eJournals unsere jugend 68/11+12

unsere jugend
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0342-5258
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/uj2016.art69d
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Linksextremer Gewalt entgegenwirken

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Gerold Hildebrand
Das Linksmilitanzpräventions-Projekt will im Rahmen der antitotalitären Ausrichtung der Arbeit der Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen eine kritische Auseinandersetzung mit Linksextremismus, linker Militanz und politisch links motivierter Gewaltkriminalität fördern. Zugleich soll eine vorbeugende Eindämmung entsprechender individueller Radikalisierungsprozesse erreicht werden.
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497 unsere jugend, 68. Jg., S. 497 - 504 (2016) DOI 10.2378/ uj2016.art69d © Ernst Reinhardt Verlag München Basel Linksextremer Gewalt entgegenwirken Radikalisierungspräventionsprojekt „Linke Militanz in Geschichte und Gegenwart. Aufklärung gefährdeter Jugendlicher über Linksextremismus und Gewalt“ Das Linksmilitanzpräventions-Projekt will im Rahmen der antitotalitären Ausrichtung der Arbeit der Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen eine kritische Auseinandersetzung mit Linksextremismus, linker Militanz und politisch links motivierter Gewaltkriminalität fördern. Zugleich soll eine vorbeugende Eindämmung entsprechender individueller Radikalisierungsprozesse erreicht werden. Die Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen Auf dem Gelände der Gedenkstätte Berlin- Hohenschönhausen befanden sich Orte kommunistischer Verfolgung, zunächst ein von der sowjetischen Geheimpolizei eingerichtetes Speziallager (1945 - 46), danach bis zur Übernahme durch das Ministerium für Staatssicherheit (MfS) im Jahre 1951 das zentrale sowjetische Untersuchungsgefängnis im Kellertrakt, das die Inhaftierten „U-Boot“ nannten. Das zentrale Untersuchungsgefängnis des MfS siedelte Ende 1960 in einen Neubau um und wurde erst im Zuge der Friedlichen Revolution und dem damit verbundenen Ende der SED-Herrschaft geschlossen. An diesem im Jahr 1994 eingerichteten Gedenkort bestehen seit Jahren bereits pädagogische Angebote für Schülerinnen und Schüler, die eine Auseinandersetzung mit der DDR-Geschichte fördern. Mit dem Start eines neuen Modellprojekts im Jahr 2011 wurde auch die Auseinandersetzung mit gegenwärtigen Erscheinungsformen des Linksextremismus zum Schwerpunkt der Gedenkstättenarbeit. Ausgangslage: Linksextremismus und linksextreme Militanz Unter politischem Extremismus werden „Gesinnungen und Bestrebungen verstanden, die sich in der Ablehnung des demokratischen Verfassungsstaates und seiner fundamentalen Werte und Spielregeln einig wissen“ (Backes/ Jesse von Gerold Hildebrand Jg. 1955, Dipl. Sozialwissenschaftler, wissenschaftlicher Mitarbeiter des Präventionsprojekts der Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen „Linke Militanz in Geschichte und Gegenwart“ Foto: Almut Ilsen 498 uj 11+12 | 2016 Linksextremer Gewalt entgegenwirken 1996, 40). Diese Überzeugungen und Handlungsformen zielen letztlich auf ein undemokratisches politisches System ab, sodass eine wehrhafte Demokratie extremistische Tendenzen eindämmen muss: „Wenn wir nicht bereit sind, eine tolerante Gesellschaftsordnung gegen die Angriffe der Intoleranz zu verteidigen, dann werden die Toleranten vernichtet werden und die Toleranz mit ihnen“ (Popper 1992). In diesem Zusammenhang erscheint das Credo des 1976/ 77 in Hohenschönhausen inhaftierten Bürgerrechtlers Jürgen Fuchs von Bedeutung: „Wir dürfen nicht werden wie sie! “ (Fuchs 1989). Der Schriftsteller und Psychologe appellierte damit während der Friedlichen Revolution dafür, dass keine Rache geübt und andere Meinungen nicht unterdrückt werden sollen. Mit Menschenrechtsverletzungen sollte klar rechtsstaatlich umgegangen werden, was auch einschloss, die Sozialistische Einheitspartei Deutschlands (SED), die sich gerade umzubenennen begann, nicht zu verbieten. Eine Abwehr extremistischer Bestrebungen sollte und kann nur mit demokratischen und rechtsstaatlichen Mitteln erfolgen. Entsprechende Prävention kann in einer freiheitlichen Demokratie nur auf einem antitotalitären Grundkonsens fußen. Sind auch die Ziele und Handlungsfelder von Linksextremisten andere als die von Rechtsextremisten oder politisch-religiös motivierten Islamisten, so sind die Durchsetzungsmethoden und Auswirkungen ihres Handelns ebenfalls demokratiegefährdend. Linksextremismus ist kein zu vernachlässigendes Phänomen, denn auch er bekämpft die offene, pluralistische Gesellschaft (vgl. Schroeder/ Deutz-Schroeder 2015, 311). Bezüglich politischer Partizipation gilt es, demokratisch-rechtsstaatliche, radikale und extremistische Methoden zur Erreichung politischer Ziele zu unterscheiden. Eine an den Werten der Verfassung orientierte Definition von „(Links-)extremismus“ zeigt, dass von einer Gleichsetzung von Extremismus und Gesellschaftskritik gerade nicht gesprochen werden kann (Pfahl-Traughber 2014). Peter Neumann (2013, 4) stellt etwa fest, dass, wer Mittel einsetzt, die „das Leben, die Freiheit und die Menschenrechte von anderen beeinträchtigen oder aufs Spiel setzen“, ein Extremist ist - unabhängig davon, welche vorgeblich guten Ziele verfolgt werden. Zum Beispiel ist Umweltschutz in einer Demokratie erstrebenswert. Wer dieses Ziel allerdings mit illegalen Mitteln verfolgt - etwa durch Anschläge auf Fabriken oder die Entführung von Industriemanagern - ist bereits ein Extremist. Abb. 1 Die Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen Foto: Thomas Weber, WebRock-Foto 499 uj 11+12 | 2016 Linksextremer Gewalt entgegenwirken Extremisten aller Couleur geht es darum, Gefolgschaft - vornehmlich unter Orientierung suchenden Heranwachsenden - zu rekrutieren. Gefolgschaft drückt sich in einer ideologischen Abhängigkeit aus, die sich bei anarchistisch orientierten Militanten vornehmlich im dezentralen Handeln von Kleingruppen auswirkt (Meyer-Plath 2016). Rekrutierungsbestrebungen sind junge Menschen nicht nur in Großstädten mit ausgeprägter linksextremer Szene ausgesetzt sondern auch flächendeckend in den heimischen vier Wänden, weil Propaganda und Agitation zunehmend im Internet und über soziale Medien verbreitet werden. Da wird für Kampagnen mobilisiert, werden „feindliche“ Angriffsziele benannt und eindeutige Gewaltaufrufe bis hin zur Selbstjustizrechtfertigung platziert. Auf der Plattform linksunten. indymedia finden sich dazu einschlägige Beispiele. Dass linksmilitante Aufrufe auch zu Aktionen führen, zeigen die Polizei- und Verfassungsschutz-Statistiken von Bund und Ländern. Um rund 62 Prozent ist die „politisch motivierte Gewalt links“ im vergangenen Jahr gestiegen. Deutschlandweit geht der Bundesverfassungsschutz (BfV) von 26.700 Linksextremisten aus, von denen 7.700 als gewaltbereit eingestuft werden (BMI 2016). Dem jüngsten Verfassungsschutzbericht zufolge wurden im vergangenen Jahr mehr Gewalttaten von linksextremer (1.608) als von rechtsextremer (1.408) Seite verübt (BMI 2016 a, 6). „Dem Phänomenbereich ,Politisch motivierte Kriminalität - links‘ wurden 5.620 (2014: 4.424) Straftaten mit extremistischem Hintergrund zugeordnet, hiervon 1.608 Gewalttaten (2014: 995). Die Zahl linksextrem motivierter Gewalttaten gegen Polizei und Sicherheitsbehörden ist mit 1.032 (2014: 623) drastisch angestiegen“ (BMI 2016 a, 6). Medial herausgestellt wird zumeist, dass es insgesamt mehr rechtsextreme (21.933) als linksextreme (5.620) Straftaten gibt (Grimm 2016, Berger 2016). Doch Linksextreme können den Straftatbestand des Propagandadelikts so gut wie nicht erfüllen, da ihre Symbole gar nicht verboten sind (Schroeder 2016), obwohl es sich auch hier zum Teil um Symbole verfassungswidriger Organisationen handelt. Linksextreme dürfen auf Demonstrationen ungestraft Hammer und Sichel zeigen und den Massenmördern Lenin, Stalin und Mao huldigen. 1200 1000 800 600 400 200 0 Körper- Brand- Landfriedens- Raub verletzungen stiftungen bruch Linksextremistisch motivierte Straftaten Rechtsextremistisch motivierte Straftaten 1116 986 69 99 256 42 21 23 Abb. 2 Vergleich politisch motivierter Straftaten im Jahr 2015 (eigene Darstellung anhand der Daten aus BMI 2016, 26/ 31) 500 uj 11+12 | 2016 Linksextremer Gewalt entgegenwirken Vergleicht man die verschiedenen Deliktbereiche der politisch-motivierten Kriminalität (PMK; vgl. Abb. 2) so wird deutlich, dass linksextremistisch motivierte Straftaten ähnlich häufig auftreten wie rechtsextremistische. Rechtsextremistische Straftaten finden sich häufiger im Bereich der Körperverletzungen, dagegen finden sich beim Landfriedensbruch deutlich häufiger Linksextremisten (BMI 2016 b). Das verwundert zunächst. Doch über linksextreme Gewalttaten wird in der Öffentlichkeit selten diskutiert, auch wenn durchaus über schwere Gewalt-Ausprägungen berichtet wird. Dies betrifft jedoch häufig nur Großstädte wie Berlin, Leipzig, Hamburg und Göttingen oder Großereignisse wie die militanten Proteste gegen die EZB oder den G7-Gipfel. Über fast alltägliche Resonanzbzw. Konfrontationsgewalt erscheinen nur Meldungen in der Lokalpresse. Einerseits gibt es nur eine zivilgesellschaftliche Initiative, die linksextreme Straftaten kontinuierlich zusammenträgt (FGEM 2016), andererseits ist das Portal linksunten.indymedia voll von Bekennerbriefen und Gewaltaufrufen linksextremer Gruppen, die sich selbst als „Linksradikale“ bezeichnen. Doch nicht immer tritt das Bekenntnis zur Demokratiefeindlichkeit so deutlich zutage. Die vordergründig postulierten „guten Ziele“, die das öffentliche Bild der selbsternannten Linksautonomen ausmachen wie Antifaschismus, Antirassismus, Antikapitalismus, Antigentrifizierung und Antirepression, werden häufig nicht hinterfragt. Sie reichen zudem bis hin zu Antisemitismus/ Antizionismus sowie Antiamerikanismus und Kommunismusbejahung. Das Endziel, die Abschaffung der „bürgerlichen Gesellschaft“, wird auch immer wieder deutlich benannt, wie Selbstdarstellungen belegen: „Natürlich reagieren wir nicht nur, sondern haben auch eigene Vorstellungen von einer fortschrittlichen Welt ohne Ausbeutung und Unterdrückung, die wir mit antifaschistischer, antikapitalistischer und emanzipatorischer Politik in die Gesellschaft tragen wollen. Auch begreifen wir den Faschismus als die extremste Konsequenz kapitalistischer Produktionsweise, denn Faschismus ist eine Krisenideologie des Kapitalismus und dieser neigt systembedingt immer zu Krisen“ (Antifa Würzburg 2016). Hier feiert die auch während der SED-Diktatur verbreitete kommunistische Faschismusdoktrin Georgi Dimitroffs ihre Wiedergeburt. Eine Rechtfertigung für das Vorgehen gegen Andersdenkende aller Art und der Kampf gegen das bestehende politische System werden daraus abgeleitet. Die Ausformungen des aktuellen Linksextremismus sind vielschichtig. Deutlich wird aber, dass auch auf diesem Feld eine Prävention gegen Radikalisierung ansetzen muss. Als aktuelle Schwerpunkte kristallisieren sich die Handlungsfelder „militanter Antifaschismus“ und „militanter Antikapitalismus“ heraus. Das Projekt Unser Modellprojekt entwickelt ein bereits ebenfalls vom BMFSFJ gefördertes Projekt zur Geschichte präventiver Seminararbeit mit Jugendlichen gegen Linksextremismus im Bereich Gewalt-, Radikalisierungs- und Extremismusprävention weiter. Der derzeitige Projektschwerpunkt liegt gemäß den aktuellen Förderrichtlinien auf linker Militanz. Das Projekt richtet sich vor allem an Jugendliche in der gymnasialen und beruflichen Oberstufe sowie in Berufsschulen und anderen Bildungseinrichtungen. Zielgruppe sind junge Menschen im Alter von 17 bis 27 Jahren, um diese für extremistische Gefährdungen zu sensibilisieren. Das Angebot versteht sich als außerschulische Ergänzung der Fächer Ethik, Politik und Wirtschaft, Sozialkunde und Geschichte. Angeboten werden Seminare, mittels derer Jugendliche zur selbstständigen kritischen Auseinandersetzung mit Ideologie und Praxis linker Militanz motiviert und gegen demokratiefeindliche linksextreme Handlungskonzepte immunisiert werden sollen. Die Jugendlichen werden dabei über historische Traditionslinien und ideologische Begründungen sowie aktu- 501 uj 11+12 | 2016 Linksextremer Gewalt entgegenwirken elle Formen und Konfliktfelder linker Militanz vor dem Hintergrund rechtsstaatlicher Regeln und demokratischer Werte und Konfliktbearbeitungsweisen aufgeklärt und setzen sich mit linksextremen Deutungen, Strukturen und Aktionsformen auseinander. Internetauftritte linksradikaler und linksextremer Gruppen sowie Medienberichte werden analysiert, um das Seminarangebot aktuell gestalten zu können. Ziel ist es, gefährdete Jugendliche durch eine Diskussion im Klassenbzw. Kursverband über die jeweilige Peergroup zu erreichen. Angestrebt wird eine Stärkung der demokratischen Kompetenzen Heranwachsender, die sich mittels peerbasierter Distanzierung auch auf ihre soziale Umgebung auswirken soll. Durch eine kritische Auseinandersetzung mit Linksextremismus, linker Militanz und politisch links motivierter Gewaltkriminalität soll eine vorbeugende Eindämmung entsprechender individueller Radikalisierungsprozesse erreicht werden. Projektablauf Die Seminare führen zunächst allgemein in den Problembereich „Politischer Extremismus“ ein und zeigen dessen vier Hauptdimensionen auf (vgl. van Hüllen 2012): 1. eine dogmatische bis totalitäre Ideologie mit absolutem Wahrheitsanspruch, 2. Feindbildproduktion, 3. Kompromissunfähigkeit bis hin zur Dialogverweigerung und 4. Gewaltbereitschaft. Thematische Schwerpunkte sind die 2015 aktualisierten und methodisch neu ausgerichteten Module „No capitalism! “ - Mit allen Mitteln und ohne Diskussion? sowie „Antifa heißt Angriff“ - mit Gewalt gegen Rechtsextremismus? . Nutzer können weitere thematische Module auswählen, die historische oder aktuelle Beispiele behandeln (z. B. RAF und SED-Diktatur). Unterrichtsmaterialien werden auch auf Tablet- PCs für eine Gruppenarbeit zur Verfügung gestellt, um die Bildungsarbeit interessant und zeitgemäß zu gestalten. Ihre Antworten auf spezifische Fragestellungen an das Material (Selbstdarstellungen linksextremer Gruppierungen, erklärende Sachtexte, Expertenstatements und Zeitzeugenaussagen) präsentieren die Teilnehmenden am Ende des Seminars. Bisherige Erfahrungen zeigen, dass die zeitliche Einteilung (vgl. Abb. 3) flexibel gehandhabt werden muss. Ist Grundwissen zu Demokratie und Rechtsstaat bereits vorhanden, hat Teil A eher Wiederholungscharakter und kann kürzer gefasst werden. Nicht selten aber stellte sich heraus, dass Kenntnisse nur oberflächlich vorhanden sind. Vollständig unbekannt war beispielsweise fast immer das „Gewaltmonopol des Staates“. Dadurch nimmt dieser Teil bisweilen mehr als 20 Minuten in Anspruch, was situationsbezogene Änderungen an den nachfolgenden Teilen erfordert. Der Einsatz von verrätselten Quellen (Janssen 2013, 16f ) und Rollenspielen zielt auf eine intensivere Mitwirkung der Teilnehmenden. Im Rollenspiel werden gesellschaftlich vorfindba- 20 min. Grundlagen Demokratie und Rechtsstaat 25 min. Einführung Extremismus/ Linke Militanz 30 min. Wahlthema - Arbeitsphase in Kleingruppen 15 min. Präsentation - Auswertung Abb. 3 Typischer Ablauf der 90-minütigen Seminarstruktur 502 uj 11+12 | 2016 Linksextremer Gewalt entgegenwirken re divergierende Aussagen bzw. Handlungsalternativen vorgelegt, die in Kleingruppen bearbeitet werden. Durch die Aufforderung zur Identifikation und zur Sammlung von Argumenten - auch gegen die eigene Überzeugung - für jeweils eine der vorgegebenen Aussagen soll die Fähigkeit zum Perspektivwechsel und zur Argumentationsfähigkeit gestärkt werden. Im anschließenden Streitgespräch als Rollenspiel weisen sich die Seminarteilnehmer gegenseitig auf alternative demokratische Formen politischer Mitbestimmung hin und sind gefordert, sich untereinander mit Argumenten und Gegenargumenten bezüglich Gewalt und linksextremistischen Denkmustern auseinanderzusetzen. So besteht die Chance, komplexe politische Zusammenhänge einordnen zu lernen und diskursbetonte Kompetenz zu erlangen. Regelmäßig wurde in den zurückliegenden Seminaren die Annahme bestätigt, dass die interaktive, zur Rollenidentifikation einladende Struktur der beiden neukonzipierten Wahlthemen am nachhaltigsten auf die Seminarteilnehmer wirkt. Diese Wirkung wurde noch verstärkt, wenn es im Streitgespräch gelang, Teilnehmerinnen und Teilnehmer eine im Gegensatz zu ihrer jeweiligen persönlichen Auffassung stehende Rolle einnehmen zu lassen und zu einem Perspektivwechsel herauszufordern. Dabei wird auf eine Aktivierung der vorhandenen Wissensbestände und Vorurteilsstrukturen gesetzt, um sie dem Realitätstest einer streitbaren Diskussion auszusetzen. Erfahrungen aus der Projektarbeit Während der Laufzeit des Vorläufer-Projektes „Alles Geschichte? “ nahmen in den Jahren 2012 - 2014 mehr als 10.000 Jugendliche aus dem gesamten Bundesgebiet an den über 650 in Seminarform angebotenen einzelnen Modulen zu linksextremen Politikvorstellungen teil. Über 60 % waren Gymnasiasten und rund 20 % Berufsschüler. Dabei wurden Jugendliche aus allen sozialen Gesellschaftsschichten, mit unterschiedlichem Bildungsniveau und unterschiedlicher kultureller oder religiöser Herkunft erreicht. Die Jugendlichen, die an den Seminaren teilnahmen, erklärten häufig, dass sie sich bislang so gut wie nie intensiv mit Ideologie und Praxis des Linksextremismus auseinandergesetzt hatten, obwohl ihnen linksextremes Handeln in ihrer Lebenswirklichkeit bereits begegnet war. Nach Seminarende waren sie fast ausnahmslos der Meinung, dass die Gefahr des Linksextremismus in Deutschland im Allgemeinen unterschätzt wird und dass die Aufklärung von Jugendlichen über Gefahren des Linksextremismus ausgeweitet werden sollte. Wurde gefragt: „Hat das Seminar Ihre Meinung zum Thema Linksextremismus verändert? “, so war hier ein unentschiedenes Ergebnis vorzufinden. Wurde diese Frage mit Ja beantwortet, so ergab sich, dass der Linksextremismus als gefährlicher als bisher angenommen eingeschätzt wird. Damit hat das Modellprojekt offensichtlich eine Lücke im Bildungssystem gefüllt und häufig erstmals einen Raum zur Auseinandersetzung mit Theorie und Praxis des Linksextremismus eröffnet. Zu kommunistischen und anarchistischen Politikvorstellungen, die im Gegensatz zu den Grundprinzipien der Demokratie stehen, existiert bei Jugendlichen oft nur ein sehr lückenhaftes Wissen. Unsere Erfahrungen zeigen zudem, dass oftmals nur unzureichende Geschichtskenntnisse vorliegen. Bezüglich der SED-Diktatur war bei ostdeutschen Teilnehmern zu sehen, dass die kritische Familienerzählung im Prinzip nicht stattfindet und bei westdeutschen kaum Kenntnisse über diese Periode deutscher Geschichte vorliegen. Geschichte nach 1945 ist selten ausführlicher Bestandteil des Schulunterrichts oder erst ganz am Ende Unterrichtsstoff. Auch Unterschiede zwischen Demokratie und Diktatur sind häufig unbekannt. Dies erfordert zahlreiche Begriffserklärungen zu Grundwerten und Regeln des freiheitlich-demokratischen Verfassungsstaates wie z. B. Universalität der 503 uj 11+12 | 2016 Linksextremer Gewalt entgegenwirken Menschenrechte, Meinungsfreiheit, Pluralismus, Recht auf Opposition, Gewaltenteilung, Mehrheitsprinzip bei Minderheitenschutz, demokratische Verfahrensweisen, Gewaltmonopol des Staates und gewaltfreie Konfliktbearbeitung. Linksextremismus und Kommunismusgeschichte werden im Schulunterricht im Gegensatz zu Rechtsextremismus und zur Geschichte des Nationalsozialismus kaum besprochen. Dadurch bleiben junge Menschen oftmals empfänglich für die scheinbar einfachen Lösungen und Versprechungen, die linksextreme Politikkonzepte offerieren. Bei den aktuellen Themen sticht vor allem die Konfrontationsgewalt zwischen Rechts- und Linksextremisten als bekannt hervor, auch im ländlichen Raum (Demonstrationstourismus, Internet). Häufig erwies sich eine Diskussion über das staatliche Gewaltmonopol und polizeiliches Handeln sowie über Demonstrationsblockaden versus Meinungsäußerungs- und Demonstrationsrecht als kontrovers. Oft war hier „mehr Zeit für Diskussionen“ gewünscht. Die durchgeführten Textanalysen fanden überwiegend nur bei Gymnasiasten positive Resonanz. Haupt- und Realschüler sowie Berufsschüler waren damit zum Teil überfordert. Materialumfang und Textverständlichkeit erforderten bei diesem Nutzerkreis oft zeitraubende Begriffsklärungen. Häufig traten Wünsche auf, mehr mit Bild- und Filmmaterial als mit Texten zu arbeiten. Dies stößt allerdings auch an finanzielle Grenzen. Im Folgeprojekt wurden deshalb zielgruppengerechtere Module entwickelt, die mehr Raum für Interaktionen lassen. Im neuen Modellprojekt wurden 2015 in rund 250 Seminaren über 3.600 Jugendliche erreicht. Der Anteil der Berufsschüler steigerte sich auf über 30 %, da verstärkt Anbieter des Bundesfreiwilligendienstes Nutzer des Angebots für Projekttage waren. Weiterhin ergibt sich der Befund, dass oft demokratische Grundkenntnisse fehlen. Spezifika und Gefahren eines militanten Linksextremismus und die Sinnhaftigkeit eines staatlichen Gewaltmonopols bleiben weitgehend unbekannt. Kontroverse Diskussionen waren vor allem mit Schülern aus Großstädten und Ballungsgebieten möglich, da sich hier unterschiedliche Einstellungen und Meinungen zum Linksextremismus abbildeten, die bis hin zur Affinität für linksextreme Politikvorstellungen, Handlungsformen und Feindbilder reichten. Für Einrichtungen der Jugendhilfe steht das Angebot ebenfalls zur Verfügung. Es kann in der Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen aber auch bundesweit direkt in Bildungs- und Jugendeinrichtungen genutzt werden. Wie Lehrerinnen und Lehrer können auch Jugendbetreuer und Sozialarbeiter mit den Projektmitarbeitern entsprechende Termine für Jugendgruppen vereinbaren. Gerold Hildebrand Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen Genslerstr. 66 13055 Berlin Tel.: (0 30) 98 60 82-4 11 E-Mail: bildungsarbeit2@stiftung-hsh.de, http: / / www.stiftung-hsh.de 504 uj 11+12 | 2016 Linksextremer Gewalt entgegenwirken Literatur Antifa Würzburg (2016): Selbstverständnis. In: http: / / antifawuerzburg.blogsport.eu/ selbstverstaendnis/ , 27. 7. 2016 Backes, U., Jesse, E. (1996): Politischer Extremismus in der Bundesrepublik Deutschland, 4. Auflage, Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn Berger, D. (2016): Die Gewalttätigkeit der Linksradikalen explodiert. In: The Huffingtonpost, 26. 5. 2016. http: / / www.huffingtonpost.de/ david-berger/ die-ge walttaetigkeit-der-linksradikalen-explodiert_b_10 125432.html, 27. 7. 2016 BMI (= Bundesministerium des Innern) (2016 a): Verfassungsschutzbericht 2015: Fakten und Tendenzen. In: https: / / www.verfassungsschutz.de/ embed/ vsbe richt-2015-kurzzusammenfassung.pdf, 27. 7. 2016 BMI (= Bundesministerium des Innern) (2016 b): PMK- Straftaten nach Deliktsbereichen 2014 und 2015. 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In: The Huffingtonpost, 26. 7. 2016. http: / / www.huffingtonpost.de/ gordian-meyerplath/ dasergeben-statistiken-zu-linker-gewalt_b_11139986. html, 27. 7. 2016 Neumann, P. (2013): Radikalisierung, Deradikalisierung und Extremismus. In: Aus Politik und Zeitgeschichte. Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament, Nr. 29-31/ 2013 (Deradikalisierung), Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn, 3 - 10. In: http: / / www. bpb.de/ apuz/ 164918/ radikalisierung-deradikalisie rung-und-extremismus? p=all, 27. 7. 2016 Pfahl-Traughber, A. (2014): Linksextremismus - analytische Kategorie oder politisches Schlagwort? Begriffsbestimmung - Kritik - Kritik der Kritik. Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn. http: / / www. bpb.de/ politik/ extremismus/ linksextremismus/ 1910 96/ linksextremismus-analytische-kategorie-oderpolitisches-schlagwort, 27. 7. 2016 Popper, K. R. (1992 [1945]): Die offene Gesellschaft und ihre Feinde, Bd. I: Der Zauber Platons. Mohr Siebeck, Tübingen Schroeder, K., Deutz-Schroeder, M. (2015): Gegen Staat und Kapital - für die Revolution! Linksextremismus in Deutschland - eine empirische Studie. Peter Lang, Frankfurt/ Main, http: / / dx.doi.org/ 10.3726/ 978-3-653- 05467-5 Schroeder, K. (2016): Linke Gewalttaten werden notorisch verharmlost. In: Die Welt, 24. 5. 2016 van Hüllen, R. (2012): Definition und Dimension, Erscheinungsformen und Kernaussagen des Linksextremismus. Überlegungen zur Prävention von Linksextremismus (Teil 1), Konrad-Adenauer-Stiftung e.V., Sankt Augustin/ Berlin van Hüllen, R. (2012): Kommunikationsmethoden und Rekrutierungsstrategien im Linksextremismus. Überlegungen zur Prävention von Linksextremismus (Teil 2), Konrad-Adenauer-Stiftung e.V., Sankt Augustin/ Berlin