unsere jugend
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0342-5258
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/uj2016.art60d
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„Schwierige Problemfälle lassen mich auch nach 10 Jahren nicht kalt.“
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Irmhild Poulsen
Die Schwierigkeiten im Arbeitsfeld der Jugendhilfe nehmen weiter zu. Stress, Überlastung, Erschöpfung und Burnout sind Phänomene, die heute immer häufiger auftreten. In diesem Beitrag sollen spezifische Stressfaktoren sowie Verbesserungsvorschläge durch eine von der Hans-Böckler-Stiftung durchgeführte qualitative Studie aufgezeigt werden.
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438 unsere jugend, 68. Jg., S. 438 - 446 (2016) DOI 10.2378/ uj2016.art60d © Ernst Reinhardt Verlag München Basel „Schwierige Problemfälle lassen mich auch nach 10 Jahren nicht kalt.“ Was macht Stress in der Jugendhilfe? Die Schwierigkeiten im Arbeitsfeld der Jugendhilfe nehmen weiter zu. Stress, Überlastung, Erschöpfung und Burnout sind Phänomene, die heute immer häufiger auftreten. In diesem Beitrag sollen spezifische Stressfaktoren sowie Verbesserungsvorschläge durch eine von der Hans-Böckler- Stiftung durchgeführte qualitative Studie aufgezeigt werden. von Dr. Irmhild Poulsen Sozialarbeiterin, Dipl. Pädagogin, Entspannungstherapeutin, Leitung Burnout-Institut Phoenix Erhöhte Burnoutgefahr in Sozialen Berufen Die Tätigkeit in sozialen Berufen beinhaltet einen hohen emotionalen Faktor. Fachkräfte sind hier oftmals stark gefordert. „Wir arbeiten nicht mit Werkstücken, unsere Arbeit ist der Mensch“ - so formulierte es treffend eine Fachkraft. Die Tätigkeit verlangt Kompetenz, Empathie und Kommunikationsfähigkeit. Hilfsbereitschaft, Freundlichkeit und menschliche Anteilnahme werden vorausgesetzt und bestimmen das Berufsbild. Fachkräfte geben ständig emotionale Zuwendung, was vom Gegenüber nicht im gleichen Maße zurückkommt bzw. an der Energie der Fachkräfte zehrt. Fehlende Anerkennung und Wertschätzung für die geleistete Arbeit und die häufige Wahrnehmung, dass der Einsatz nicht genügend honoriert wird, verstärken dies. Die sozialen und pädagogischen Fachkräfte tragen eine sehr hohe Verantwortung und stehen in Notfällen und Krisen bereit. Fachkräfte der Jugendhilfe sollen Kinder und Jugendliche laut gesetzlichem Auftrag SGB VIII KJHG begleiten, sie unterstützen, zuverlässig „da“ sein, für ihr Kindeswohl Sorge tragen, sie schützen, sie sollen organisieren, kooperieren, Projekte initiieren, sie fördern, sich vernetzen, Jugendliche und Eltern beraten, Entwicklungsprozesse in Gang setzen, Qualität sichern, helfen, heilen. Insbesondere nach der Einführung des § 8 a - Schutzauftrag bei Kindeswohlgefährdung - ist der Druck auf die Fachkräfte enorm gestiegen. Sie stehen in jüngster Zeit vermehrt „in der Schusslinie“ von Angriffen, sie werden für Fehlentwicklungen verantwortlich gemacht. Vor dem Hintergrund spektakulärer Fälle von Kindeswohlgefährdung und Kindesvernachlässigungen bis hin zu verstorbenen Kindern wurde den Fachkräften der Jugendämter - medial vermarktet - in der Öffentlichkeit vorgeworfen, trotz Kenntnis untätig geblieben zu sein oder eine rechtzeitige und notwendige Risikoabschätzung versäumt zu haben. 439 uj 10 | 2016 Was macht Stress in der Jugendhilfe? Forschungsprojekt und Ergebnisse im Überblick Dank der hohen Teilnahmebereitschaft der Befragten konnten für die Untersuchung 100 Fragebögen - ausgefüllt von Fachkräften und Jugendhilfeeinrichtungen im gesamten Bundesgebiet - ausgewertet werden. Davon waren 62 Teilnehmerinnen und 38 Teilnehmer, vertreten in allen Altersgruppen, hauptsächlich mit Abschlüssen in Sozialpädagogik und Sozialarbeit, gefolgt von Diplompädagogik. Auch die ErzieherInnen sind mit elf Fachkräften an der Untersuchung beteiligt. Bei den Zusatzqualifikationen liegt der systemische Bereich weit an der Spitze, ein Viertel aller Fachkräfte hat hierin eine Zusatzqualifikation. Dann folgen Gestalttherapie, Sozialmanagement, Mediation und Erlebnispädagogik, um die häufigsten zusammenzufassen. Die Darstellung zeigt, dass 76 Teilnehmende mit einem breiten Spektrum an Doppelbzw. Zusatzqualifikationen vertreten sind. Beschäftigt sind die Teilnehmenden hauptsächlich in Kommunen, gefolgt von Landkreisen, dann in den Trägern der Wohlfahrtspflege: Caritasverband, Diakonisches Werk sowie Arbeiterwohlfahrt, auch eingetragene Vereine und gGmbHs. Sie sind in folgenden Tätigkeitsfeldern beschäftigt: Jugendämter (27), offene Jugendarbeit (21), betreute Wohnformen (15), Mobile Jugendarbeit/ Streetwork (13), Schulsozialarbeit (11), Jugendberufshilfe (7), Jugendberatung (6) und andere. Interessant ist die Anzahl der Beschäftigungsjahre in den Tätigkeitsfeldern der Sozialen Arbeit: Im Durchschnitt waren die Fachkräfte zwischen 15 und 35 Jahre tätig, die Mehrheit von ihnen in Städten zwischen 10.000 bis hin zu einer Million EinwohnerInnen. 85 % der befragten Fachkräfte hatten einen unbefristeten Arbeitsvertrag. Was macht nun Stress in der Jugendhilfe? Wahrnehmung der Arbeitsbelastung „Schwierige Problemfälle lassen mich auch nach 10 Jahren nicht kalt! “ 80 % der Fachkräfte bezeichneten ihre Arbeitsbelastung als hoch, sehr hoch, zunehmend und sogar als krankmachend. Nur sechs von 100 Fachkräften äußern, keine oder noch keine Belastungen durch den Beruf zu spüren. Zeit- und Termindruck Das Gefühl, nie genügend Zeit zu haben, um mit der notwendigen Sorgfalt die täglichen Aufgaben erledigen zu können, die Wahrnehmung, dass die zur Verfügung stehende Zeit nie ausreicht, das Dringende auch erledigen zu können, und immer hinterherzuhängen, geht einher mit den Aussagen, dass 36 % der Teilnehmenden einfach zu viele Fallbearbeitungen haben. Eine Fachkraft bezeichnet dies als „Hochgeschwindigkeitsarbeitsdruck“ und eine andere hat die Wahrnehmung, „Fallarbeit am Fließband“ zu verrichten. Gerade die Fachkräfte im Jugendamt haben teilweise viel zu viele Fallbearbeitungen zeitgleich. 72 % aller Teilnehmenden benannten deutlich Zeit- und Termindruck als belastende Faktoren, gefolgt von zu viel Bürokratie und Personalmangel: „Manchmal wird einfach alles zu viel! “ Umständliche und lebensfremde Bürokratie Über die Hälfte aller Fachkräfte beklagen die bürokratischen Verwaltungsaufgaben als umständlich und zum Teil lebensfremde Prozesse, die einfach zu viel Zeit für die pädagogische Tätigkeit wegnehme. Fachkräfte müssen häufig alle Dokumentationen und Verwaltungsarbeiten 440 uj 10 | 2016 Was macht Stress in der Jugendhilfe? selbst durchführen, da VerwaltungsmitarbeiterInnen fehlen. In einer Institution gibt es nur eine einzige Vollzeitkraft in der Verwaltung für 200 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, in einer anderen sind 23 hauptamtliche Fachkräfte tätig ohne eine einzige Verwaltungskraft. Für eine Teilnehmerin verbleiben nur 40 % der Arbeitszeit für die eigentlichen pädagogischen Tätigkeiten, während 60 % der Zeit vor dem PC verbracht wird: “Die Freude an einer sinnvollen Arbeit wird häufig durch unrealistische Verwaltungsarbeit überschattet.“ Personalmangel Fast die Hälfte der Teilnehmenden kritisiert den allgemein herrschenden Personalmangel, der sich in einigen Institutionen und Behörden noch durch unbesetzte Stellen und eine hohe Fluktuation unter den MitarbeiterInnen zuspitzt. Vertretungen bei Krankheitsfällen oder in Urlaubszeiten erhöhen die Belastung der vorhandenen Fachkräfte noch. Arbeitsverdichtung Die in den letzten Jahren deutlicher wahrgenommene Arbeitsverdichtung, die den Berufsalltag zusätzlich belastet, geht einher mit den multiplen Problemlagen der Klientel. Fehlende Kooperationsbereitschaft Die mangelnde Kooperationsbereitschaft der Klienten mache zudem Hilfestellungen mühsam. Es fehlt an Einsicht und Motivation sowie einer Antriebslosigkeit, diese zur Mitarbeit zu bewegen, was gerade auch in der Sozialarbeit an Schulen häufig wahrgenommen wird. Manches Mal müssen Fachkräfte auch Beschimpfungen von uneinsichtigen Eltern ertragen, die eine ablehnende Haltung zeigen und die Mitarbeit verweigern. Rollenkonflikte und Druck durch Garantenhaftung Fast 30 % nehmen die unterschiedlichen Rollenerwartungen als belastend wahr und 21 Teilnehmende äußern empfundenen Druck durch die Garantenhaftung: Ängste, zu spät oder falsch auf eine Situation reagiert oder diese falsch eingeschätzt zu haben: „Angst, ich komme zu spät und ein Kind ist tot.“ Notfälle und Krisen Nicht berechenbare Notsituationen und nicht vorhersehbare Krisen, in denen rasch, richtig und nach rechtlichen Vorgaben gehandelt werden muss, stellen einen enormen Stressfaktor dar. Nicht genügend Wertschätzung „Ein ehrliches Lob würde schon gut ankommen.“ Weiter wird geäußert, dass dieser Beruf eine belastende Arbeit ohne Wertschätzung sei. Weder von Arbeitgeberseite, was auch eine entsprechende monetäre Entlohnung und ausreichend Personal für die anfallende Arbeit beinhalte, noch eine gesellschaftliche Anerkennung sei vorhanden: „Burnout-Prävention lebt nicht nur von Arbeitsentlastung, sondern vielmehr von Gesten und Anteilname. Dazu gehört: Großzügigkeit in kleinen Dingen.“ Konflikte mit Vorgesetzten und im Team Das Führungsverhalten von Vorgesetzten wird von fast 20 % der Teilnehmenden als belastend empfunden. Autoritäre Führungskräfte, die den Bezug zur Praxis längst verloren hätten, Vorgesetzte, die hilfloser als die Fachkräfte selbst 441 uj 10 | 2016 Was macht Stress in der Jugendhilfe? empfunden werden, mangelnde Unterstützung und fehlende Rückendeckung sowie die Erfahrung der Individualisierung bei geäußerten Überlastungsaussagen oder Überlastungsanzeigen werden hier als Stressoren benannt. Auch Unstimmigkeiten im Team, die Erfahrung von Mobbing und Querelen in der Abteilung verursachen Stress im Berufsalltag. Überlastung der Kollegen und Kolleginnen Die Wahrnehmung, dass die eigenen KollegInnen und auch Führungskräfte selbst völlig belastet, überlastet sind, unter psychischer Labilität leiden oder von einem Burnout betroffen sind, ist für 14 Fachkräfte bedrückend. Fallen diese durch Krankheit aus, bedeutet es Mehrarbeit für die verbliebenen Teammitglieder, zum Teil auch längere Krankheitsvertretungen, da „Springerkräfte“ fehlen und kein zusätzliches Personal eingestellt wird. Eigene Grenzen spüren Die eigene Belastung wahrzunehmen und sich auch eine Überlastung einzugestehen, eigene Grenzen erkennen und setzen zu können und sich selbst nicht in der Arbeit zu verlieren, ist für 13 Fachkräfte eine tägliche Herausforderung. Den Zeitpunkt wahrzunehmen, an dem es zu kippen droht, an dem man selbst in die Überforderungsspirale rutscht, und die innere Distanz zu wahren und trotzdem mit Engagement bei der jeweiligen Aufgabe zu sein, ist für die Fachkräfte eine Gratwanderung zwischen Empathie und Abgrenzung. Eigene psychische Belastung spüren Dass die Fachkräfte täglich Gewalt und Vernachlässigung erleben und die notwendigen Aufgaben nicht in dem dafür vorgesehenen Zeitbudget zu schaffen sind, belastet 12 Fachkräfte seelisch stark. Einigen sitzt die Angst im Nacken, etwas Wichtiges übersehen zu haben. Der Umgang mit dieser psychischen Belastung ist für sie eine ständige Herausforderung: „Die Arbeit, die ich ausübe, ist sehr belastend. Ich war deswegen einmal in einer Psychosomatischen Klinik (REHA-Maßnahme). Das müsste ich eigentlich wieder machen, nun, das Genehmigungsverfahren ist nicht einfach, man braucht erst die lange Krankmeldung, dann ist die Gewährleistung der REHA-Maßnahme durch die Krankenkasse sicher. Sonst arbeitet man bis zum Umfallen! “ Ruf des Jugendamtes Für elf Fachkräfte ist der Ruf des Jugendamtes, also das Image ihrer Tätigkeit als „Kinderklau“, bedrückend. Sie sehen sich selbst in einer „Sündenbockrolle“. Einblick in menschliche Tragödien 13 Fachkräfte benannten den Einblick in menschliche Tragödien als bedrückend. Die Verschärfung von Problemlagen bei Jugendlichen mit deutlichen Verhaltensauffälligkeiten belasten sie und verursachen bei einigen ein Ohnmachtsgefühl. Unter dem bestehenden Kostendruck noch geeignete Hilfen anzubieten, erscheint einigen unmöglich, weshalb dann die Sinnhaftigkeit der Tätigkeit infrage gestellt wird. Führungskräfte sorgen sich um ihre MitarbeiterInnen Aus der Perspektive der Führungskräfte äußern fünf (JugendamtsleiterInnen, JugendpflegerInnen) Belastungen durch die Sorge um die MitarbeiterInnen, da bedingt durch herrschenden Zeitmangel eine gute Führungsverantwortung schwierig sei. 442 uj 10 | 2016 Was macht Stress in der Jugendhilfe? Hohe Verantwortung Für zehn Fachkräfte ist die hohe Verantwortung, die auf ihnen lastet, ein großer Stressor. Mögliche Konsequenzen der Hilfestrategie müssen gut reflektiert sein und oftmals wichtige Entscheidungen schnell getroffen werden: „Ich bin mir sicher, sollte in unserer Stadt medienwirksam einem Kind entsprechend § 8 a etwas zustoßen, man würde alle Schuld auf den zuständigen Sozialarbeiter abwälzen. Unter diesem Druck zu arbeiten ist ohne gesundheitliche Einbußen nicht möglich. In der heutigen Zeit würde ich jedem jungen Berufseinsteiger dringend von einer Tätigkeit im ASD (zumindest in meinem Jugendamt) abraten.“ Desinteresse der Politik Ein Teilnehmer beklagt, dass die Erfahrungen der Praktiker vonseiten der Politik nicht nachgefragt werden, was auf die Dauer demotivierend sei. Gleichzeitig erleben einzelne Fachkräfte, dass vonseiten der Politik, der Geldgeber und der Öffentlichkeit Druck auf das Tätigkeitsfeld ausgeübt wird, z. B. in der Straßensozialarbeit, und nur noch finanzielle Aspekte eine Rolle spielen: „Nach zwanzig Jahren sozialer Arbeit für den immer gleichen Arbeitgeber muss ich leider feststellen, dass, wenn auch auf den Fahnen der Leitfaden der Menschlichkeit steht, Kommerz viel ehrlicher wäre. Wir leben und arbeiten für die Menschlichkeit, erleben sie aber an uns selbst nur sehr selten.“ ASD Im Tätigkeitsfeld ASD (Allgemeiner Sozialer Dienst) zeigt sich folgendes Bild: Vier Fachkräfte haben pro Jahr zwischen 160 - 180 Fälle zu bearbeiten, sieben zwischen 60 und 100 Fälle, was die Belastung deutlich anzeigt. Bereits spürbare gesundheitliche Beeinträchtigungen Über ein Drittel aller Teilnehmenden äußern Schlafstörungen: „Ich plane im Schlaf das nächste Projekt“. Auch Einschlaf- und Durchschlafprobleme wurden von 16 Teilnehmenden benannt: Nachts wach liegen und grübeln, über Arbeitsthemen nachdenken. „Nicht einschlafen können, weil das Gehirn rast und zuckt“. Eine Teilnehmerin wird sogar bis in die Träume von ihrer Arbeit verfolgt. Von einer allgemeinen Müdigkeit und Antriebslosigkeit geplagt sehen sich 15 Fachkräfte. Magenprobleme, häufige Magen- und Bauchschmerzen, Magenverstimmung - das Alltagsgeschehen schlägt bei zwölf Fachkräften buchstäblich auf den Magen. Mit den Schlafstörungen gehen in der Regel auch Abschaltschwierigkeiten einher, die von einem Viertel der Teilnehmenden geäußert werden. Abschalten nach Feierabend, das Tagesgeschehen hinter sich lassen, sich etwas völlig anderem zuzuwenden, das gelingt 25 % der Befragten nicht mehr. Der große Bereich der Rückenprobleme, Verspannungen im Nacken und in den Schultern bis hin zum Bandscheibenvorfall wird insgesamt von fast einem Drittel der Teilnehmenden wahrgenommen. Unter häufigen Kopfschmerzen und Migräneattacken leiden 15 Teilnehmende. Allgemeine Erschöpfung, innere Unruhe und die Wahrnehmung einer inneren Hektik werden von jeweils zehn Fachkräften als gesundheitliche Beeinträchtigung formuliert, drei äußern eine allgemeine Nervosität („bin ein nervöses Hemd! “). Acht Fachkräfte nennen Bluthochdruck als Stressreaktion und sechs Fachkräfte bemerken eine häufigere Infektanfälligkeit, eine depressive Verstimmung und einen Rückzug vom sozialen Umfeld, also von Familie und Freunden als Folge der Überlastung. Vier Fachkräfte erkennen klassische Burnout- Symptome bei sich, hierzu zählen auch Panikattacken und eine starke Abneigung gegen die 443 uj 10 | 2016 Was macht Stress in der Jugendhilfe? Arbeit. Eine Fachkraft äußert die Befürchtung, kurz vor einem Burnout zu stehen. Zwei Teilnehmende waren bereits von einem Burnout betroffen, haben sich Hilfe in einer Fachklinik gesucht und sind zum Zeitpunkt der Untersuchung wieder wegen ähnlicher Symptome in ärztlicher Behandlung. Wie hilft der Anstellungsträger? Ein Viertel der Befragten nehmen keine Hilfen im Umgang mit den Belastungen wahr und meinen, dass die Belastung überhaupt unterschätzt werde. Es gibt jedoch auch viele positive Äußerungen. 23 Fachkräfte schätzen die Teilnahme an der Supervision zur Psychohygiene wert und 13 die kollegiale Beratung, eine regelmäßige Reflexion und den Austausch im Team. Auch Fortbildungsmöglichkeiten und bereits implementierte Inhouse- Seminare zur förderlichen Stressbewältigung und Vermittlung von Entspannungsmethoden werden von insgesamt 14 Teilnehmenden als Hilfen wertgeschätzt. Bei vier Anstellungsträgern war zum Zeitpunkt der Befragung gerade die Implementierung eines betrieblichen Gesundheitsmanagements im Aufbau und/ oder die Mitarbeitervertretung führte eine Befragung zur Arbeitsbelastung durch. Dies bestätigt die Annahme, dass bei vielen Trägern in Richtung Gesundheitsfürsorge für die Mitarbeitenden doch etwas in Bewegung ist. Zehn Teilnehmende äußeren explizit, dass sie mit ihrer/ ihrem Vorgesetzten sehr zufrieden seien und erleben Unterstützung, Offenheit, Gesprächsbereitschaft und Engagement vonseiten der Vorgesetzten. Eine Vorgesetzte wird als hilfreich durch ihre ruhige Ausstrahlung und mütterliche Fürsorge empfunden. Ein Teilnehmer fühlt sich unterstützt, da der Träger einen kompetenten Chef bezahle. Auch eine zeitnahe Unterstützung in Personalfragen durch eine Jugendamtsleitung wird als Unterstützung wahrgenommen, ein anderer reagiert hilfreich bei Überlastungsanzeigen mit personeller Entlastung. Die Möglichkeit flexibler Arbeitszeiten und ein Ampel-System gegen Stress werden ebenso unterstützend wahrgenommen und geschätzt wie Gestaltungsfreiheit in der Arbeit. Konkrete Forderungen der Fachkräfte - was muss allgemein verbessert werden? „Mehr Leute einstellen! “ Fast die Hälfte der Teilnehmenden nennt die Einstellung von mehr Personal, gefolgt von deutlicherer Wertschätzung und Anerkennung, um im Job zukünftig gesund zu bleiben. Die Forderung nach mehr Zeit für die einzelnen Klienten, für die eigentliche pädagogische Arbeit, für den Beziehungsaufbau mit den Familien oder auch mehr Zeit, um Entscheidungen zu überdenken, geht einher mit dem Wunsch nach einem mobilen Springerteam und der Forderung nach weniger Fallbearbeitungen pro Fachkraft. Bessere Führungsqualitäten der Vorgesetzten, klarere Führungsstrukturen und mehr Feedback durch die Vorgesetzten werden ebenfalls genannt. Ein „Raus aus der Tabuzone“, die Enttabuisierung der Themen um Stress und Belastung durch die Tätigkeit fordern auch hier einige Befragte. Lediglich drei von einhundert Fachkräften hatten keine Wünsche zur Verbesserung ihrer Arbeitssituation. Allgemeine Zusammenfassung und Schlussfolgerungen Trotz einer zunehmenden Enttabuisierung in der Öffentlichkeit und in den Medien ist das Thema der seelischen Erschöpfung, der Über- 444 uj 10 | 2016 Was macht Stress in der Jugendhilfe? forderung und des Ausgebranntseins immer noch bei vielen Betroffenen schamvoll besetzt. Dahinter steht die Angst, als nicht ausreichend belastbar betrachtet zu werden (von Vorgesetzten, KollegInnen usw.). Depressive Verstimmungen bis hin zu schweren Depressionen können sich einschleichen. Das eigene Kräftekonto ist längst überzogen, völlig ausgereizt, man hat zu lange über die eigenen Kräfte gelebt, ohne regelmäßig den Energietank wieder aufzufüllen. Dauerhaft erlebter Stress verändert einstmals engagierte Fachkräfte. Einige haben die „innere Kündigung“ immer bei sich, machen nur noch „Dienst nach Vorschrift“ und engagieren sich nicht mehr in einer scheinbar für sie gar sinnlos gewordenen Tätigkeit, die zudem von niemandem honoriert werde, so die Wahrnehmung. „Ich würde gern menschenwürdiger arbeiten statt in Frührente zu gehen.“ Diese Aussage einer Sozialpädagogin aus einem Jugendamt rüttelt auf. Die Aussage impliziert, dass die täglichen Anforderungen und Arbeitsaufgaben durchaus gut zu meistern wären, wenn die Arbeitsbedingungen der einzelnen Fachkraft menschenwürdiger gestaltet wären und so eine Frühberentung vermieden werden könnte. Die Träger der Jugendhilfe selbst, Verantwortliche in Behörden, Einrichtungen und Institutionen müssen sich viel mehr als bisher verantwortlich fühlen für die psychische (und damit ja auch physische) Gesundheit ihrer Mitarbeitenden. Dazu gehören die Schaffung von gesundheitsförderlichen Rahmenbedingungen, ein verbessertes Training der Führungsverantwortlichen für den Bereich „Gesund führen“ und ein die seelische Gesundheit förderliches Arbeitsklima. Ziel ist ein Arbeitsklima, in dem auch die betriebliche und individuelle Stress- und Burnoutprävention nicht tabuisiert, sondern als Grundlage zur Gesunderhaltung für eine erfolgreiche und gelingende Arbeit betrachtet wird, zu der auch die Freude an der Tätigkeit absolut dazu gehört. Die Vermittlung von Stressbewältigung, das Erlernen von Entspannungsmethoden und die Optimierung durch Zeitmanagement reichen eben nicht aus, sondern es muss grundsätzlich die Notwendigkeit gesehen und die Bereitschaft vorhanden sein, Strukturen und Rahmenbedingungen in Einrichtungen zu verändern und mit den Führungskräften an einem Strang zu ziehen. Strukturen wie zuerst die Einstellung von mehr Personalkräften: Dies richtet sich deutlich an die Verantwortlichen in der Sozialpolitik! Reduzierung von Belastungsfaktoren Auf der Grundlage der vorliegenden Ergebnisse lassen sich folgende Hauptanliegen verankern. 1. strukturell: unverzüglich mehr Personal einstellen, auch Springerkräfte, dadurch mehr Zeit für die pädagogische Tätigkeit und weniger Fälle, weniger Bürokratie bzw. Verwaltungsfachangestellte einsetzen 2. mehr Lob, Anerkennung, Wertschätzung 3. bessere Bezahlung der Arbeit 4. mehr (bezahlte) Supervision 5. mehr „Chef“ (Führungsqualitäten) 6. Enttabuisierung der Belastungen 7. Belastungen dürfen nicht individualisiert, sondern müssen im Rahmen der strukturellen Bedingungen wahrgenommen werden. Individuelle Selbstfürsorge Da die Änderung gesundheitsgefährdender Strukturen oft jedoch auf sich warten lässt, kann jede einzelne Fachkraft gleich hier und jetzt mit einer verbesserten Selbstfürsorge beginnen. Es reicht jedoch keinesfalls, dieses Thema nur auf der Basis der instrumentell/ regenerativen Ebene anzugehen; vielmehr muss an der kognitiv/ mentalen Ebene begonnen werden, also auch an eigenen Strukturen, Einstellungen, Sichtweisen. 445 uj 10 | 2016 Was macht Stress in der Jugendhilfe? Hierzu zählen zunächst Persönlichkeitsentwicklungsprozesse, die Themen beinhalten wie ➤ die eigenen Grenzen erkennen und auch setzen können, Nein sagen lernen (Struktur: warum fällt mir das oft schwer? ), ➤ sich Hilfe und Unterstützung holen, wenn es einfach „zu viel“ wird, ➤ ein neues Gefühl für Zeit entwickeln, den bisherigen Umgang mit Zeit überdenken, entschleunigen lernen, bewusst einen Gang herunterschalten, das Tempo drosseln, Innehalten lernen, Achtsamkeit üben, ➤ Prioritäten erkennen und setzen können (die drei W’s: Was ist Wirklich Wichtig), ➤ Weglassen und Lassen (z. B. im Privaten auch mal etwas absagen können), ➤ eine innere professionelle Distanz entwickeln, ➤ mehr Achtung, Wertschätzung und Aufmerksamkeit auf sich selbst. Grundlage hierfür ist die Bereitschaft, eigene Strukturen zu reflektieren, zu verstehen, wie diese entstanden sind, und z. B. eigene Glaubenssätze, auch „die inneren Antreiber“ genannt, zu bearbeiten (wie z. B. „Wer rastet, der rostet“ oder „Müßiggang ist aller Laster Anfang“). Diese wurden in der jeweiligen Sozialisation, der Kultur des Aufwachsens bzw. im bisherigen Lebensweg geprägt und von vielen internalisiert. Zu dem Komplex der persönlichen Gesundheitsfürsorge zählen: ➤ gesunde Ernährung mit viel Vitaminen, genügend Wasser/ Tee ➤ ausreichender und erfrischender Schlaf ➤ Bewegung, Sport baut das Stresshormon Cortisol im Körper ab, danach evtl. Sauna, Massagen ➤ Entspannung/ Entspannen lernen (aktive Techniken und Methoden wie Yoga, Autogenes Training, PMR, Meditation, Tai Chi usw.) ➤ häufiger Pausen einlegen am Tag ➤ mehrere kürzere Urlaube genießen ➤ einen längeren Urlaub pro Jahr, um völlig abschalten zu können Für den Privaten Lebensbereich gelten: ➤ Pflege der sozialen Netzwerke (Familie, Freunde, Nachbarn, als tragendes Netz) ➤ Pflege von Hobbys und Freizeitinteressen Appell an die Sozialpolitik „Wichtige Befragung! Es muss endlich was passieren! “ Diese Anmerkung am Ende eines Fragebogens zeigt die Not der Fachkräfte kurz und bündig auf: Viele Fachkräfte der Jugendhilfe arbeiten unter schwierigen Arbeitsbedingungen. Einige steigen aus als Folge der Überlastung, können die täglichen Anspannungen nicht mehr ertragen, sehen keinen Sinn mehr in ihrer Tätigkeit und möchten sich nicht länger aufreiben in diesem Arbeitsfeld. Auf die Dauer gegen den Wind der Verhältnisse zu rudern ist mühsam, man resigniert und sucht sich „was anderes, was Besseres“. Freie Stellen können vielerorts nicht besetzt werden, weil die Tätigkeitsfelder innerhalb der Jugendhilfe wegen der vorhandenen jetzigen Strukturen unattraktiv für Stellensuchende sind. Die Aussage einer Fachkraft: „Spätestens zum Ende des Jahres kündigen mehr als die Hälfte der Mitarbeiter unserer Abteilung plus diejenigen, die schon vorher gehen.“ zeigt aufrüttelnd, in welch prekärer Lage sich eine Jugendbehörde befinden kann. Jetzt sind die Sozialpolitiker gefordert, die Strukturen im Tätigkeitsfeld der Jugendhilfe deutlich zu verbessern - dies muss auf die politische Tagesordnung. Viele der Fachkräfte arbeiten „mit dem Rücken zur Wand“, an ihren Belastungsgrenzen, was langfristig Schäden anrichten wird. Sie leisten täglich Hilfe für ihre Klientel, ohne selbst ausreichend Hilfe zu erfahren. Sie bewegen sich stets im Spannungsfeld der bestehenden Belastungen zwi- 446 uj 10 | 2016 Was macht Stress in der Jugendhilfe? schen den eigenen Ansprüchen, den vorgegebenen Pflichten, den rechtlichen Vorschriften und der Realität, die sie vorfinden. Die gegebenen Verhältnisse sind völlig unzureichend und daher deutlich zu skandalisieren. Jugendhilfe braucht angemessene Gestaltungsräume, hauptsächlich ➤ verantwortungsvolle Fallzahlen ➤ mehr Personal ➤ angemessene Räume ➤ einen ausreichenden Verdienst ➤ mehr Anerkennung und Wertschätzung. Zur Professionalität gehört ein entsprechender Rahmen, der aufgrund der skizzierten Untersuchungsergebnisse im Tätigkeitsfeld der Jugendhilfe nicht gegeben ist. Der historisch gewachsene Auftrag der Kinder- und Jugendhilfe kann nur unter besseren Bedingungen zufriedenstellend geleistet werden. Hier wird tagtäglich notwendige und anspruchsvolle Arbeit mit Kindern und Jugendlichen erbracht, und die Fachkräfte müssen auf der Hut sein, nicht der Selbstausbeutung zu unterliegen und sich nicht zu verlieren in den unzulänglichen Arbeitsbedingungen und schwierigen Verhältnissen. Ich habe auch aufgezeigt, dass die Fachkräfte selbst ihr eigenes Selbstverständnis klären und ggf. neu definieren können. Die gesellschaftlich-institutionell bedingten Belastungsstrukturen können jedoch nur von der Sozialpolitik, also von jedem einzelnen in der Verantwortung stehenden Menschen verändert werden. Irmhild Poulsen Burnout-Institut Phoenix Niedermooserstr. 2 36041 Fulda Tel. 0170-7735365 www.burnout-institut.de info@burnout-institut.de Literatur Poulsen, I. (2012): Stress und Belastung bei Fachkräften der Jugendhilfe. Ein Beitrag zur Burnoutprävention. VS-Verlag, Wiesbaden Poulsen, I. (2009): Burnoutprävention im Berufsfeld Soziale Arbeit. Perspektiven zur Selbstfürsorge von Fachkräften. VS-Verlag, Wiesbaden
