unsere jugend
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0342-5258
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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2016
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Belastungen von Erzieherinnen und Erziehern
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2016
Bernd Rudow
Die Belastungen von ErzieherInnen in Kindertageseinrichtungen, an der Ganztagsgrundschule und im Allgemeinen Sozialdienst nehmen weiter stark zu. Im Folgenden werden die hohen psychischen Belastungen dargestellt, die sich negativ auf die Berufstätigen auswirken. Aus diesem Grund sieht das Arbeitsschutzgesetz notwendige Maßnahmen zur Prävention und Gesundheitsförderung vor.
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429 unsere jugend, 68. Jg., S. 429 - 437 (2016) DOI 10.2378/ uj2016.art59d © Ernst Reinhardt Verlag München Basel von Prof. Dr. habil. Bernd Rudow Jg. 1947; Professor i. R. für Arbeitswissenschaften an der Hochschule Merseburg; Institutsdirektor, Wissenschaftler und Unternehmensberater Belastungen von Erzieherinnen und Erziehern Die Belastungen von ErzieherInnen in Kindertageseinrichtungen, an der Ganztagsgrundschule und im Allgemeinen Sozialdienst nehmen weiter stark zu. Im Folgenden werden die hohen psychischen Belastungen dargestellt, die sich negativ auf die Berufstätigen auswirken. Aus diesem Grund sieht das Arbeitsschutzgesetz notwendige Maßnahmen zur Prävention und Gesundheitsförderung vor. Belastung, Beanspruchung und Gesundheit Unseren Studien liegt ein arbeitswissenschaftliches Konzept zur Belastung, Beanspruchung und Gesundheit zugrunde, das sowohl für ErzieherInnen in der Kita wie in der Schule gilt. Ausgangspunkt ist der Arbeitsauftrag. Die Arbeitsaufgaben werden unter bestimmten Arbeitsbedingungen von den Erzieherinnen und Erziehern erfüllt. Arbeitsaufgaben und Arbeitsbedingungen stellen Arbeitsanforderungen dar. Die sozialen, geistigen und körperlichen Anforderungen führen zu Belastungen. Im Vollzug der Arbeitstätigkeit findet eine Konfrontation der objektiven Belastungen mit den individuellen Leistungsvoraussetzungen statt. Es geht vor allem darum, hohe Belastungen zu bewältigen. Die Belastungen führen während der Arbeitstätigkeit zur Beanspruchung des Pädagogen. Kurzfristig treten Beanspruchungsreaktionen, langfristig Beanspruchungsfolgen auf. Ausgehend vom Basismodell wurde ein Untersuchungskonzept zugrunde gelegt, das sowohl negative Beanspruchungsreaktionen (Ermüdung, Sättigung, Stress) sowie Beanspruchungsfolgen (Burnout, psychische oder psychosomatische Beschwerden) als auch positive Beanspruchungsfolgen (Wohlbefinden, Arbeitszufriedenheit) berücksichtigt (siehe Abb. 1). „Stress“ und „Ermüdung“ lassen sich wie folgt bestimmen (siehe ausführlich Rudow 2014): „Stress“ ist ein Zustand erhöhter psychophysischer Aktivierung, der besonders durch das Erleben einer Gefährdung von subjektiv bedeutsamen Bedürfnissen und Handlungszielen hervorgerufen wird und mit negativen Emotionen verbunden ist. Unter „Ermüdung“ wird eine als Folge von (Arbeits-)Tätigkeit auftretende Minderung der körperlichen und/ oder geistigen Leistungsfähigkeit verstanden. Burnout ist als Syndrom besonders durch drei Merkmale gekennzeichnet (Rudow 1995, 2014): körperliche, geistige und emotionale Erschöpfung. 430 uj 10 | 2016 Belastungen von Erzieherinnen und Erziehern Es ist zu betonen, dass Burnout im medizinischen Verständnis keine Krankheit ist, aber zweifelsohne ein Gesundheitsrisiko für Erzieher/ -innen darstellt. Nach unserem Konzept ist Burnout eine belastungsbedingte negative Beanspruchungsfolge (vgl. Rudow 2014). Während in der traditionellen Belastungsforschung überwiegend negative Beanspruchungsreaktionen und -folgen beachtet werden, wurde in unseren Studien das Wohlbefinden als positive Beanspruchungsfolge berücksichtigt (vgl. Abb. 1). Das Wohlbefinden hat eine zentrale Bedeutung für die psychische Gesundheit. Die Arbeitszufriedenheit ist integraler Bestandteil des Wohlbefindens. Eine wesentliche Bedeutung für die Auswirkungen von Belastungen auf die Beanspruchung, Gesundheit und Leistungsfähigkeit haben Ressourcen. Sie können die Auswirkungen von Arbeitsbelastungen auf die Beanspruchung und somit auf die Leistungsfähigkeit und Gesundheit von Pädagogen puffern oder reduzieren. Ressourcen liegen in der Tätigkeit selbst, in den organisatorischen Rahmenbedingungen und Persönlichkeitsmerkmalen der Fachkraft. Empirische Studien zur Belastung, Beanspruchung und zu Ressourcen Es wurden von uns seit dem Jahre 2000 mehrere empirische Studien zur Belastung, Beanspruchung und Gesundheit bei Erzieherinnen und Erziehern durchgeführt. Die erste große Untersuchung fand 2000 - 2004 in Baden-Württemberg bei Kita-ErzieherInnen (N = 947) statt (z. B. Rudow 2004). Eine weitere Studie mit Kita-ErzieherInnen (N = 310) erfolgte in Sachsen-Anhalt im Jahre 2005 (vgl. Rudow 2005). Eine umfangreiche Untersuchung an ErzieherInnen in Ganztagsschulen wurde 2013 - 2014 in Berlin durchgeführt (vgl. Rudow 2015). Darüber hinaus wurden die Belastungen im Allgemeinen Sozialdienst der Stadt Mannheim in den Jahren 2008 - 2009 erfasst und analysiert (vgl. Rudow 2010 b). Diesen Pilotstudien lagen folgende Fragestellungen zugrunde: 1. Welche Belastungen, vor allem psychische Belastungen, treten in der Arbeit der ErzieherInnen und Sozialarbeiter auf? 2. Wie ist der psychische Gesundheitszustand der ErzieherInnen und Sozialarbeiter)? Belastungen Ressourcen Ermüdung Sättigung Stress Burnout Wohlbefinden/ Arbeitszufriedenheit Psychische/ psychosomat. Beschwerden Abb.1: Positive und negative Beanspruchungsreaktionen und -folgen 431 uj 10 | 2016 Belastungen von Erzieherinnen und Erziehern 3. Welche Maßnahmen der Prävention und Gesundheitsförderung kommen im Rahmen des Arbeitsschutzes - ausgehend von den erkundeten Belastungen und Gesundheitsphänomenen - für ErzieherInnen und Sozialarbeiter infrage? Belastungen von Erzieherinnen und Erziehern in Kitas Nach unseren Studien in Baden-Württemberg und Sachsen-Anhalt treten folgende Hauptbelastungen in der Arbeit von Kita-ErzieherInnen auf: ➤ der tägliche Lärm (durchschnittlicher Schallpegel über 80 dB [A]) ➤ die große Anzahl verschiedenster Arbeitsaufgaben (Betreuungs-, Bildungs-, Erziehungs-, Verwaltungsaufgaben usw.) ➤ der Zeitdruck bei Erfüllung dieser Aufgaben ➤ die Größe der Kindergruppen ➤ die zunehmenden Verhaltensprobleme bei Kindern ➤ der Personalmangel in der Kita ➤ fehlende Möglichkeiten zur Entspannung im Laufe eines Arbeitstages ➤ eine unzureichende Unterstützung durch den Träger ➤ körperliche Belastungen durch ungünstige Körperhaltungen beim Spielen und Basteln oder beim Heben und Tragen von Kindern ➤ die hohe stimmliche Belastung Aus psychologischer Sicht ist die Tätigkeit von ErzieherInnen vor allem als Emotionsarbeit zu bezeichnen. Dies bedeutet: ErzieherInnen sollen ihre Gefühle am Arbeitsplatz mit dem Ziel der „guten“ Aufgabenerfüllung stets bewusst steuern und kontrollieren, sie allen Arbeitssituationen, egal ob leicht oder schwierig, anpassen, z. B. Launen gegenüber Kindern und Eltern unterdrücken, und vor allem positive Stimmung verbreiten. Es wird erwartet, dass man überwiegend positive Gefühle besonders gegenüber den Kindern und Eltern zeigt bzw. negative Gefühle unterdrückt. Wo überwiegend emotional gearbeitet wird, ist eine höhere Wahrscheinlichkeit zur Entwicklung von Burnout gegeben. Wir konnten feststellen, dass Burnout-Symptome bei etwa 10 Prozent der Kita-ErzieherInnen gegeben sind. Sie sind vorrangig Indikatoren geistiger, körperlicher und besonders emotionaler Erschöpfung. Dabei weisen Leitungskräfte etwas höhere Werte auf. Hauptsächliche Einflussfaktoren auf Burnout sind folgende: Hoher Zeitdruck, viele Arbeitsaufgaben und das Gratifikationsproblem. Letzteres bedeutet, dass ErzieherInnen im Verhältnis zu ihrem erlebten Engagement und Aufwand in der Arbeitstätigkeit zu wenig Anerkennung und Wertschätzung von den Kindern, den Eltern, der Kita-Leitung und dem Träger erhalten. Im engen Zusammenhang mit Burnout steht der Auftritt von psychischen und psychosomatischen Beschwerden. Diese Beschwerden sind bei Erzieherinnen und Erziehern im Vergleich mit anderen Berufen überdurchschnittlich ausgeprägt. An erster Stelle stehen Kopfschmerzen, die während der Arbeit und auch zu Hause auftreten (52,3 %). Es folgen leichte Ermüdbarkeit, Rückenschmerzen, Nackenschmerzen, erhöhte Reizbarkeit und Kreuzschmerzen. Belastungen und Beanspruchung von Erzieherinnen und Erziehern an der Ganztagsgrundschule Folgende Belastungsfaktoren treten in der Erziehungsarbeit an der Ganztagsschule häufiger auf (siehe ausführlich Rudow 2015): ➤ Die Personalausstattung betrifft die Anzahl der ErzieherInnen im Verhältnis zur Anzahl der zu betreuenden Kinder (Fachkraft-Kind-Relation). Es wird darüber 432 uj 10 | 2016 Belastungen von Erzieherinnen und Erziehern geklagt, dass die Anzahl der Kinder mit besonderen Förderbedarfen (im Lernen, in der Sprache, im emotional-sozialen Bereich) stark angestiegen ist und die Personalausstattung dem nicht gerecht wird. ➤ Ein weiterer Belastungsfaktor sind die Arbeitsaufgaben. Die Erzieher/ -innen schätzen kritisch ein, dass sie in der Regel mehr als vier Stunden in der Woche, oft sogar zehn Stunden oder mehr in der Woche unterrichtsbegleitend tätig sind, sie im Verlaufe des Arbeitstages besonders für die Kinder ständig präsent sein müssen (Daueraufmerksamkeit), die Planbarkeit täglicher Arbeitsaufgaben aufgrund unvorhersehbarer Situationen (z. B. Ausfall von Kolleginnen) nur begrenzt möglich ist und die qualitätsgerechte Erfüllung der Vielzahl pädagogischer Aufgaben schwerfällt. Hohe Belastungen - nicht nur psychisch, sondern auch körperlich - stellen der permanente Lärm sowie das anhaltende Stehen und ungünstige Sitzen auf Kinderstühlen dar. Das Raumproblem wird in vielen Schulen als Belastungsfaktor erlebt. Es betrifft die Doppelnutzung des Klassenraums, geringe Raumgrößen im Verhältnis zur Kinderanzahl und fehlende Funktionsräume für Kinder. Belastend sind ferner der fehlende persönliche Arbeitsplatz sowie das Fehlen von Personal- und Pausenräumen. Das arbeitsbedingte Stress- und Ermüdungserleben sind bei den Erzieherinnen und Erziehern stark ausgeprägt. Das Stresserleben ist durch folgende von den Erzieherinnen und Erziehern benannte Belastungsfaktoren bestimmt (Häufigkeitsangabe in %): ➤ unzureichende Personalausstattung (86 % der ErzieherInnen) ➤ Gefühl der Überforderung (69 %) ➤ widersprüchliche Anforderungen von Schulleitung, Lehrkräften und Eltern (82 %) ➤ Störungen/ Unterbrechungen im täglichen Arbeitsablauf (93 %) ➤ Termin- und Zeitdruck (91 %) ➤ hohes Verantwortungsgefühl für die Kinder (99 %) Das Ermüdungserleben wird durch diese subjektiven Belastungsfaktoren bestimmt: ➤ äußere Arbeitsbedingungen wie Lärm, Stühle und Tische (93 %) ➤ unzureichende Möglichkeiten der Entspannung und Erholung (92 %) ➤ fehlende Räume zur Erholung (88 %) ➤ nachlassende Konzentration im Laufe des Arbeitstages (95 %) ➤ ständiger Kontakt bzw. Reden mit verschiedenen Menschen (95 %) ➤ ständige Aufmerksamkeit gegenüber vielen Kindern (99 %) Burnout-Symptome sind identifiziert worden. Es fühlen sich 13 % (Gesamtstichprobe) und 15 % der älteren ErzieherInnen (über 50 Jahre) täglich emotional ausgelaugt. 16 % (Gesamtstichprobe) und 17 % (ältere ErzieherInnen) fühlen sich täglich durch ihre Arbeit „ausgebrannt“. Die Ergebnisse weisen auf eine Burnoutgefährdung durch die Arbeitstätigkeit hin. Unter den Beschwerden tritt die Ermüdbarkeit am häufigsten auf. Danach folgen Rücken-, Nacken-, Kopf- und Kreuzschmerzen. Bei den älteren Erzieherinnen treten hauptsächlich Rücken-, Nacken- und Kreuzschmerzen auf. Auffällig sind bei ihnen zudem Gelenk- oder Muskel-Skelett-Beschwerden und Schlafstörungen. Die Zufriedenheit mit dem Beruf (Allgemeine Arbeitszufriedenheit), welche bei Erzieherinnen und Erziehern überwiegend festzustellen ist, steht vorrangig im Zusammenhang mit folgenden Tätigkeitsmerkmalen: ➤ die Arbeitsaufgaben (Inhalte und Abwechslung) 433 uj 10 | 2016 Belastungen von Erzieherinnen und Erziehern ➤ die Möglichkeiten, bei der Erziehung und Bildung der Kinder mitwirken zu können ➤ die Effektivität der pädagogischen Arbeit (Erfolgserlebnisse) ➤ die selbstständige und kreative Arbeit ➤ Verhältnis von Arbeit und Freizeit (Work- Life-Balance) Die kritische Belastungssituation und ihre negativen Auswirkungen auf die Gesundheit und Leistungsfähigkeit sind nach Meinung der ErzieherInnen auf folgende Probleme zurückzuführen (Rangreihe nach Häufigkeit der Benennungen): Es fehlt eine verbindliche Tätigkeitsbzw. Aufgabenbeschreibung. Die Regelung gilt vor allem für die Vor- und Nachbereitungszeiten (in und außerhalb der Schule). ErzieherInnen haben keinen Rechtsanspruch auf diese Zeiten. Es fehlen verlässliche Zeiten für die mittelbare pädagogische Arbeit (mpA). Als weiteres Problem wurde der Umfang der unterrichtsbegleitenden Unterrichtstätigkeit benannt. Wenn Lehrkräfte ausfallen, so werden diese häufig von ErzieherInnen vertreten. Sie geben an, dass sie oft zehn bis zwölf Stunden in der Woche im Unterricht tätig sind. Dabei ist zu bedenken, dass ErzieherInnen für die Lehrtätigkeit in der Regel nicht qualifiziert sind (und auch nicht entlohnt werden). Pointiert formuliert: ErzieherInnen wollen und können nicht im Schulbetrieb „Lückenbüßer“, „Feuerwehr beim Ausfall von Lehrkräften“ oder „Ersatzlehrer“ sein. Ein anderes Problem ist das Verhältnis der ErzieherInnen zur Schulleitung und zu Lehrkräften. Die Zusammenarbeit einer Erzieherin mit einer Lehrkraft ist belastend, wenn pädagogische Konzepte und Arbeitsstile von ihnen nicht übereinstimmen. Dabei beklagen ErzieherInnen, dass sie bei unterschiedlichen pädagogischen Auffassungen den „Kürzeren“ ziehen. Ferner betrachten Schulleitung und Lehrpersonen die Tätigkeit der ErzieherInnen oft als zweitrangig. Ein weiteres Problem ist die ganztägige Rhythmisierung besonders im Gebundenen Ganztagsbetrieb (GGB). Der Unterrichtsrhythmus bestimmt wesentlich den Ablauf in der Ganztagsschule. Durch eine gute Rhythmisierung ist ein leistungs- und gesundheitsförderlicher Wechsel von Arbeit und Ruhe, von Anspannung und Entspannung für ErzieherInnen wie für Kinder zu erreichen. Ein Problem ist die mangelnde Anerkennung, Wertschätzung und Akzeptanz der Arbeit von Erzieherinnen und Erziehern. Dies zeigt sich u. a. im Führungsstil der Schulleitung, bei dem die unterrichtliche Versorgung durch die Lehrkräfte die Priorität hat, die Tätigkeit der ErzieherInnen aber wenig Interesse, Unterstützung und Anerkennung erfährt, in der Einstellung der Lehrkräfte, die weder die Vertretung von ErzieherInnen im Unterricht noch die Erziehungs- und Betreuungsarbeit in der unterrichtsfreien Zeit der Kinder genügend schätzen. Allgemeiner Sozialer Dienst (ASD) Es wurden zahlreiche Belastungsfaktoren ermittelt, die bei häufigem Auftritt mit größerer Wahrscheinlichkeit negativen Einfluss auf Gesundheit und Leistungsfähigkeit der Sozialarbeiter haben (siehe dazu Rudow 2010 b). Es belasten in erster Linie Verwaltungsaufgaben, besonders Falldokumentationen, da sie zeitaufwendig sind und in diesem Umfang nicht als sinnvoll angesehen werden. Diese Belastung führt oft dazu, dass die offizielle Arbeitszeit zur Erfüllung aller Arbeitsaufgaben nicht ausreicht und die Lösungsqualität der Fälle geringer wird. Die Mehrfachbelastung ist zudem gegeben, da der Großteil der 434 uj 10 | 2016 Belastungen von Erzieherinnen und Erziehern ASD-Beschäftigten ältere Mitarbeiter sind, deren psychophysische Belastbarkeit nachlässt. Es ist ein dauerhaft anhaltender Zeitdruck bei Erfüllung von Fach- und Verwaltungsaufgaben gegeben. Der Zeitdruck führt oft dazu, dass „Sozialarbeit am Fließband“ verrichtet wird. Es ist eine hohe Komplexität, Intransparenz und Unvorhersehbarkeit der zu lösenden Fälle zu verzeichnen. Die Schwierigkeit der Fälle hat nach Aussagen vieler Mitarbeiter in den letzten Jahren signifikant zugenommen. Es fehlt oft die Wertschätzung und Anerkennung der schwierigen und verantwortungsvollen Arbeit durch Arbeitgeber und Vorgesetzte. Ressourcen in der Erziehungsarbeit und im Sozialdienst Ressourcen dienen nicht nur als Schutzfaktoren der Gesundheit, sondern sie sind darüber hinaus Motivationsfaktoren für eine gute Erziehungs- und Sozialarbeit. In unseren Studien zeigten sich bei den Erzieherinnen und Erziehern folgende Ressourcen: ➤ die Bedeutung der persönlichen Arbeit für das Leben und Wohlbefinden der Kinder (Bedeutsamkeit der Arbeit) ➤ die Einflussnahme auf die Persönlichkeitsentwicklung der Kinder (Handlungswirksamkeit) ➤ der Abwechslungsreichtum in der Arbeit (Anforderungsvariabilität) ➤ die Unterstützung durch KollegInnen (soziale Hilfe) ➤ die Möglichkeit, eigene Ideen in der Arbeit mit Kindern umzusetzen (Kreativität) ➤ das selbstständige Treffen von Entscheidungen bei der Arbeit mit Kindern (Autonomie) ➤ die Lernmöglichkeiten in und durch die Arbeit (Lernpotenzial) Es ist bezeichnend, dass die Arbeitszufriedenheit als Basisressource der ErzieherInnen vorrangig durch genannte Tätigkeitsmerkmale bestimmt wird. Die wichtigste Ressource im Sozialdienst ist die Teamarbeit. Die Bedeutung des Teams wurde anschaulich, indem zum Beispiel ein Mitarbeiter im Interview aussagte: „Das Team ist das A und O unserer Arbeit.“ Bei der Teamarbeit wird besonders die kollegiale Fallberatung als Bestandteil der Hilfeplanung von den Mitarbeitern geschätzt. Deshalb ist es wichtig, dass die kollegiale Beratung unter optimalen äußeren Bedingungen (Zeit, Raum usw.) weiterhin gepflegt wird. Es bedarf einer kompetenten, regelmäßigen (wöchentlichen), transparenten und verbindlichen kollegialen Fallberatung im Team. Arbeitsaufgaben Arbeitsorganisation Klienten Es sind viele HZE-Fälle zu lösen. Es sind viele KWG-Fälle zu lösen. Die Fälle sind komplex und schwierig. Jeder Fall ist ausführlich zu dokumentieren. Es ist notwendig, die Fälle schnell zu lösen. Die Fälle sind nicht transparent und voraussehbar. Es ist (nicht) ausreichend Zeit, alle Fälle in guter Qualität zu lösen. Es steht im Amt (nicht) genügend Fachpersonal für die Bearbeitung der Fälle zur Verfügung. Die offizielle Arbeitszeit reicht für die Bearbeitung der Fälle (nicht) aus. Durch den Ausfall von Kollegen fällt Mehrarbeit an. Es gibt Fälle, die mich emotional sehr bewegen. Bei den Sachgebietsleitern treten diese Hauptbelastungen auf: 1. Dem Sachgebietsleiter stehen bei schwierigen Mitarbeitern nicht genügend Handlungsmöglichkeiten zur Verfügung. 2. Der Umgang mit schwierigen Mitarbeitern bereitet Probleme. Tab. 1: Belastung durch Arbeitsaufgaben, Arbeitsorganisation und Klienten des ASD 435 uj 10 | 2016 Belastungen von Erzieherinnen und Erziehern Maßnahmen und Instrumente zum Gesundheitsmanagement Für die Prävention und Gesundheitsförderung kommen grundsätzlich drei Ansätze infrage (vgl. Abb. 2; siehe ausführlich Rudow 2010 a, 2014). Personenbezogene Maßnahmen Hier ist zuerst das Stressbewältigungstraining zu nennen. Dabei lernen die ErzieherInnen, mit ihren Belastungen in Arbeit und Freizeit besser umzugehen (Rudow 2007). Entspannungsübungen, wie z. B. die Progressive Muskelrelaxation nach Jacobson oder das Autogene Training, gehören ebenfalls dazu. Vom Autor wurde ein Belastungs-Bewältigungs-Training für ErzieherInnen (BBT-E) entwickelt und empirisch evaluiert, das den Belastungen und Ressourcen der Gesundheit von ErzieherInnen umfassend gerecht wird. Da die Arbeit überwiegend eine sozial-interaktive Tätigkeit mit diversen Bezugspersonen ist, treten relativ häufig Konflikte auf. Aus dem Grund ist das Konfliktmanagement zu empfehlen. Nachholbedarf besteht in dem Kontext auch bei der Entwicklung der sozialen Kompetenz. Ist diese unzureichend, kommt es häufiger zu Stressreaktionen. Demzufolge ist es erforderlich, Methoden zur Verbesserung der sozialen Kompetenz bei ErzieherInnen anzuwenden. Auch eine unzureichende pädagogische Kompetenz bei Erfüllung der zahlreichen Bildungs-, Erziehungs- und Betreuungsaufgaben führt oft zu erhöhten psychischen Belastungen. Deshalb ist zu fragen, ob die gegenwärtige fachliche Aus- und Weiterbildung der ErzieherInnen in Deutschland den beruflichen Anforderungen der Praxis gerecht wird. Zur Vorbeugung von arbeitsbedingten Rücken-, Nacken- und Kreuzbeschwerden ist es erforderlich, körper- und bewegungsgerechtes Arbeiten zu üben. Dies gilt besonders für das Heben von Lasten. Ferner sollten wirbelsäulenbelastende Bewegungen, wie beispielsweise das seitliche Drehen des Rumpfes oder das Vorbeugen des Oberkörpers, in der Arbeit vermieden werden. Person ➤ Stressbewältigung/ Entspannung ➤ Konfliktmanagement ➤ Zeitmanagement ➤ Soziale Kompetenz ➤ Pädagogische Kompetenz ➤ Körper- und bewegungsgerechtes Arbeiten Organisation ➤ Führung und Leitbild ➤ Gesundheitszirkel ➤ Coaching ➤ Supervision ➤ Aus-, Weiter- und Fortbildung ➤ Work-Life-Balance ➤ Arbeitsmed. Vorsorge Arbeitstätigkeit ➤ Arbeitsaufgaben ➤ Arbeitsorganisation ➤ Arbeitszeit/ -pausen ➤ Arbeitsstätte/ -platz ➤ Arbeitsumgebung ➤ Arbeitsmittel Maßnahmen der Verhältnis- und Verhaltensprävention bei Erzieherinnen und Erziehern Abb. 2: Maßnahmen der Verhältnis- und Verhaltensprävention bei Erzieherinnen und Erziehern 436 uj 10 | 2016 Belastungen von Erzieherinnen und Erziehern Organisationsbezogene Maßnahmen Kindertagesstätten stehen in der Organisationsentwicklung noch am Anfang. Dies gilt auch für den Arbeits- und Gesundheitsschutz. Folgende Maßnahmen sind für die Gesundheitsförderung erforderlich: Das Leitbild stellt die Orientierung für ein einheitliches gemeinsames Handeln von LeiterInnen, ErzieherInnen, dem Träger und auch den Eltern dar. Es ist die Plattform für die Entwicklung und Stabilisierung einer Organisations- und Führungskultur, u. a. einer Gesundheitskultur. Da die Arbeit von Erzieherinnen und Erziehern überwiegend als semiprofessionell bewertet wird, wird die Notwendigkeit der professionellen Ausund/ oder Weiterbildung von LeiterInnen oft unterschätzt. Dies ist jedoch falsch, wenn man bedenkt, dass auch Kindertageseinrichtungen sich zunehmend der Qualitätsprüfung stellen. Zur Qualität einer Organisation gehört besonders die Führungsqualität. Diese Binsenweisheit der Führungslehre gilt aber bislang kaum für Kitas, denn hier wird oft „aus dem Bauch heraus“ geführt, weil überwiegend erfahrene, aber nicht speziell geschulte ErzieherInnen LeiterIn werden. Eine weitere wichtige Bedingung ist die Aus- und Weiterbildung von Leiterinnen und Leitern. Dazu zählen die Vermittlung von Kompetenzen zur Konzeptentwicklung, zur Beratung von ErzieherInnen, zur Personal- und Organisationsentwicklung, zur Einbeziehung der Eltern und zur Vernetzung mit weiteren Einrichtungen der Sozialarbeit, der Jugendhilfe, der Familienbildung und mit Schulen. Im Gesundheitszirkel findet die aktive Einbeziehung von Beschäftigten in Informations-, Kommunikations-, Planungs- und Gestaltungsprozesse der Organisation statt. Da Gesundheitszirkel zunehmend psychische bzw. psychosoziale Belastungen thematisieren, bieten sie sich auch zur Prävention und Gesundheitsförderung in der Kindertagesstätte an. Durch sie werden die ErzieherInnen befähigt, ihre Arbeitsbelastungen und Beanspruchungen realistisch wahrzunehmen, differenziert zu artikulieren und bei deren Vorbeugung oder Bewältigung aktiv mitzuwirken. Als Supervision verstehen wir die Reflexion von beruflichen Problemen mit dem Ziel, die soziale und/ oder pädagogische Handlungskompetenz in belastenden Situationen zu entwickeln. Hier hat die Erzieherin die Chance, über ihre Kompetenzen, ihre oft widersprüchlichen Rollen als Erzieherin oder über das berufliche Selbstverständnis im Kontakt mit einem Berater oder mit Kollegen zu reflektieren. Mit Coaching ist die problembezogene Beratung von Teams oder Beschäftigten durch einen Experten (Coach) gemeint. Es bezieht sich mithin auf Belastungs- und Gesundheitsprobleme und deren Ursachen. Ein professionelles Coaching-System ist vorrangig für Kita-LeiterInnen zu empfehlen. Die Verbesserung des Personalschlüssels bzw. die Verringerung der Gruppengrößen wird wiederholt gefordert. In dem Kontext ist die Beschäftigung von Zusatzbzw. Springkräften gewünscht. Arbeitsbezogene Maßnahmen Ein Hauptproblem der Arbeitsorganisation ist die Anzahl verschiedenster Arbeitsaufgaben, die ErzieherInnen zu erfüllen haben. Es sind folgende Maßnahmen zu empfehlen: ➤ Arbeitsaufgabenanalyse unter Belastungsaspekt durchführen ➤ Arbeitsaufgaben anders planen und/ oder aufteilen ➤ Zeit für Vorbereitungsarbeiten bzw. mittelbare pädagogische Arbeit (mpA) einplanen ➤ Anteil und Relationen von Erziehungs-, Bildungs-, Betreuungs-, Verwaltungs- und weiteren Aufgaben klären ➤ ErzieherInnen in Dienstplangestaltung stärker einbeziehen 437 uj 10 | 2016 Belastungen von Erzieherinnen und Erziehern Zur besseren Gestaltung der Arbeitszeit gehören eine feste Pausenregelung und eine langfristige Planung der Arbeitszeit. Zur Verringerung sich überschneidender Personenkontakte, besonders während der Abholsituation, und damit zur Reduktion von Unterbrechungen bei der Tätigkeitsausübung, sollten Pausenregelungen frühzeitig getroffen werden. Bei den Arbeitszeiten sollte eine langfristige Planung erfolgen. Ein vierwöchiger Planungszeitraum sollte sichergestellt werden. Ferner ist, besonders für ältere ErzieherInnen, die Anwendung flexibler Arbeitszeitmodelle zu prüfen. Bei der Arbeitsplatzgestaltung geht es vor allem um die Bereitstellung von ergonomischen Tischen für ErzieherInnen (Mindesthöhe 70 cm), von Hochstühlen für Kinder (mit variabler Sitzhöhe und Fußplatte) und von Stühlen für ErzieherInnen (mit variabler Sitzhöhe). Ferner ist zu prüfen, ob für ErzieherInnen ein Pausenraum für Entspannung und Erholung zur Verfügung gestellt werden kann. Das Hauptproblem der Arbeitsumwelt ist der Lärm. Seiner Bekämpfung dienen folgende Maßnahmen: ➤ den Kindern ein Lärm-Bewusstsein vermitteln, indem z. B. ein Vorlese-Bilderbuch mit entsprechender Thematik eingesetzt wird ➤ eine Lärm-Ampel zur Sensibilisierung der Kinder implementieren ➤ Baumaßnahmen durchführen lassen (z. B. Einbau schallabsorbierender Decken und Wände sowie trittschalldämmender Böden) ➤ Raumgestaltung zur Lärmminderung (z. B. Anordnung der Möbel verändern) ➤ pädagogische Maßnahmen einführen, z. B. Entspannungsübungen mit Kindern durchführen oder Regeln für ErzieherInnen im Umgang mit verhaltensgestörten Kindern aufstellen. Prof. em. Dr. rer. nat. habil. Bernd Rudow Institut für Gesundheit & Organisation (IGO) Oskar-Kokoschka-Straße 19 68519 Viernheim Mobil: (01 71) 4 48 79 60 E-Mail: b.rudow@t-online.de Literatur Rudow, B. (2015): Belastungen von Erzieherinnen in der Arbeit an der Schule (Berliner Modellprojekt) - BEAS Berlin. GEW, Berlin. In: www.gew-berlin.de Rudow, B. (2014): Die gesunde Arbeit. Psychische Belastungen, Arbeitsgestaltung und Arbeitsorganisation. De Gruyter Oldenbourg Wissenschaftsverlag, München, Berlin, Boston, http: / / dx.doi.org/ 10.1524/ 9783486855784 Rudow, B. (2010 a): Instrumente der Gesundheitsförderung. In: GEW (Hrsg.): Ratgeber. Betriebliche Gesundheitsförderung im Sozial- und Erziehungsdienst. GEW, Berlin, 27 - 34 Rudow, B. (2010 b): Überlastung im Amt. Macht Soziale Arbeit krank? Sozialmagazin 10, 10 - 22 Rudow, B. (2007): Arbeitsschutz, Belastungen und Belastungsbewältigung bei Erzieherinnen (ABBE-Projekt). Projektbericht. In: www.boeckler.de Rudow, B. (2005): Belastungen und der Arbeits- und Gesundheitsschutz in Sachsen-Anhalt. Projektbericht. In: www.ukst.de Rudow, B. (2004): Hohe psychische Belastungen. Bildung & Wissenschaft. Extraausgabe. Juli 2004, 6 - 11 Rudow, B. (1995): Die Arbeit des Lehrers. Verlag Hans Huber, Bern/ Göttingen/ Toronto/ Seattle
