unsere jugend
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Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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Zwischenruf: Die Wahlerfolge der Partei Alternative für Deutschland /AFD
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Dieter Kreft
Im aktuellen Deutschland-Trend der ARD (der sog. Sonntagsfrage vom 15. 7. 2016) wurde prognostiziert, dass sechs Parteien in den nächsten Deutschen Bundestag einziehen (könnten). Union und SPD erreichen danach trotz weiterer Verluste mit zusammen 55 % (noch) eine knappe Mehrheit vor Bündnis 90 / Die Grünen (14 %), die AFD bleibt – trotz leichter Verluste – zweistellig (12 %) vor der Linken (8 %) und der FDP (6 %).
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395 unsere jugend, 68. Jg., S. 395 - 397 (2016) DOI 10.2378/ uj2016.art54d © Ernst Reinhardt Verlag München Basel von Prof. Dieter Kreft Staatssekretär a. D., Honorarprofessor der Leuphana Universität in Lüneburg Zwischenruf: Die Wahlerfolge der Partei Alternative für Deutschland/ AFD Im aktuellen Deutschland-Trend der ARD (der sog. Sonntagsfrage vom 15. 7. 2016) wurde prognostiziert, dass sechs Parteien in den nächsten Deutschen Bundestag einziehen (könnten). Union und SPD erreichen danach trotz weiterer Verluste mit zusammen 55 % (noch) eine knappe Mehrheit vor Bündnis 90/ Die Grünen (14 %), die AFD bleibt - trotz leichter Verluste - zweistellig (12 %) vor der Linken (8 %) und der FDP (6 %). Mit dieser Prognose wird nur bestätigt, was wir seit Jahren (Jahrzehnten) beobachten können: ➤ die Bindungskraft von Union (CDU/ CSU) und SPD, den bisherigen Volksparteien also, ist aufgrund mehrerer Indikatoren verloren gegangen: ➤ das zeigt einmal der ‚Schwund‘ ihrer Mitglieder. Waren 1976 noch über 1 Mio. Menschen Mitglied der SPD, sind es inzwischen nur noch weniger als eine halbe Million. Die Mitgliederzahl der CDU ist seit 1983 (735 T) auf unter 500 T abgesunken, beide großen Parteien haben also zwischen 40 und mehr als 50 Prozent ihrer Mitglieder verloren (der Mitgliederzuwachs der CDU auf über 789 T nach der deutschen Einheit erwies sich dann doch als ‚statistischer Ausreißer‘, also rasch vorübergehend). ➤ Und auch die Wähler wenden sich von ihnen ab. Haben in den 1970er Jahren noch um 90 % CDU, CSU und SPD gewählt, waren es bei der Bundestagswahl 2013 noch 67.2 % der Zweitstimmen - zudem nach allen Wahlprognosen mit weiter deutlich abnehmender Tendenz. ➤ Parallel hat sich das Parteiensystem verändert. Von einem Zweieinhalb-Parteiensystem, in dem über Wahlperioden eine der beiden großen Parteien zusammen mit der FDP jeweils eine parlamentarische Mehrheit hatte, ging die Veränderung hin zu einem asymmetrischen und labilen Fünfbis Sechs-Parteiensystem, in dem Mehrheitsbildungen offener und schwieriger sind. Jedenfalls steht das Repräsentationsmodell von CDU, CSU und SPD (mit einem anderen Partner) wohl vor dem Ende. Wie ist das - auch nur annähernd - zu erklären? Die BRD ist ein reiches Land, dominiert die Ökonomie der EU, die sozialen Verhältnisse sind ‚im Prinzip’ stabil (Indikatoren: Arbeitslosigkeit, Konsum, Reisen). Union und SPD haben - bei 396 uj 9 | 2016 Zwischenruf: Die Wahlerfolge der Partei Alternative für Deutschland/ AFD allen Unterschiedlichkeiten in ihren Programmen und ihrer politischen Praxis - die politischen und sozialen Rahmenbedingungen für diese Stabilität geschaffen. Aber sie haben im Laufe der Jahre ihr unverkennbares politisches Profil verloren: ➤ die SPD seit 2003 (Agenda 2010) mit den sog. ‚Hartz IV-Reformen’; diese haben vor allem zu einem geradezu katastrophalen Mitgliederschwund geführt und gleichzeitig hat die SPD damit ihre zuvor selbstverständliche und zuverlässige soziale Kompetenz (die Partei der „kleinen Leute“ zu sein und deren Interessen zu vertreten) verloren (aktuell trauen ihr nur noch 37 % der Befragten insofern eine Gestaltungskraft zu). ➤ Die Union hat sich unter der Kanzlerin Angela Merkel - nach einem nur sehr kurzen Intermezzo (Leipziger Parteitag von 2003) in Richtung einer neo-liberalen Politik - fast dramatisch von ihren konservativen Kernthemen abgewendet (z. B. durch die Aussetzung der Wehrpflicht, die Entscheidung zum Atomausstieg - beides 2011) und im Übrigen ‚sozialdemokratisiert‘. Irgendwann gab es (eigentlich) nur noch ‚Mitte‘, und wir wissen seit August Bebel „In der Mitte ist der Sumpf“. Der Auftritt der AFD: Den großen Parteien sind gewissermaßen die Bürger und Bürgerinnen abhanden gekommen und in dieses ‚Vakuum‘ hinein entwickelte sich (schließlich) die AFD, „ein Bündnis von Eliten und Outsidern, von konservativen Professoren und frustrierten Kleinbürgern. Sie eint die Lust am Vulgären und eine tief sitzende rückwärtsgerichtete Sehnsucht nach Eindeutigkeit“ (Paul Nolte im Berliner Tagesspiegel vom 3. April 2016). Erst ab 2013 als eurokritisch, nationalkonservativ, rechtspopulistisch und wirtschaftsliberal auftretend (noch unter dem Vorsitzenden Bernd Lucke), veränderte sie sich aktuell nach dem Führungswechsel zu Frauke Petry 2015 zu einer Partei mit rechtsextremen und völkischen Tendenzen; befördert durch die Flüchtlingskrise und aufbauend auf neuen Protestformen, über die das Unbehagen vor allem daran öffentlich wirksam geäußert wurde (Pegida). Das erste Grundsatzprogramm (beschlossen am 30. April / 1. Mai 2016 auf dem Parteitag der AFD in Stuttgart) lässt allerdings noch offen, ob die AFD„eine Kümmerer-Partei für nationalbürgerliche Wähler - oder ein völkischer Kampfverband (wird)“ (Heribert Prantl in der SZ vom 30. 4. / 1. 5. 2016). Das Programm ist jedenfalls uneindeutig und widersprüchlich: ➤ eindeutig in der ‚Ausgrenzung‘ (Verhältnis zum Islam), im Strafrecht und der Medienpolitik (gegen die „Lügenpresse“ und für die Abschaffung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks und Fernsehens in seiner jetzigen Form); ➤ geradezu aberwitzig und gegen jede gesellschaftliche Realität sind die familien- und z. T. sozialpolitischen Formulierungen, etwa das Bekenntnis zur traditionellen Familie als Leitbild, die es ja bekanntermaßen in der auch hier wieder idealisierten Form immer weniger gibt; „Es ist (aber auch) Zeit, den Antifeminismus der neuen Protestbürger nicht nur als eine Randerscheinung zu sehen“ (noch einmal P. Nolte im Berliner Tagespiegel); ➤ neo-liberal in der Wirtschafts- und Steuerpolitik ➤ und für die Rücknahme des Atomausstiegs (und das fast genau dreißig Jahre nach Tschernobyl und fünf Jahre nach Fukushima) - wessen Interessen werden da wohl vertreten? „Die AFD mag im Einzelnen dieses und jenes wollen, ihr weltanschaulicher Kern ist ein radikaler Antiliberalismus mit völkischem Beigeschmack“ (Gustav Seibt in der SZ vom 4. / 5. 5. 2016 - insgesamt höchst lesenswert). 397 uj 9 | 2016 Zwischenruf: Die Wahlerfolge der Partei Alternative für Deutschland/ AFD Wie weiter? Ist das nun hilfreich für politische Bearbeitung und Bewältigung der großen Probleme unserer Zeit, die viele Bürger/ innen ernsthaft in Sorge versetzen? Die fortschreitende Globalisierung etwa, die Folgen des Klimawandels, der vielen Kriege in aller Welt mit den daraus entstehenden Flüchtlingszahlen - gewiss auch bald wieder verstärkt mit dem Ziel Europa? Oder: andere große Fragen, die Antworten brauchen: was bedeutet das TTIP für uns, für mich, was die Visa-Freiheit für Türken, ist der Deal mit der Türkei überhaupt politisch-ethisch vertretbar oder ganz individuelle Sorgen, „reicht am Ende meines Arbeitslebens meine Rente? “. Es bleibt doch dabei, dass Politik das Bohren von dicken Brettern ist, dass für unterschiedlichste Interessen in einer offenen Gesellschaft Kompromisse gesucht und gefunden werden sollten (müssen), dass es auf sog. große Fragen (Flüchtlinge, Globalisierung etwa) eben keine einfachen Antworten gibt, kein ‚Entweder- Oder‘, sondern immer wieder nur ein ‚Sowohlals-auch‘. So etwas und anderes ist doch nicht einfach durch Mehrheitsentscheidungen regelbar, bei uns haben doch auch Minderheiten unveräußerliche Rechte, über die nicht abgestimmt werden kann. All das will die AFD nicht wahrhaben in ihrem Drang „zur Rückentwicklung von der Rechtsgemeinschaft der Bürger zur homogenen Nation“ (noch einmal G. Seibt in der SZ). Dann schon lieber weiterhin das „links-rot-grün versiffte Achtundsechziger Deutschland“, das der AFD Bundessprecher Jörg Meuthen am 30. April 2016 in seiner vielbejubelten Parteitagsrede vorgab, abschaffen zu wollen. Dann doch lieber (mühsam) demokratisch, aber verfassungstreu und verfassungspatriotisch, eben dem verpflichtet, was sich so um die Artikel 1 - 20 des Grundgesetzes herum an gesellschaftliche Selbstverständlichkeiten entwickelt hat. Prof. Dieter Kreft Nürnberg Kremie.nuernberg@t-online.de
