eJournals unsere jugend 68/10

unsere jugend
4
0342-5258
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
101
2016
6810

„Da gab es im vergangenen Jahr mehrere Situationen, wo ich dachte: Wie weit geht's denn, bis ich umfalle?“

101
2016
Peter-Ulrich Wendt
In der Kinder- und Jugendarbeit sind Fachkräfte der Sozialen Arbeit unter prekären Bedingungen beschäftigt. Der Beitrag interpretiert dazu vor­liegende Daten einer Studie zur Arbeitssituation aus Sachsen-Anhalt und leitet Schlussfolgerungen in Bezug auf das Berufsfeld ab, die eine Steigerung der fachlichen Widerstandsfähigkeit der handelnden Fachkräfte mitdenken.
4_068_2016_010_0420
420 unsere jugend, 68. Jg., S. 420 - 428 (2016) DOI 10.2378/ uj2016.art58d © Ernst Reinhardt Verlag München Basel „Da gab es im vergangenen Jahr mehrere Situationen, wo ich dachte: Wie weit geht’s denn, bis ich umfalle? “ Zur Arbeitssituation in der Kinder- und Jugendarbeit - am Beispiel Sachsen-Anhalts In der Kinder- und Jugendarbeit sind Fachkräfte der Sozialen Arbeit unter prekären Bedingungen beschäftigt. Der Beitrag interpretiert dazu vorliegende Daten einer Studie zur Arbeitssituation aus Sachsen-Anhalt und leitet Schlussfolgerungen in Bezug auf das Berufsfeld ab, die eine Steigerung der fachlichen Widerstandsfähigkeit der handelnden Fachkräfte mitdenken. von Dr. Peter-Ulrich Wendt Jg. 1959; Studium Politikwissenschaft und Soziologie, von 1983 bis 2009 in der Kinder- und Jugendhilfe tätig, seit 2009 Professor für Soziale Arbeit an der Hochschule Magdeburg Die Kinder- und Jugendarbeit als Teilleistungssystem der Kinder- und Jugendhilfe kennzeichnet eine strukturelle Fragilität, jungen Menschen die zur Förderung ihrer Entwicklung erforderlichen Angebote in Verbänden, Gruppen und Initiativen der Jugend durch freie, öffentliche oder andere Träger zur Verfügung zu stellen, wobei diese, an ihren Interessen anknüpfend und von ihnen mitbestimmt und mitgestaltet, zur Selbstbestimmung und gesellschaftlicher Mitverantwortung befähigen und zu sozialem Engagement anregen und hinführen sollen (§ 11 Abs. 1 SGB VIII). Merkmale dieser strukturellen Fragilität sind ➤ die Offenheit in Bezug auf die Zielgruppen der Kinder- und Jugendarbeit und den durch sie formulierten Erwartungen, den Ort und die Form (offene und verbandliche Jugendarbeit, internationale Jugendarbeit, Jugendberatung, Ferienfreizeiten, in der Zusammenarbeit mit Schule und anderen Akteuren im Gemeinwesen u. a.) und das breite Altersspektrum (in der Regel vom sechsten bis zum 21. Lebensjahr, im Einzelfall auch bis zum 27. Lebensjahr und - „im angemessenen Umfang“ - auch darüber hinaus [§ 11 Abs. 4 SGB VIII]), wobei gilt, dass das Handlungsfeld durch sich schnell wandelnde Zielgruppen geprägt ist ➤ der Umgang mit (auch kurzfristig) wechselnden Problemstellungen ihrer Zielgruppen ➤ die umfassende Teilhabeorientierung, die junge Menschen ermuntern und in die Lage versetzen soll, Inhalte und Programme mitzugestalten bzw. selbst zu entwickeln und sich in alle für sie relevanten Themen und Prozesse (auch politisch) einzubringen 421 uj 10 | 2016 Arbeitssituation in der Kinder- und Jugendarbeit ➤ der Charakter als Experimentierraum, in dem sich junge Menschen ausprobieren, die Kooperation mit noch Fremden und Fremdem entwickeln, einen persönlichen Stil entfalten und Probleme kreativ bewältigen (lernen) können sollen ➤ die Vielfalt der Zugänge (wie Kinder und Jugendliche erreicht werden) Daraus ergibt sich eine systematische Situationsoffenheit und Routinefreiheit, wodurch Kinder- und Jugendarbeit „planvoll planlos“ sein muss (d. h. die Handlungsanforderungen sind situativ stets neu zu bestimmen und daher kaum vorbestimmbar), zumal durch das Merkmal der Freiwilligkeit der Teilnahme auch eine diskontinuierliche Beteiligung (verbunden mit dem Verzicht auf Prozess- und Ergebnisorientierung) charakteristisch ist, die das professionelle Handeln noch weniger vorhersehbar macht. In der Kinder- und Jugendarbeit müssen daher Persönlichkeiten tätig sein, die mit offenen Situationen maximal flexibel und virtuos in der Beziehungsgestaltung umgehen und strukturelle Fragilität immer wieder neu bewältigen können (vgl. Wendt 2005, 176ff ). Von außen (z. B. durch politische Akteure/ Finanziers) wahrgenommen wirkt die Kinder- und Jugendarbeit daher nicht selten diffus (unsystematisch und beliebig) und intransparent. Leitende methodische Prinzipien, die das Handeln strukturieren und nachvollziehbar machen könnten, scheinen zu fehlen und eine schlüssige theoretische Grundlage konnte - bis auf Ansätze (vgl. Müller et al. 1964; Böhnisch/ Münchmeier 1987; Scherr 1997) - für das Handlungsfeld bislang nicht entwickelt werden. Die Akteure (Fachkräfte) dieses Handlungsfeldes sind nicht selten mit Rahmen- und Arbeitsbedingungen konfrontiert, die diese strukturelle Fragilität verstärken. Zwei 2010 durch den Verfasser erhobene Statements aus der Feder von Fachkräften der Kinder- und Jugendarbeit Sachsen-Anhalts illustrieren diese komplexen Rahmungen, die freilich nicht nur auf dieses Bundesland beschränkt sein werden: Einerseits ist das die Rede von Fachkräften, die eine „tragende Rolle in der Kinder- und Jugendarbeit in Sachsen-Anhalt (wahrnehmen). Sie sorgen gemeinsam mit Ehrenamtlichen für vielfältige, pädagogisch gestaltete Angebote, für die Organisation von Veranstaltungen und Schulungen, für die Bearbeitung von Förderanträgen sowie für die Anleitung und Betreuung von Honorarkräften und Arbeitsgelegenheiten/ Ein- Euro-Jobs“. Andererseits sind sie mit „äußere(n) Rahmenbedingungen (konfrontiert), die sich in den letzten Jahren deutlich verschlechtert haben: vermehrt Teilzeitstellen, Arbeitsverdichtung, unregelmäßige Arbeitszeiten, fehlende ideelle und materielle Anerkennung, erhöhter Verwaltungsaufwand sowie unklare persönliche und einrichtungsbezogene Zukunftsperspektiven. Trotz allem gelingt es Fachkräften immer wieder, sich für die eigene Arbeit zu motivieren und mit Kindern und Jugendlichen gemeinsam etwas auf die Beine zu stellen“. Eine Vielzahl solcher Einschätzungen zwischen struktureller Fragilität und komplexen Rahmungen veranlasste den Kinder- und Jugendring Sachsen-Anhalt 2010 an den Verfasser heranzutreten, diese Situation empirisch in den Blick zu nehmen. Zur Studie „… dass ich da in so einem Hamsterrad bin. Mein Bild vom Hamsterrad ist, angespannt zu sein, immer so weiterzutreten, sich nicht mehr gut herauszuklinken, sich von außen anzuschauen. Das ist so die Anspannung. Ich merke das körperlich, an Überlastung. Überlastet bin ich selten; da reagiert eher mein Körper mit Krankheiten, da merke ich, wenn ich überlastet bin.“ Bis 2010 hatten sich in Sachsen-Anhalt erhebliche Veränderungen in den Rahmenbedingungen der Kinder- und Jugendarbeit ergeben, wozu z. B. der Wegfall der Gegenfinanzie- 422 uj 10 | 2016 Arbeitssituation in der Kinder- und Jugendarbeit rungspflicht der Jugendpauschale 2004, die Einschränkung des (Landes-) Fachkräfteprogramms, eine fehlende Anpassung der für den Bereich Jugendbildung zur Verfügung stehenden Landesmittel, desolate kommunale Budgets oder eine verstärkte Konkurrenz der Träger um Fördermittel zählte. Vor allem wurden Stellenreduzierungen (einhergehend mit Arbeitsverdichtung beim bestehenden Personal), der verstärkte Einsatz von AGH/ Ein-Euro-Jobs, eingeschränkte Möglichkeiten für den kollegialen Austausch, Fortbildung und Supervision sowie subjektiv wahrgenommene Prozesse beruflichen Ausbrennens registriert. Im Lichte dieser Problemwahrnehmung wurde vom Verfasser eine Überblicksstudie zur Arbeitssituation und -belastung unter Fachkräften der Kinder- und Jugendarbeit erbeten, und zwar als Darstellung der Arbeitssituation (u. a. des Überstundenaufkommens, des Verhältnisses zwischen hauptamtlicher und zusätzlicher ehrenamtlicher Arbeitszeit bei ein und demselben Arbeitgeber), als Taxierung des Aufwandes für Verwaltungs- oder andere Aufgaben und als Darstellung ggfs. erkennbarer persönlicher und beruflicher Folgen aufgrund der Arbeitsbelastung. Ziel der Studie sollte es sein, aufgrund der Datenlage Anhaltspunkte für Konsequenzen in der politischen Argumentation identifizieren und Umgangsstrategien der Fachkräfte mit der Arbeitsbelastung ableiten zu können. Dazu wurde zunächst eine qualitative Vorstudie in Form von leitfadengestützten ExpertInnen-Interviews unter anderem zu den Aspekten Zeitdruck, beruflich be- und entlastende Situationen durchgeführt. Die dabei gewonnenen Kernaussagen ließen die Formulierung von vier untersuchungsleitenden Annahmen zu: ➤ Die (Fach-)Kräfte der Kinder- und Jugendarbeit haben kein geteiltes Verständnis darüber, was sie als „Arbeitsbelastung“ empfinden. ➤ Es besteht Unklarheit darüber, was unter „Burnout“ zu verstehen ist. ➤ Es gibt in Bezug auf die Wahrnehmung der Arbeitssituation und möglicher -belastungen Differenzierungen zwischen jüngeren und älteren (Fach-) Kräften, Frauen und Männern. ➤ Es gibt keine weitgehend ähnlichen (schon gar nicht vergleichbare) Strategien im Umgang mit Zeitdruck und/ oder belastend empfundenen Arbeitsbedingungen. Aus diesen Annahmen wurde ein Fragebogen entwickelt. Die Daten aus der Erhebung zur Statistik der Kinder- und Jugendhilfe im Jahre 2006 zeigten für Sachsen-Anhalt 2010 ein negativ-dynamisches Arbeitsfeld, in dem im Verhältnis zur vorhergehenden Erhebung im Jahr 2002 von den damals registrierten 1.252 Vollzeitstellen (sog. „Vollzeitstellenäquivalente“) nahezu vier von zehn Stellen (d. h. rund 500) verloren gegangen waren (auf 771 Vollzeitstellen). Daten aus der Erhebung zur Statistik der Kinder- und Jugendhilfe im Jahre 2010 lagen zum Zeitpunkt der Auswertung des Datensamples (noch) nicht vor. Hinweisen aus dem Handlungsfeld folgend, dass sich die Zahl der in der Kinder- und Jugendarbeit tätigen Fachkräfte (Vollzeitstellenäquivalente) bis 2010 nochmals verringert habe, wurde davon ausgegangen, dass 2011 noch ca. 700 Fachkräfte tätig gewesen sein dürften. Bezogen auf diese Basiszahl wurde die Hälfte eingeladen, sich an der Befragung zu beteiligen. Die Beteiligungsquote erreichte schließlich knapp 36 %, wobei sich Akteure aus kirchlichen Trägern stärker und aus kommunaler Trägerschaft etwas schwächer im Sample vertreten fanden. Hinweise auf Befragungshemmnisse (z. B. unterbliebene Aussagegenehmigungen) fanden sich nicht. Die im Zuge der 2011 durchgeführten Befragung gewonnenen Befunde wurden einem Peer-Check unterzogen, um so dem Problem möglicher Verfremdungseffekte zu begegnen und die Plausibilität der Schlussfolgerungen kritisch mit der Gruppe der Fachkräfte der Kinder- und Jugendarbeit zu reflektieren. 423 uj 10 | 2016 Arbeitssituation in der Kinder- und Jugendarbeit Das Sample schien (in Bezug auf die bekannten Daten zur Trägerverteilung, dem Status der Fachlichkeit/ Akademisierung des Handlungsfeldes und der Verteilung nach Geschlecht) ein Spiegelbild aller 700 Fachkräfte der Kinder- und Jugendarbeit in Sachsen-Anhalt zu sein und konnte als durchaus repräsentativ gelten. Befunde „Als total nervig, überfordernd und teilweise auch konfus betrachte ich Verwaltungsaufgaben, die in einem Maße in letzter Zeit über mich und meine Kollegen hereinbrechen, die in keinem Verhältnis zum Aufwand stehen … Weil ich dann in gleichem Maße weniger Zeit für die inhaltliche Ausrichtung habe, komme ich da an einen Punkt, wo ich mir vorkomme wie im kaukasischen Kreidekreis: Jeder zerrt an mir rum und jeder möchte ein Stückchen davon haben und jeder beansprucht für sich, dass es sein’s ist.“ Ausdrücklich vermerkt sei, dass es sich nicht um eine „Burnout“-Studie unter Fachkräften der Kinder- und Jugendarbeit handelte; im Fokus stand deren Arbeitssituation und damit auch Arbeitsbelastung: das mag allerdings (Rück-) Schlüsse in Bezug auf Phänomene beruflichen Ausbrennens in der Sozialen Arbeit zulassen (vgl. Poulsen 2007, 2009 a, 2009 b; Maroon 2008; Reiners-Kröncke/ Röhrig/ Specht 2010; Kroll/ Müters/ Dragano 2011). Prekarium als zentrale Modalität der Arbeitssituation In den quantitativen wie qualitativen Statements scheint durchgängig das Moment der „Unsicherheit“ als zentrale qualitative Klammer auf: 44 % der befragten Fachkräfte sahen ihre berufliche Zukunft als gesichert an, darunter aber nur 21 % uneingeschränkt; 35 % machten sich „große Sorgen“ und 11 % sahen ihre Zukunft erst gar nicht in der Kinder- und Jugendarbeit. Insgesamt bewegte sich die berufliche Zufriedenheit (einzuschätzen auf einer Skala von 0 bis 100) in einer Größenordnung von rund zwei Drittel des maximal Möglichen (68 Punkte). In den Passagen, in denen die Befragten zu offenen Äußerungen eingeladen wurden, wurde deutlich, wie groß die Unsicherheit über die berufliche Zukunft tatsächlich war und wie sie wie Mehltau lähmend auf die Erledigung der Aufgaben in der Jugendarbeit wirkte. Die Arbeitsbedingungen wurden entsprechend wahrgenommen: 44 % der Befragten arbeiteten seinerzeit in befristeten Beschäftigungsverhältnissen, davon 78 % in Arbeitsverträgen mit einer Laufzeit von weniger als zwei Jahren. Bei fast 30 % war das Beschäftigungsverhältnis wenigstens einmal unterbrochen. 42 % arbeiteten auf der Basis von Teilzeitarbeitsverträgen. In einem von drei Fällen wurden Mehrarbeitszeiten nicht erfasst, die in einem von sechs Fällen zudem auch nicht durch Freizeitausgleich kompensiert werden konnten. Einen Ausgleich durch Ausbezahlung von Überstunden gab es nahezu nicht. Es lag daher nahe, von einem mit der strukturellen Fragilität korrespondierenden „Prekarium“ (rechtwissenschaftlicher Begriff zur Kennzeichnung eines widerrufbar gewährten Besitzverhältnisses) als zentrale Rahmung der Arbeitssituation zu sprechen. Fachkräfte der Kinder- und Jugendarbeit erleben sich in der Rolle der Bittsteller, die eine jederzeit widerrufbare Förderung/ Unterstützung erhalten, der sie sich nicht wirklich sicher sein dürfen. So wurden nicht in erster Linie eine überbordende Bürokratie (immer noch auf Platz Nr. 2 als ungünstig empfundener Rahmenbedingungen), ungünstige gesellschaftliche Rahmenbedingungen, (offenbar trägerspezifisch) schwierige Arbeitsbedingungen, fehlende (öffentliche) Wertschätzung, die Probleme der Zielgruppe oder die (im Verhältnis zu den Aufgaben hin und wieder) mangelnde Qualifikation als primäres Problem gesehen, sondern das Prekarium, in den Aussagen der Befragten gekenn- 424 uj 10 | 2016 Arbeitssituation in der Kinder- und Jugendarbeit zeichnet insbesondere durch eine unklare Finanzierungssituation, Befristungen, fehlende Arbeitsverträge, prekäre Beschäftigungsverhältnisse und die (den Einsatz ausgebildeter Fachkräfte auch kompensierende) Beschäftigung von sog. „1-Euro-Jobbern“ in Feldern der Kinder- und Jugendarbeit. Damit korrespondierte, dass (gemessen auf einer Skala von 0 bis 100) die Fachkräfte die ihnen zur Erledigung ihrer Aufgaben zur Verfügung stehenden Ressourcen skeptisch einschätzten: Die Gestaltungsmöglichkeiten am eigenen Arbeitsplatz werden noch mit 66 Punkten relativ günstig beurteilt, während die Ressourcen „Zeit“ (58 Punkte), „Unterstützung durch Dritte“ (47 Punkte), „Geld“ (45 Punkte) und „Personal“ (44 Punkte) bereits als kritische Bewertungen zu betrachten waren. Dabei wurde die Unterstützung durch den Träger mit 73 Punkten und der Grad der Fairness in der Behandlung durch den Träger (z. B. durch dessen Beauftragte: Vorgesetzte) noch mit 80 Punkten eingeschätzt. Insgesamt ließen sich in den Daten vier „Kulturen“ im Umgang mit belastenden Arbeitsbedingungen identifizieren: 1. Durchgängig wirken beruflich erfahrenere Fachkräfte (min. zehn Jahre tätig) belastbarer als ihre jüngeren KollegInnen, die erkennbar sensibler auf belastende Arbeitsbedingungen reagierten. 2. Vergleichbares galt im Verhältnis der (abgeklärteren? ) älteren Kräfte im Verhältnis zu den jüngeren (wobei das Durchschnittsalter von 43,4 Jahren als Abgrenzungsdatum diente). 3. Dass dies in vergleichbarer Relation auch für (ebenfalls eher belastete) akademisch ausgebildete Fachkräfte (Studiengänge Soziale Arbeit, Pädagogik/ Erziehungswissenschaft) im Verhältnis zu anderen Fachkräften (Erzieher/ innen, Fachkräfte Soziale Arbeit und andere pädagogiknahe Berufe) galt, korrespondierte mit dem in den Daten erkennbaren Trend zur Verfachlichung und Professionalisierung des Arbeitsfeldes sowie dessen Verjüngung. 4. Schließlich bildeten als „besonders belastete Fachkräfte“ zu bezeichnende Akteure eine weitere Kultur im Umgang mit den gegebenen Arbeitssituationen und -belastungen (vgl. 2.3). Für eine Differenzierung nach dem Geschlecht fanden sich dagegen keine durchgängigen Hinweise. Flankierende Aspekte Die Daten erlaubten es, vier weitere Aspekte einer besonderen Betrachtung zu unterziehen: 1. „Verfachlichte Raumpflegetätigkeiten“: In den Daten bildeten sich einerseits Prozesse der Verfachlichung und Professionalisierung der im Handlungsfeld tätigen Fachkräfte ab (36 % verfügten über eine akademische Ausbildung], weitere 25 % waren ErzieherInnen). Für Zwecke sozialen (pädagogischen) Handelns mit Kindern und Jugendlichen originär ausgebildete und berufene Fachkräfte waren andererseits mehrheitlich anderweitig tätig: 48 % der Arbeitszeit standen pädagogischen Aufgaben zur Verfügung, 11 % der Öffentlichkeits- und Lobbyarbeit, 27 % für Verwaltungsaufgaben und 14 % für andere Aufgaben, darunter wohl vermehrt Hausmeister- und Raumpflegetätigkeiten. 2. Behindernde Politik und Verwaltung: Finanziers, Trägern und Vorgesetzten kommt bei der Gestaltung der Rahmenbedingungen eine herausgehobene Rolle zu: ob sie dieser Aufgabenstellung in Sachsen-Anhalt immer gerecht werden, blieb im Lichte der Daten sehr im Zweifel. So gaben z. B. 58 % der Fachkräfte an, sich durch „die Politik“ gehemmt zu fühlen, immer noch 28 % durch die Kommunalverwaltung und 24 % durch das örtliche Jugendamt. Auch an dieser Stelle dominierten die Bedingungen des Prekariums, doch auch so gesehene Probleme mit der 425 uj 10 | 2016 Arbeitssituation in der Kinder- und Jugendarbeit Qualifikation der Fachkräfte selbst traten relevant daneben, z. B. die mangelnde Qualifikation und das fehlende Fachpersonal, womit implizit auf die schwache bis unzureichende Unterstützungsleistung der Träger verwiesen wurde. Deutlich wurde jedenfalls, dass insbesondere Politik und Verwaltung als Behinderer erlebt wurden. Dies wurde auch an anderer Stelle deutlich: Auf die Frage, wie die Fachkräfte die der Kinder- und Jugendarbeit zufallende gesellschaftliche Bedeutung beurteilten, schätzten die Befragten dies (Skala von 0 bis 100) mit 85 Punkten als „Soll-Wert“ recht hoch ein, taxierten aber die tatsächlich alltäglich erlebte Bedeutung („Ist-Wert“) nur noch mit 48 Punkten. Weiter befragt, wer welche Wertschätzung der Kinder- und Jugendarbeit entgegenbringe, wurde diese Differenzierung erneut bestätigt: Erreichte die wahrgenommene Wertschätzung durch das soziale Umfeld 84 Punkte, durch KollegInnen 83 Punkte, durch die Kinder und Jugendlichen als Zielgruppe 82 Punkte, durch die Vorgesetzten 80 Punkte und den Träger insgesamt 78 Punkte, so wurde die Anerkennung durch die Öffentlichkeit (d. h. Nachbarn, lokale Gemeinschaft, Presse)mit nur noch 49 Punkten und durch Politik und Verwaltung mit 48 Punkten bereits im negativen Halbfeld erlebt. 3. Unterstützungen: Da es in kritischen Situationen beruflicher Belastung in der Kinder- und Jugendhilfe generell und in der Kinder- und Jugendarbeit im Besonderen an ausreichenden Stützungs- und Beratungssystemen zu fehlen schien, überraschte es nicht, dass in solchen Fällen daher vor allem die Familie (68 %) und der Freundeskreis (71 %) als non-formelle Unterstützer wirkten. Kam das Gespräch bspw. auf das subjektive Erleben beruflicher Belastung, dann spielten diese „Rettungsanker“ erneut eine herausgehobene Rolle (in 86 % der Fälle dienten die FreundInnen als AnsprechpartnerInnen, in 70 % die Familie; in 85 % die Kolleg/ inn/ en), während den formellen „Orten“, das persönliche Problem zu thematisieren, nur eine sehr nachrangige Rolle zukam (38 % das Gespräch mit Externen, z. B. BeraterInnen, ÄrztInnen, 32 % das Gespräch mit Vorgesetzten, 31 % die Befassung in der Dienstbesprechung). Es sprach folglich wenig dafür, dass die Träger und ihre Beauftragten in größerem Umfang die erforderliche Unterstützung in diesen Situationen geben (konnten) oder als AnsprechpartnerInnen in einer belastbaren Arbeitsbeziehung erlebt wurden. 4. Schwindendes Engagement: Kinder- und Jugendarbeit als in besonderem Maße beziehungsgestützte Soziale Arbeit ist auf den Einsatz der hier tätigen Fachkräfte angewiesen: Dem Land Sachsen-Anhalt drohten auf Grundlage der Daten (beachtliche) Einbußen in Bezug auf den Umfang und die Stärke dieses Engagements (dass die Fachkräfte seinerzeit mit 87,2 von 100 möglichen Punkten einschätzten). Zunächst einmal wiesen 70 % der Befragten aus, mehr Einsatz in die Kinder- und Jugendarbeit einzubringen, als es der Arbeitsvertrag eigentlich forderte (davon immerhin ein Viertel nach eigener Einschätzung mehr als zehn Stunden/ Woche). Das konnte als die Sozialer Arbeit nachgesagte Tendenz zur Selbstausbeutung gelesen werden, wohl aber und eher als Reaktion auf den zwingend erlebten Zeitdruck. Deutlich wurde, dass „Zeitdruck“ das Moment darstellte, das Überlastung insbesondere hervorrief, dem offenbar (auch) durch einen freiwilligen Mehreinsatz Rechnung getragen wurde. Dass dies auf Dauer kaum tragfähig sein konnte, deuteten u. a. zwei Werte an: 1. räumten 38 % der Befragten bereits ein, dass sie früher engagierter waren (bei 52 % hatte sich daran - noch? - nichts geändert), und 2. hatten 58 % bereits „gelegentlich“ oder „öfter“ einen Wechsel aus der Kinder- und Jugendarbeit in ein anderes Arbeitsfeld in Betracht gezogen (40 % noch nicht). 426 uj 10 | 2016 Arbeitssituation in der Kinder- und Jugendarbeit Gruppe der RisikoträgerInnen 91 % der Befragten erleben Anspannung in beruflichen Situationen, 86 % nahmen Zeitdruck „hin und wieder“, „häufig“ oder „sehr häufig“ wahr, 52 % berichteten über an sich wahrgenommene Unkonzentriertheit, 65 % sprachen von erlebter Erschöpfung, 39 % von schlechtem Schlaf. Bei einem Fünftel der Befragten lag die Kombination dieser Merkmale geschlossen vor, was es rechtfertigte, im Anschluss an die relevanten Modelle auch der Forschung zu beruflichem Ausbrennen (vgl. Kroll et al. 2011) von einer besonders belasteten Gruppe zu sprechen. Diesen Personenkreis (mehrheitlich handelt es sich um akademisch ausgebildete Fachkräfte: 68 % [Basiswert der gesamten Befragung: 41 %]) kennzeichnete u. a. zweierlei: einmal eine erhöhte Bereitschaft zur Mehrleistung und andererseits eine durchgehend sorgenvollskeptische Blickweise auf Kinder- und Jugendarbeit. Im Verhältnis zu den übrigen Fachkräften (27 %) waren sie eher zu einer Mehrheit von mehr als zehn Stunden/ wöchentlich bereit (36 %). Auch ihre Lebenszeitbilanz wies einen deutlich höheren Wert für den Einsatz an Zeit für Beruf und Arbeit (61 %) aus als bei den übrigen Befragten (52 %). Ihre Freizeitaktivitäten, die Zeit für Familie und Freunde sowie für Ruhe- und Erholungsphasen kamen entsprechend„kürzer“. Zugleich sahen sie z. B. ihre berufliche Zukunft in der Kinder- und Jugendarbeit mit erheblich größeren Sorgen (57 % im Verhältnis zu 30 %). Drei Viertel hatten gelegentlich und öfter an eine andere Arbeit gedacht (die anderen zu 47 %), ihr Engagement schätzten sie mit 79 Punkten schwächer ein (89 Punkte die anderen) und zu zwei Dritteln (im Verhältnis zu 31 %) nahmen sie sich früher engagierter wahr. Damit wurde ein Kardinalproblem kenntlich gemacht: Dass nämlich ein Fünftel der (vor allem jüngeren und akademisch ausgebildeten) Fachkräfte akut gefährdet schien und der Kinder- und Jugendarbeit über kurz oder lang dauerhaft durch „Austritt“ (von „Ausbrennen“ bis „Aufgabe“ und Arbeitsfeldwechsel) verloren zu gehen drohte. Schlussfolgerungen „Entspannung gibt es so gar nicht. Weil ganz viel ansteht, oder anstand, sowohl beruflich als auch privat, sodass man nie mal das Gefühl hat, irgendwie durchzuatmen, weil man irgendwie nicht etwas abschließen kann, um auch was Neues anzufangen. Sich auch mal hinzusetzen, zu sagen: Jetzt hab’ ich was geschafft, und jetzt bereite ich mich ordentlich auf das Neue vor -, das fällt mir sehr schwer.“ Im Lichte der nun fünf Jahre alten Daten lassen sich immer noch vier Dimensionen festhalten. Im Gespräch über Schlussfolgerungen in Bezug auf die Rahmenbedingungen für die in der Kinder- und Jugendarbeit tätigen Fachkräfte - nicht nur in Sachsen-Anhalt - im Gespräch zu bleiben: 1. Gegenüber den (jugend-) politischen Akteuren: Sachsen-Anhalt unterliegt (wie andere ostdeutsche Länder) nachhaltig der auch demografie-bedingten gesellschaftlichen Transformation, und auch der Fachkräftemangel hat das Land längst erreicht. Diese Entwicklungen sind (erkennbar auch unter den befragten Fachkräften) unbestritten; die aus den Prognosen folgenden Anforderungen auch an die Soziale Arbeit im Allgemeinen und die Kinder- und Jugendarbeit sind entsprechend anspruchsvoll. Ein Bewusstsein dafür, wie wichtig es sein wird, jeden jungen Menschen im Land zu halten, hat sich in Gesellschaft, Wirtschaft und Politik durchgesetzt. Gerade deshalb ist (fach-) politische Phantasie und soziale Intelligenz notwendig. Die Kinder- und Jugendarbeit 427 uj 10 | 2016 Arbeitssituation in der Kinder- und Jugendarbeit erfüllt in diesen Prozessen eine wichtige Funktion jenseits formeller (Aus-) Bildungsprozesse; sie stützt Prozesse des Heimisch- Seins und -Werdens, sie trägt dazu bei, eine positive Bindung zum Land und seinen Chancen und Möglichkeiten zu entwickeln. Ihre Bedeutung ist empirisch wie bildungstheoretisch (vgl. 12. Kinder- und Jugendbericht 2005), aber längst noch nicht jugend- und sozialpolitisch anerkannt. Daran hat sich auch in den zurückliegenden Jahren in Sachsen-Anhalt sehr wenig geändert. Zwar ist es dem Kinder- und Jugendring des Landes Sachsen-Anhalt gelungen, die Landesförderung für die Jugendarbeit in Höhe von rund 7,4 Mio. Euro pro Jahr festzuschreiben, doch nach wie vor erfolgen die meisten Anstellungen auf Grundlage von Zeitverträgen. Das landesweite und mit Mitteln des ESF geförderte Programm zur Schulsozialarbeit hat zudem attraktive Arbeitsplätze geschaffen, mit denen die Stellendotierungen in der Kinder- und Jugendarbeit nicht konkurrieren können. Der Fachkräftemangel wird sich zudem in der Kinder- und Jugendarbeit verstärken, wenn ein Gelingen ermöglichende Arbeitsbedingungen weiter ein frommer Wunsch von Fachkräften und engagierteren Akteuren in Sozial- und Jugendpolitik/ -verwaltung bleiben. Die deshalb doppelt notwendige Strategie des Haltens (junger Menschen einerseits, Fachkräfte der Kinder- und Jugendarbeit andererseits) als Konsequenz einer sozial innovativen und zukunftsorientiert zu nennenden Jugendpolitik auch im Land Sachsen-Anhalt erscheint weiter sehr entwicklungsbedürftig. Ideen, BerufseinsteigerInnen im Berufsfeld zu halten, fehlen; vielmehr wirkt auch heute noch in Sachsen-Anhalt die Kinder- und Jugendarbeit als Handlungsort, wo BerufsnovizInnen für andere Arbeitsfelder bloß „durchlauferhitzt“ werden. 2. Gegenüber den operativen Akteuren: An die Adresse der Finanziers (Jugendpolitik und -verwaltung) legten die hier ausschnitthaft besprochenen Daten einige Prüfungen nahe, die auch heute noch dieselbe Relevanz haben: ➤ Klärung, ggfs. Einschränkung von befristeten Projektförderungen, Entwicklung institutioneller Förderung als Projektplattform, Rückkehr zu Systemen vertraglich vereinbarter Förderung, wie sie bereits einmal Praxis waren; ➤ Sicherstellung beruflicher Perspektiven durch (im Bereich der institutionellen Förderung) Bewilligungen bzw. Verträge mit einer mittleren Laufzeit von wenigstens fünf Jahren; ➤ Aufbau bzw. Weiterentwicklung kooperativer, trägerübergreifender Netzwerke kollegialer Beratung (als Methode der Sozialen Arbeit); und ➤ Absicherung externer Hilfen für Fälle beruflicher Be- und Überlastung (Supervision, Coaching, Lösungsorientierte Beratung u. Ä.). 3. Gegenüber den Fachkräften selbst: Problematisch wird es daher werden, wenn die Kraft zur Selbstmotivation von Fachkräften der Kinder- und Jugendarbeit durch die skizzierten (Arbeits-) Bedingungen nachhaltig geschwächt wird. Daher ergeht aber auch eine Anregung an die Adresse der Fachkräfte selbst: sich nämlich aktiver in der (gewerkschaftlichen und/ oder berufsständischen) Interessenvertretung zu engagieren und selbst aktiver an der Gestaltung der Rahmenbedingungen mitzuarbeiten (vgl. Seithe 2010, 2013, Conen 2011, 152ff ), z. B. durch jugendpolitische Einmischung und Arbeit an der Herstellung von Transparenz, die dem Eindruck der Beliebigkeit des Arbeitsfeldes aufgrund dessen struktureller Fragilität begegnet. 428 uj 10 | 2016 Arbeitssituation in der Kinder- und Jugendarbeit 4. Gegenüber Lehre und Forschung: Schließlich gilt es die Marginalisierung des Handlungsfeldes Kinder- und Jugendarbeit in der akademischen Lehre und Forschung zu sehen, ist doch schon seit bald zwei Dekaden zu beobachten, dass Themen der Kinder- und Jugendarbeit dort kaum noch eine Rolle spielen und Lehrveranstaltungen, die einer intensiven Hinführung zu diesem Arbeitsfeld dienlich sind, immer spärlicher angeboten werden. Solche De-Thematisierung leistet - nolens volens - der Infragestellung der Kinder- und Jugendarbeit Vorschub und erleichtert implizit durch Ausbildung durch das Prekarium geprägter Rahmenbedingungen. Ein verstärktes Lehr- und Forschungsengagement hier hilft die Bedingungen struktureller Fragilität aufzuhellen, Entwicklungspotenzial und -bedarf der Kinder- und Jugendarbeit zu identifizieren und Argumentationsgrundlagen für Arbeitsbedingungen jenseits des Prekariums entwickeln zu helfen. Prof. Dr. Peter-Ulrich Wendt Kirchplatz 5 37154 Northeim www.puwendt.de peter-ulrich.wendt@hs-magdeburg.de Literatur Böhnisch, L., Münchmeier, R. (1987): Wozu Jugendarbeit? Orientierungen für Ausbildung, Fortbildung und Praxis, Juventa, Weinheim/ München Conen, M.-L. (2011): Ungehorsam - eine Überlebensstrategie. Professionelle Helfer zwischen Realität und Qualität. Carl Auer, Heidelberg Kroll, L. E., Müters, S., Dragano, N. (2011): Arbeitsbelastungen und Gesundheit. In: Robert Koch-Institut (Hrsg.): GBE kompakt 5, Berlin Maroon, I. (2008): Burnout bei Sozialarbeitern und Sozialarbeiterinnen. Theorie und Interventionsperspektiven. In: Soziale Arbeit 5, 170 - 175 Müller, C. W. Kentler, H., Mollenhauer, W., Giesecke, H. (1964): Was ist Jugendarbeit? Vier Versuche zu einer Theorie. Juventa, München Poulsen, I. (2009): Burnoutprävention im Berufsfeld der Sozialen Arbeit. Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden Reiners-Kröncke, W., Röhrig, S., Specht, H. (2010): Burnout in der Sozialen Arbeit. ZIEL-Verlag, Augsburg Scherr, A. (1997): Subjektorientierte Jugendarbeit. Juventa, Weinheim/ München Seithe, M. (2010): Jeder kämpft für sich allein? Gedanken zur Notwendigkeit der (Wieder) Entdeckung der Solidarität in der Sozialen Arbeit. In: Forum Sozial 3, 22 - 26 Seithe, M. (2013): Zur Notwendigkeit der Politisierung der Sozialarbeitenden. In: Sozialmagazin 1 - 2, 24 - 31 Wendt, P.-U. (2005): Selbstorganisation Jugendlicher und ihre Förderung durch kommunale Jugendarbeit. Kovac, Hamburg