich bemessen werden. Das Recht auf eine gewaltfreie Erziehung ist nicht in allen Teilen der Welt gesetzlich festgelegt. Es muss den Eltern zugehört werden, welche Erziehungsansätze sie bislang verfolgt haben. Es müssen gemeinsam Lösungen erarbeitet werden, die die Ansätze kompatibel machen. Erfolge der Maßnahmen Erfolge von Maßnahmen werden gerne durch Zahlen belegt. Die Besucherzahlen der MoKi stehen für sich, ein Erfolg ist daran durchaus erkennbar. Der viel größere Erfolg jedoch ist der Fortschritt eines jeden Kindes, den es im Verlauf der Betreuung macht, sollte dieser auch noch so klein sein. Kinder sind unterschiedlich. War nun die Maßnahme bei dem Kind, das schneller Deutsch lernt als das andere, erfolgreicher? Können Deutschkenntnisse bei geflüchteten Kindern als eine erfolgreiche und gelungene Integration gesehen werden? Für das Kind ist es definitiv ein Erfolg. Aber es ist auch ein Erfolg für ein Kind, das nicht so schnell Sprachen erlernt, wenn es mit einer Schere einen Kreis ausschneiden kann, wo es doch zuvor nicht einmal eine Schere halten konnte? Erfolge von Brückenprojekten zu bemessen dürfen also nicht pauschalisiert an gewissen Faktoren festgemacht werden, sondern müssen individuell betrachtet werden. Finanzierung Die Finanzierung eines Projektes kann Erfolge sichern, aber auch Grenzen setzen. In Zeiten der sogenannten „Flüchtlingswelle“ wurden finanzielle Mittel des Landes NRW für Brückenprojekte zur Verfügung gestellt. Wie bereits erwähnt, wird die MoKi zu einem großen Teil durch diese Mittel finanziert. Eine Aufstockung der Mittel durch GeKita ist trotzdem unumgänglich. Die Finanzierung der Maßnahme ist somit zunächst bis Ende 2016 gesichert. Eine Anschlussfinanzierung ist noch nicht endgültig geklärt. Empfehlungen an die Kinder- und Jugendpolitik, Jugendämter und Freien Träger der Jugendhilfe In vielen Kommunen gibt es gute Brückenprojekte, mit einem guten Konzept und guten Fachkräften, die diese täglich umsetzen. Sie versuchen jeden Tag durch gute Arbeit den Kindern, Jugendlichen und Familien einen guten Start in ihre neue Lebenswelt zu ermöglich. Viele gute und innovative Ideen wurden geboren. Jedoch sind diese Angebote aufgrund ihrer befristeten Finanzierung häufig zeitlich beschränkt. Im schlechtesten Fall müssen erfolgreiche Projekte beendet werden, weil eine Anschlussfinanzierung fehlt. Mitarbeiter verlieren ihren Arbeitsplatz, die betreuten Familien ihren Halt, ihre vertrauten Anlaufstellen. Brückenprojekte sind langfristig notwendig. Die Unterstützung bei der Integration von Menschen kann nicht nur notwendig sein, wenn das Thema in der Öffentlichkeit präsent ist. Gute Projekte müssen verstetigt und die Kommunen bei der Finanzierung durch Bund oder Land langfristig unterstützt werden. Bildung und Integration kann nicht nur Aufgabe der Kommunen sein. Vielen Kommunen, gerade im Ruhrgebiet, geht es finanziell schlecht, sie sind gezwungen zu sparen. An sie werden aber dieselben Erwartungen gestellt wie an Kommunen, denen es finanziell gut geht. Außerdem dürfen Kommu- 379 uj 9 | 2016 Die Integration von Kindern aus Flüchtlingsfamilien nen, die zu der hohen Anzahl an Flüchtlingen auch oft noch eine häufig viel höhere Anzahl an EU-Ost-Zuwanderern zu bewerkstelligen haben, nicht alleingelassen werden. Vor der „Flüchtlingswelle“ war die Integration von Menschen aus Rumänien und Bulgarien präsent, mittlerweile spricht kaum noch jemand davon. Das heißt leider, dass die Finanzierung dieser Projekte wieder in der Eigenverantwortung der einzelnen Kommunen liegt. Es ist wichtig, dass strenge Vorgaben zur Durchführung von Angeboten gelockert werden, ohne dass der Qualitätsstandard eingebüßt wird. Es müssen flexiblere Angebote geschaffen und schnell eingerichtet werden können, ohne an starren Verwaltungshürden zu scheitern. Träger müssen den Mut haben, innovative Ideen umsetzen zu wollen und die Arbeit zu unterstützen. Die Arbeit mit Flüchtlingen und EU-Ost-Zuwanderern bedeutet die Arbeit mit Menschen. Menschen passen häufig nicht in ein klassisches Raster, ihre Entwicklungen können zeitlich nicht vorbestimmt werden. Auch Flüchtlinge oder EU-Ost-Zuwanderer sind keine homogene Gruppe. Sicher ist, dass die Integration von so vielen Menschen Zeit benötigt. Sicher ist aber auch, dass die Arbeit mit Kindern aus Flüchtlingsfamilien, genau wie die Arbeit mit allen anderen Kindern, eine schöne und bereichernde Arbeit ist, in der man viel über ein Miteinander unter verschiedenen Kulturen und Religionen lernen kann. Yvonne Bakenecker GeKita - Gelsenkirchener Kindertagesbetreuung Kurt-Schumacher-Str. 2 45875 Gelsenkirchen
