eJournals unsere jugend 68/10

unsere jugend
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0342-5258
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/uj2016.art56d
101
2016
6810

Kinder- und Jugendhilfe

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2016
Eva Hungerland
Um die Belastungen für die Akteure im Bereich der Kinder- und Jugendhilfe adäquat aufzugreifen und einzuordnen, sind theoretische und praktische Ansätze gefragt, die die institutionelle, arbeitsbezogene und personenbezogene Ebene in ihrer Interdependenz und ihrem Zusammenwirken verstehen. Der Betrieblichen Gesundheitsförderung kommt dabei ein zentraler Stellenwert zu.
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402 unsere jugend, 68. Jg., S. 402 - 410 (2016) DOI 10.2378/ uj2016.art56d © Ernst Reinhardt Verlag München Basel Kinder- und Jugendhilfe Eine gesundheitliche Belastung für Leitungs- und Fachkräfte? Um die Belastungen für die Akteure im Bereich der Kinder- und Jugendhilfe adäquat aufzugreifen und einzuordnen, sind theoretische und praktische Ansätze gefragt, die die institutionelle, arbeitsbezogene und personenbezogene Ebene in ihrer Interdependenz und ihrem Zusammenwirken verstehen. Der Betrieblichen Gesundheitsförderung kommt dabei ein zentraler Stellenwert zu. von Prof. Dr. med. Eva Hungerland Jg. 1964; Professorin für Gesundheitswissenschaften und Sozialmedizin; Schwerpunkt Gesundheitsförderung an der Dualen Hochschule Stuttgart; Fachärztin für Arbeitsmedizin Fach- und Leitungskräfte in der Kinder- und Jugendhilfe sind unterschiedlichen Arbeitsanforderungen ausgesetzt. Kinder- und Jugendhilfe umfasst jeweils komplexe Handlungsfelder mit differenzierten Tätigkeiten und Aufgaben; entsprechend sind die Belastungen zu unterscheiden. Da Kinder- und Jugendhilfe den sozialen Berufen zuzuordnen ist, die ihrerseits wiederum als Dienstleistungs- und Wissensarbeit charakterisiert sind, stellen die dazu gehörenden Arbeitsbelastungsprofile die psychischen Belastungen in den Vordergrund (Glaser/ Seubert 2014, 50). Der Begriff „Belastung“ ist im Alltagsverständnis meistens negativ besetzt, wird mit negativem „Stress“, also mit Distress assoziiert. Die arbeitswissenschaftliche Betrachtung versteht arbeitsbedingte psychische Belastung jedoch wertneutral, weder prinzipiell negativ noch positiv. Gleichzeitig ist festzuhalten, dass die Belastungen unterschiedlich auf den Menschen einwirken, was zu individuellen gesundheitlichen Ausprägungen führen kann. Dieses differenzierte Wirkungsgefüge soll im Folgenden dargestellt werden, um darauf basierend Möglichkeiten der Vorbeugung und der Gesunderhaltung aufzuzeigen. Belastung und Beanspruchung Berufliche Belastungen sind seit Jahrzehnten Gegenstand der Arbeitsphysiologie und Arbeitspsychologie. Nach Rohmert und Rutenfranz sind Belastungen objektive, von außen einwirkende Faktoren der Umgebung und Situation. Sie können körperlicher oder psychischer Natur sein. Die je nach individuellen Voraussetzungen und Ressourcen unterschiedlichen Auswirkungen dieser Belastungen auf den Menschen werden von den Autoren als Beanspruchungen definiert (Rohmert/ Rutenfranz 1975). Diese können das ganze Spektrum zwischen Weiterentwicklung der geistigen und körperlichen Fähigkeiten und gesundheitlichen Beschwerden umfassen. 403 uj 10 | 2016 Kinder- und Jugendhilfe - Eine gesundheitliche Belastung? Die für den Arbeitsschutz gültige DIN EN ISO 10075-1 greift das Belastungs-Beanspruchungsmodell auf und definiert psychische Belastung und psychische Beanspruchung im Rahmen dieser international gültigen Norm. „Psychische Belastung“ wird als „Gesamtheit aller erfassbaren Einflüsse, die von außen auf den Menschen zukommen und psychisch auf ihn einwirken“ definiert. Unter „psychischer Beanspruchung“ wird die „unmittelbare (nicht die langfristige) Auswirkung der psychischen Belastung im Individuum in Abhängigkeit von seinen jeweiligen überdauernden und augenblicklichen Voraussetzungen, einschließlich der individuellen Bewältigungsstrategien“ verstanden (Deutsches Institut für Normung 2000). Die psychische Beanspruchung ist, wie dargestellt, nicht nur von den persönlichen Ressourcen und den Bewältigungsstrategien abhängig, sondern von den jeweiligen Arbeitsbedingungen. Diese Merkmalsbereiche sind arbeitsplatzbzw. tätigkeitsspezifisch und können zu unterschiedlichen psychischen Beanspruchungen führen. Sie lassen sich (in Anlehnung an die Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin - BAuA - 2010, 11) wie folgt kategorisieren: ➤ die Arbeitsaufgabe (z. B. Art und Umfang der Tätigkeit, Verantwortung, schwierige Aufgaben erfüllen) ➤ die Arbeitsumgebung (z. B. Führungsverhalten, Team, Betriebsklima) ➤ die Arbeitsmittel (d. h. alle technischen Komponenten am Arbeitsplatz) ➤ die Arbeitsorganisation (z. B. Arbeitszeit, Informationen) ➤ der Arbeitsplatz (direkte Arbeitsumgebung) Diese Unterscheidung der Arbeitsbedingungen ist nicht zuletzt deshalb sinnvoll, da sie bei psychische/ physische Belastung individuelle Voraussetzungen/ Ressourcen Weiterentwicklung geistiger und körperlicher Fähigkeiten Gesundheitliche Beschwerden Beanspruchung groß klein Abb. 1: Belastungs-Beanspruchungsmodell 404 uj 10 | 2016 Kinder- und Jugendhilfe - Eine gesundheitliche Belastung? den nötigen Überlegungen bezüglich Vorbeugung und Gesunderhaltung zu berücksichtigen sind (BAuA 2013, 32). Aufgabenbereiche/ Handlungsfelder der Kinder- und Jugendhilfe In welchem strukturellen Umfeld bewegen sich Leitungs- und Fachkräfte in der Kinder- und Jugendhilfe? Ist es möglich, von der „einen“ gesundheitlichen Belastung zu sprechen? Welche spezifischen Verantwortungsbereiche in der Kinder- und Jugendhilfe führen zu erhöhten Arbeitsbelastungen? § 3 Abs. 1 SGB VIII KJHG beschreibt das Berufsfeld der Kinder- und Jugendhilfe wie folgt: „Die Kinder- und Jugendhilfe ist gekennzeichnet durch die Vielfalt von Trägern unterschiedlicher Werteorientierungen und die Vielfalt von Inhalten, Methoden und Arbeitsformen.“ Bereits diese Ausführung lässt den Schluss zu, dass von „dem“ strukturellen Umfeld nicht gesprochen werden kann. Dies bedeutet aber auch, dass die oben dargestellten Merkmalsbereiche wegen der vielfältigen Träger, Wertorientierungen, Methoden und Arbeitsformen nicht die „eine“ psychische Belastung zur Folge haben. Auch Erwin Jordan konstatiert: „Die Praxis der Jugendhilfe systematisch darzustellen, erweist sich als schwierig, weil ihre Handlungsfelder sehr unterschiedlich sind“ (Jordan 2005, 16). Eine nachvollziehbare Unterscheidung der Aufgaben bzw. Handlungsfelder bieten Struck und Schröer (2011, 726) gemäß §§ 11 - 60 SGB VIII/ KJHG an: ➤ Jugendarbeit, Jugendsozialarbeit, erzieherischer Kinder- und Jugendschutz ➤ Förderung der Erziehung in der Familie ➤ Förderung von Kindern in Tageseinrichtungen und Tagespflege ➤ Hilfen zur Erziehung, Eingliederungshilfe für seelisch behinderte Kinder und Jugendliche, Hilfe für junge Volljährige ➤ Andere Aufgaben Spezifische Belastungsfaktoren der Akteure in der Kinder- und Jugendhilfe So vielfältig die Aufgabenbereiche, Inhalte und Arbeitsformen, so unterschiedlich sind die psychischen Belastungen und daraus folgenden Beanspruchungen. Alle Handlungsfelder der Kinder- und Jugendhilfe besitzen aber - unabhängig von den Arbeitsaufgaben und -mitteln sowie der Arbeitsorganisation usw. - immanent ausgewählte Belastungsfaktoren, die für alle in diesen Bereichen Tätigen gelten: ➤ das Doppelmandat ➤ die Allzuständigkeit und Ganzheitlichkeit ➤ die fehlende Monopolisierung ➤ die Helferrolle Eine gemeinsame Herausforderung, die sich in allen Bereichen wiederfindet, ist das Thema des „Doppelmandats“, also die Gleichzeitigkeit von „Hilfe“ und „Kontrolle“. So sollen die in der Kinder- und Jugendhilfe Tätigen gleichzeitig helfen, unterstützen, fördern und parallel dazu das Wohl des Kindes im Auge behalten und eingreifen, wenn dieses Wohl gefährdet ist (Schröer/ Struck/ Wolff 2016, 1108). Hierbei handelt es sich um ein permanentes Spannungsfeld, um einen Widerspruch, der in der Arbeitsaufgabe selbst besteht und täglich neu zu lösen ist. Eine weitere gemeinsame Problematik für alle in der Kinder- und Jugendhilfe Tätigen ist deren Auftrag und Anspruch „ganzheitlich zu handeln“ im Sinne der Allzuständigkeit und Alltagsorientierung. Dieser Anspruch führt dazu, sich grundsätzlich für „alles“ als zuständig zu definieren und positionieren, „für alles was das (Alltags-)Leben an Problemen hergibt“ (Galuske 2011, 933) Hilfe anzubieten. Die damit u. a. einhergehende Komplexität, Unüberschaubarkeit, Menge und oft auch Strukturlosigkeit der Aufgaben hat besondere Belastungen zur Folge. Auch hier handelt es sich um ein permanentes Spannungsfeld, das in der Arbeitsaufgabe selbst 405 uj 10 | 2016 Kinder- und Jugendhilfe - Eine gesundheitliche Belastung? begründet ist, die u. a. eine entsprechende Problemlösefähigkeit der in der Kinder- und Jugendhilfe Tätigen erfordert. Kinder- und Jugendhilfe steht in multiprofessionellen Kontexten mit anderen Berufsgruppen wie z. B. Medizinern, Juristen und Psychologen. Da die „Exklusivität“ für den eigenen Handlungsbereich angegriffen wird, tendieren in der Kinder- und Jugendhilfe Tätige dazu, sich so zu verhalten, als hätten sie keine„eigene Rolle“. Genauer: sie sind damit befasst und werden damit konfrontiert, um die eigene Profession kämpfen zu müssen. Als Motiv für die Wahl eines Berufes in der Kinder- und Jugendhilfe wird häufig der Wunsch genannt, anderen zu helfen. Dabei wird das Einbringen der eigenen Persönlichkeit („Helferrolle“) als ein wichtiges Instrument verstanden. Gleichzeitig erfordert aber eine professionelle Beziehung Distanz zum Klienten. Der daraus sich ergebende Spagat zwischen Nähe und Distanz ist eine permanente Anstrengung für die in diesem Berufsfeld Engagierten. Spezifische Belastungsfaktoren der Leitungs- und Fachkräfte Je nach Funktion innerhalb der Hierarchie der Institution ergeben sich spezifische Belastungsfaktoren, die es zu erkennen und zu berücksichtigen gilt. Entsprechend sind Leitungskräfte mit anderen Belastungsfaktoren konfrontiert als Fachkräfte. Darüber hinaus hat auch das Führungsverhalten von Leitungskräften Auswirkungen auf die Gesundheit der Fachkräfte (Stilijanov 2012, 123). Leitungskräfte wiederum befinden sich in einer „Sandwichposition“ zwischen übergeordneten Trägern oder Behörden und den Fachkräften, für die sie Verantwortung tragen. Grundsätzlich tragen deshalb Klarheit über die jeweilige Rolle und Zuständigkeit bzw. die Verantwortlichkeiten dazu bei, Belastungen besser abschätzen und einordnen zu können. Zu dieser Klärung können Methoden aus dem Arbeits- und Gesundheitsschutz, z. B. die Gefährdungsbeurteilung und ein betriebliches Gesundheitsmanagement, beitragen. Belastungen und Beanspruchungen in sozialen Berufen - Empirische Befunde Die Arbeitsbelastungen, hier also insbesondere die psychischen Belastungen, sind durch zunehmende Komplexität, Umstrukturierungen, Einsparungen, Personalengpässe sowie gleichzeitig ständig steigende Fallzahlen bei zunehmender Verantwortung gekennzeichnet (Gunkel/ Böhm 2014, 257; Lohmann-Haislah 2012, 11). In der Arbeitsunfähigkeitsstatistik der Krankenkassen nehmen die psychischen Erkrankungen aufgrund ihrer langen Dauer weiterhin bei den Fehlzeiten Platz eins ein. So lagen diese 2012 bei 32 Tagen (Busch 2014, 523), 2013 bei 33 Tagen je Versichertem (Busch 2015, 559). Häufigste Ursache für Frühverrentungen sind in Deutschland weiterhin mit 40 % psychische Erkrankungen (Kaluza 2015, 5). Einen Überblick zur Verbreitung psychischer Arbeitsanforderungen bietet der von der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA) herausgegebene Stressreport 2012 (Lohmann-Haislah 2012). Diese repräsentative deutschlandweite Erhebung beschreibt als wichtigste Belastungen „verschiedenartige Arbeiten gleichzeitig betreuen“ zu müssen und „starken Termin- und Leistungsdruck“. Für die Sozialen Berufe liegen nur wenige empirische Daten vor. Eine im Auftrag der Hans- Böckler-Stiftung durchgeführte und von Irmhild Poulsen publizierte Studie untersuchte bei 62 TeilnehmerInnen der Jugendhilfe mittels einer Befragung deren Stress und Belastungsfaktoren. Als vorrangig genannt wurden: Zeit- und Termindruck, Personalmangel, Arbeitsverdichtung und zunehmende Bürokratie (Poulsen 406 uj 10 | 2016 Kinder- und Jugendhilfe - Eine gesundheitliche Belastung? 2012, 51). Eine von Rudow im Jahre 2010 vorgelegte Untersuchung psychischer Belastungen der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Allgemeinen Sozialdienstes bei der Stadt Mannheim nennt Zeitdruck, Personalmangel (insbesondere in Bezug auf die gestiegenen Fallzahlen) und eine hohe Komplexität der zu bearbeitenden Fälle sowie fehlende Wertschätzung als zentrale Belastungsfaktoren (Rudow 2010, 19). Eine Befragung von 464 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern Sozialer Dienste in Jugendämtern im Rheinland kommt zum Ergebnis, dass „hohe Fallzahlen“ und „Zeitmangel“ als dominante Belastungsfaktoren erlebt werden (Klomann 2014, 117). Alle Studien führen „Zeitdruck“ bzw. „Zeitmangel“, also ein Merkmal aus dem Bereich der Arbeitsorganisation bzw. der Arbeitsaufgabe als Belastungsfaktor an. Gefährdungsbeurteilung - Analyse als Basis für Maßnahmen „Psychische Belastung als wesentliche Dimension im Arbeits- und Gesundheitsschutz wird derzeit aller Orten diskutiert“, so der oben bereits zitierte Stressreport 2012 (Rothe 2012, 9). Mit der Aufnahme der psychischen Belastungen in das Arbeitsschutzgesetz hat der Gesetzgeber dieser Tatsache 2013 Rechnung getragen. Seit September 2013 besteht eine rechtliche Verpflichtung für Arbeitgeber, die psychischen Belastungen am Arbeitsplatz zu erheben. Ziel dieser Gesetzesvorgabe ist es - korrespondierend mit dem Belastungs-Beanspruchungs- Konzept - negative Belastungen und mögliche negative Beanspruchungsfolgen zu generieren. Konkret formuliert der § 4 Nr. 1 des Arbeitsschutzgesetzes (ArbSchG) diese Vorgabe: „Die Arbeit ist so zu gestalten, dass eine Gefährdung für das Leben sowie die physische und psychische Gesundheit möglichst vermieden und die verbleibende Gefährdung möglichst gering gehalten wird.“ Die daraus sich ergebenden Pflichten für den Arbeitgeber fixiert § 5 Abs. 1 des Arbeitsschutzgesetzes: „Der Arbeitgeber hat durch eine Beurteilung der für die Beschäftigten mit ihrer Arbeit verbundenen Gefährdung zu ermitteln, welche Maßnahmen des Arbeitsschutzes erforderlich sind.“ In Absatz 3 des ArbSchG wird schließlich der konkrete Bezug zu den psychischen Belastungen hergestellt: „Eine Gefährdung kann sich insbesondere ergeben durch psychische Belastungen bei der Arbeit.“ Diese gesetzlichen Anforderungen betreffen gleichermaßen auch die Institutionen der Kinder- und Jugendhilfe und fordern von ihnen, die Arbeitsbedingungen ihrer Leitungs- und Fachkräfte zu analysieren. Die Durchführung der Gefährdungsbeurteilung nach dem Prinzip eines Regelkreises kann dabei zur Verstetigung von Maßnahmen zur kontinuierlichen Reduktion von Belastungen und Beanspruchungsfolgen beitragen (vgl. Abb. 2). Da grundsätzlich zunächst eine Tätigkeitsbeschreibung des jeweiligen Aufgabenbereiches vorgenommen wird, ist dieses „Werkzeug“ für die unterschiedlichsten Aufgaben und Handlungsfelder der Kinder- und Jugendhilfe (s. o.) sehr gut als Analyseinstrument geeignet. Aus den erstellten Tätigkeitsbeschreibungen erfolgt die Erhebung bzw. Analyse der möglichen psychischen Belastungen (Gefährdungen), für die dann entsprechende Maßnahmen zur Vorbeugung und Gesundheitsförderung abgeleitet und geplant werden. Auch drei Jahre nach gesetzlicher Verankerung ist die Gefährdungsanalyse in zahlreichen Unternehmen leider keineswegs Praxis (Ahlers 2014, 37). Zum einen muss die Akzeptanz für die notwendige Beurteilung gefördert werden, zum zweiten müssen die entsprechenden unternehmensspezifischen Prozesse entwickelt und implementiert werden. Die Verknüpfung mit gesundheitsfördernden Konzepten bzw. mit Maßnahmen des betrieblichen Gesundheitsmanagements kann hierbei wegbereitend sein. 407 uj 10 | 2016 Kinder- und Jugendhilfe - Eine gesundheitliche Belastung? Empfehlungen zur Gesundheitsförderung für Leitungs- und Fachkräfte in der Kinder- und Jugendhilfe Was ist also zu tun, um die Balance zu halten, Eustress statt Distress zu erleben, psychische Fehlbeanspruchungen zu vermeiden, sodass aus Belastungen nicht gesundheitsbeeinträchtigende Beanspruchungsfolgen resultieren? Ein für alle Tätigkeits-, Funktionsbereiche und Personenkreise taugliches Stressmanagement existiert nicht. Und auch die jeweiligen „(Antistress-) Programme“ lassen sich nicht einfach generalisieren bzw. auf jeden übertragen. Trotzdem gibt es wichtige grundlegende Kenntnisse und Erfahrungen aus dem Bereich des Arbeits- und Gesundheitsschutzes und der Gesundheitsförderung, die in allen Institutionen der Kinder- und Jugendhilfe beachtet werden sollten, da sie zur Gesunderhaltung und Zufriedenheit beitragen. Vom Standpunkt des Arbeitsschutzes sind zu allererst die gesetzlichen Vorgaben zu beachten und umzusetzen. Dies beinhaltet u. a., dass die Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastungen in Kooperation mit den Fach- und Leitungskräften in der Kinder- und Jugendhilfe vorzunehmen und adäquate Maßnahmen zu initiieren sind. Die Gefährdungsbeurteilung sollte Teil eines umfassenden Gesundheitsmanagements sein, das sich an den Säulen des Betrieblichen Gesundheitsmanagements orientiert (vgl. Abb. 3). Hierbei geht es um die „Organisation der Gesundheit im betrieblichen Kontext, (…) um die Entwicklung von Strategien, die sich an den Unternehmenszielen orientieren“ (Bamberg/ Ducki/ Metz 2011, 128) mit dem Ziel der Reduktion gesundheitlicher Belastungen sowie Stärkung gesundheitsförderlicher Ressourcen bzw. der psychischen Widerstandskraft (Resilienz) der Mitarbeiter und Führungskräfte. Gesundheitsförderung zielt hierbei auf eine Stärkung salutogener, also gesunderhaltender Faktoren und setzt an den Lebensbedingungen (System- und Verhältnisprävention) und am Verhalten der Menschen (Verhaltensprävention) an. Für die Institutionen in der Kinder- und Jugendhilfe heißt dies konkret, das Thema Gesundheit für die dort agierenden Leitungs- und Fach- Gefahren identifizieren und beurteilen, beschreiben Tätigkeiten beschreiben Wirksamkeit prüfen (Schutz)-Maßnahmen festlegen Abb. 2: Regelkreis Gefährdungsbeurteilung 408 uj 10 | 2016 Kinder- und Jugendhilfe - Eine gesundheitliche Belastung? kräfte zur „Kultur“ zu erheben, in die Leitlinien der Institutionen zu übernehmen sowie eine entsprechende Personal- und Organisationsentwicklung zu etablieren. Wird sich auf allen Hierarchieebenen gefragt, ob gesundheitsrelevante Bedingungen vorliegen und auch Leitungskräfte die Verantwortung für sich und ihre Beschäftigten hierfür übernehmen? Oder wird dieses Thema eher vernachlässigt? Dies gilt ebenfalls für die Träger der Kinder- und Jugendhilfe, die für die Schaffung gesundheitsförderlicher Rahmenbedingungen verantwortlich sind. Ein gesundheitsgerechtes Management setzt voraus, dass regelmäßige Analysen über die tatsächlichen (psychischen) Belastungen der Leitungs- und Fachkräfte durchgeführt werden (z. B. im Rahmen der Gefährdungsbeurteilungen), um daraus partizipativ angemessene und auf die jeweilige Einrichtung passende Maßnahmen und Angebote zur Verhältnissowie Verhaltensprävention zu generieren. Da in allen empirischen Untersuchungen zu Sozialen Berufen „Zeitdruck“ und „Zeitmangel“ als vorrangiges Belastungsmerkmal genannt wurden, sollten zunächst die genauen Gründe hierfür erhoben werden. Maßnahmen der Arbeitsorganisationsgestaltung und Aufgabenbewältigung aus dem verhältnispräventiven Bereich haben ggf. hierbei vor den personenbezogenen verhaltenspräventiven Vorrang. Den subjektiven Bewältigungsstrategien kann hier eine ergänzende bedeutende Rolle zukommen (Dettmers 2015; Lohmann-Haislah 2012, 68 - 69). Schlussgedanken: Kinder- und Jugendhilfe - Eine gesundheitliche Belastung für Leitungs- und Fachkräfte? Abgeleitet von wenigen empirischen Untersuchungen zur Belastung in Sozialen Berufen lässt sich festhalten, dass in der Kinder- und Jugendhilfe negative Belastungen und Beanspruchungen vorliegen. Inwieweit allerdings aus einer Arbeitsanforderung eine gesundheitliche Schädigung, gar psychische Störung resultiert, hängt von den Ressourcen der Leitungs- und Fach- Gesundes Arbeiten Arbeits-/ Gesundheitsschutz Mensch Gesundheitsverhalten Institution Gesundheitsförderung Systemische Prävention Verhältnisorientierte Prävention Verhaltensorientierte Prävention System Unternehmenskultur Wertesystem Führungsstil Hierarchien Personal-/ Organisationsentwicklung Partizipation Arbeit Arbeitsumgebung Arbeitsplatz Arbeitsaufgabe Arbeitsmittel Arbeitsorganisation Person Ressourcen, Resilienz, Bewältigungsstrategien Selbststeuerung Standing Fitness, Konstitution Abb. 3: Betriebliches Gesundheitsmanagement 409 uj 10 | 2016 Kinder- und Jugendhilfe - Eine gesundheitliche Belastung? kräfte der Kinder- und Jugendhilfe ab. Diese können sich auf der Ebene der systemischen Institution bewegen, die die Verhältnisse betreffen, als auch auf der persönlichen Ebene. Eine gute Möglichkeit, Belastungen zu analysieren und sinnvolle Maßnahmen zur Gesundheitsförderung zu etablieren, bietet die mit dem Arbeitsschutzgesetz vorgeschriebene Gefährdungsanalyse psychischer Belastungen. Für das Ziel der Gesunderhaltung der Leitungs- und Fachkräfte gibt es keinen „one best way“ angesichts der Komplexität der Aufgabenbereiche in der Kinder- und Jugendhilfe. Der systematische Aufbau eines Gesundheitsmanagements (mit hierfür eigenen personellen und zeitlichen Ressourcen) ist zu empfehlen. Prof. Dr. med. Eva Hungerland Duale Hochschule Baden-Württemberg Stuttgart Fakultät Sozialwesen Rotebühlstr. 131 70197 Stuttgart eva.hungerland@dhbw-stuttgart.de Literatur Ahlers, E. (2014): Möglichkeiten und Grenzen Betrieblicher Gesundheitsförderung aus Sicht einer arbeitnehmerorientierten Wissenschaft. In: Badura, B., Ducki, A., Schröder, H., Klose, J., Meyer, M. (Hrsg.): Fehlzeiten- Report 2014. 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