unsere jugend
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0342-5258
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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2016
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Rechtsextremistischen Ausprägungen entgegenwirken
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2016
Caroline Paeßens
Kristin Harney
Jugendliche und junge Erwachsene frühzeitig von Alternativen fernab der extremen Rechten zu überzeugen – diesem Ziel verschrieb sich das Modellprojekt „Seitenwahl“ des Zentrums Demokratische Bildung Wolfsburg im Themenfeld „Radikalisierungsprävention“. Änderungsprozesse im Verhalten sollen dabei nicht nur erkannt, sondern direkt mit Gegenwind versehen werden.
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460 unsere jugend, 68. Jg., S. 460 - 465 (2016) DOI 10.2378/ uj2016.art63d © Ernst Reinhardt Verlag München Basel Rechtsextremistischen Ausprägungen entgegenwirken Prävention durch die Methode der Distanzierungsarbeit Jugendliche und junge Erwachsene frühzeitig von Alternativen fernab der extremen Rechten zu überzeugen - diesem Ziel verschrieb sich das Modellprojekt „Seitenwahl“ des Zentrums Demokratische Bildung Wolfsburg im Themenfeld„Radikalisierungsprävention“. Änderungsprozesse im Verhalten sollen dabei nicht nur erkannt, sondern direkt mit Gegenwind versehen werden. von Caroline Paeßens M. A. Politische Wissenschaft, M. A. Soziologie, Projektmitarbeiterin in der ARUG/ ZDB Kristin Harney Dipl. Sozialwissenschaften, Projektmitarbeiterin der ARUG/ ZDB Für rechtsextreme, menschenverachtende und ausländerfeindliche Angriffe auf Geflüchtete und deren Unterkünfte markiert das Jahr 2015 einen Höhepunkt. Kaum ein Tag verging, ohne dass über Angriffe oder die zügellose rassistische Hetze berichtet wurde. Die Debatte um Geflüchtete wurde online aggressiv geführt und auch offline brach sich der Hass Bahn. Das dadurch entstandene Modellprojekt „Seitenwahl“ vom Zentrum Demokratische Bildung hat es sich zum Ziel gemacht, menschenverachtenden und rassistischen Aussagen, die sich offenbar tief in die Gesellschaft gefressen haben, früh Einhalt zu gebieten. Insbesondere rechtsorientierte Jugendliche und junge Erwachsene, die Affinitäten zu der extremen Rechten zeigen und durch rassistische Aussagen sowie Handlungen auffallen, sollen einen engagierten und professionellen Gegenwind in formalen und informellen Sozialisationskontexten erfahren. Zusätzlich sollen Veränderungsprozesse bei ihnen initiiert werden. Im Folgenden sollen hier die Hintergründe erläutert, das Handlungskonzept des Modellprojekts „Seitenwahl“ vorgestellt und von bisherigen Erfahrungen berichtet werden. Begrifflichkeiten Rechtsextremismus Der Rechtsextremismusbegriff wird in der Forschung und Praxis nicht einhellig genutzt und besitzt somit keine definitorische Klarheit. Ledig- 461 uj 11+12 | 2016 Prävention durch Distanzierungsarbeit lich ein Konsens, auf den die Forschung sich einigen konnte, hat sich durchgesetzt. Dieser beinhaltet die Vorstellung von Rechtsextremismus als Einstellungsmuster mit sechs wesentlichen Merkmalen (vgl. Decker/ Kiess/ Brähler 2016). Die sechs Merkmale rechtsextremer Einstellungsmuster sind: ➤ Antisemitismus ➤ Chauvinismus ➤ Sozialdarwinismus ➤ Ausländerfeindlichkeit ➤ Verharmlosung des Nationalsozialismus ➤ eine positive Einstellung zu autoritären Strukturen Für die pädagogische Praxis ergibt sich die Problematik, dass rechtsextreme Einstellungsmuster oftmals erst durch Handlungen offenbart werden, bspw. durch rassistische Aussagen, Hetze im Internet, verbale oder physische Angriffe. Weiterhin sind aktuelle Entwicklungen zu betrachten, die sich schwer einordnen lassen und sich „im Grenzbereich zwischen der extremen Rechten und der sogenannten Mitte“ (Schuhmacher 2014) ansiedeln lassen. Beispiele wären Pegida, Nein-zum-Heim-Initiativen und weitere, die zwar Überschneidungen und Berührungspunkte aufweisen, aber sich eben nicht ohne weiteres einem politischen Rechtsextremismus zuordnen lassen. Strukturell zeigt sich dementsprechend, dass es nicht „die“ rechtsextreme Szene gibt, sondern sich Menschen mit entsprechenden Einstellungsmustern in einem breiten Feld von dynamischen Strukturen - von Parteien, Organisationen, über Kameradschaften bis hin zu losen Zusammenschlüssen - wiederfinden können. Die extreme Rechte ist also eher als ein „Netzwerk verschiedener und partiell auch voneinander unabhängiger weltanschaulicher, organisatorischer und handlungsbezogener Angebote und Anbieter aufzufassen“ (Schuhmacher 2014). Dieses breite Feld an unterschiedlichen Zusammenschlüssen bedingt auch die Heterogenität in der individuellen Zuordnung. Kameradschaften bspw. definieren sich über eine klare Abgrenzung nach außen. Ein „Ausstieg“ ist, je nach Tiefe der Einbindung, nicht ohne Weiteres möglich. In losen Zusammenschlüssen hingegen ist ein „Hin- und Herdriften“ (Schuhmacher 2014) zu beobachten. Diese Merkmale zeigen, dass man nicht von „dem Rechtsextremen / der Rechtsextremen“ oder von „der“ rechtsextremen Szene reden sollte. Auch im Umgang mit Menschen, die unterschiedliche extrem rechte Einstellungsmuster nach außen tragen, wäre diese Pauschalisierung wenig hilfreich oder sinnstiftend. Radikalisierungsprävention In der Radikalisierungsprävention steht allen voran der Begriff der „Radikalisierung“. Dieser wird häufig als Vorstufe bzw. als Weg hin zu einem geschlossenen rechtsextremen Weltbild gesehen und beschreibt damit den Begriff als Prozess (vgl. Neumann 2013). Denkt man eine ‚Radikalisierung‘ als Prozess, also als ein Konglomerat aus negativen Erfahrungen von gesellschaftlichen Gepflogenheiten und positiven Erfahrungen mit Gemeinschaft innerhalb rechtsextremer Kontexte, ideologischer Hinwendung und Auseinandersetzung, individueller Verortung und äußeren Einflüssen, kann eine Radikalisierungsprävention dementsprechend als vorbeugende Maßnahme verstanden werden, um einen Prozess hin zu extremen Einstellungen frühzeitig zu unterbrechen bzw. erst gar nicht entstehen zu lassen. Deradikalisierung Die Deradikalisierung wird als Gegenbegriff zu einem unklar definierten „Ausstiegs“-Begriff eingeführt, weist derzeit jedoch ebenso definitorische Unschärfe auf. So ist weitgehend ungeklärt, wie die einzelnen Modellprojekte innerhalb des Clusters „Radikalisierungsprävention“ ihre pädagogischen Ansätze theoretisch unter- 462 uj 11+12 | 2016 Prävention durch Distanzierungsarbeit füttern. Der Begriff indes stammt aus nicht-pädagogisch ausgerichteten Diskursen innerhalb der Terrorismusbekämpfung und bezieht sich hier auf „radikalisierte, terroristische […], meist islamistische […] und meist implizit männliche […] Einzeltäter“ (Lehnert/ Glaser 2016) und greift somit für ein differenziertes und geschlechterreflektiertes Konzept zu kurz. Innerhalb des Modellprojekts „Seitenwahl“ bezieht sich die Konzeptionierung daher auf den Begriff der Distanzierung. Distanzierung Der Distanzierungsbegriff scheint sich besser für die pädagogische Praxis zu eignen, da ihm, analog zu der ‚Radikalisierung‘, auch eine Prozesshaftigkeit innewohnt. Dieser Prozess ist eine „Kette von Entscheidungen“ (Schuhmacher), die mit einer intensiven, im besten Fall begleiteten Reflektion einhergehen. Ein weiterer Vorteil dieses Begriffes ist die Offenheit der angesprochenen Personengruppe. Wie oben erläutert, ist der Rechtsextremismus kein abzugrenzender Raum und ‚Rechtsextreme‘ keine definitorisch zu kategorisierende Gruppe. Eine Distanzierung von Einstellungsmustern kann sich somit auch auf Menschen beziehen, die sich bspw. bislang außerhalb jeglicher organisatorischer Strukturen bewegt haben. Hintergründe „Entlang der grundsätzlichen Unterscheidung zwischen Einstellungs- und Handlungsebene in der Rechtsextremismusforschung (Stöss 2010, 21) lässt sich feststellen, dass bisher viele Personen rechtsextrem eingestellt waren, aber nicht entsprechend handelten. Insbesondere im Jahr 2014/ 15 hat sich dies jedoch geändert und über meist parteiungebundene Kanäle wie die Pegida-Demonstrationen oder lokale asylfeindliche Proteste entstehen zunehmend Handlungen, die auf rechtsextremen Einstellungsmustern basieren: „die Einstellung führt zur Handlung“ (Decker/ Kiess/ Brähler 2016, 68). Die Erfahrungen der letzten Jahre im Bereich der Prävention im Themengebiet Rechtsextremismus haben gezeigt, dass eine umfassende Aufklärung, eine Sensibilisierung vor allem auch von pädagogischen Fachkräften, aber auch von Zielgruppen möglicher Rekrutierung durch Personen des rechtsextremen Spektrums, notwendig sind. Hinwendungen zur extrem rechten Szene sind mannigfaltig. Auffällig ist jedoch, dass anfänglich meist gar nicht die ideologischen Beweggründe bei der Hinwendung zur extrem rechten Szene im Vordergrund stehen (vgl. Hohenstein/ Greuel 2015, 16). Menschen, die der rechtsextremen Szene den Rücken kehren, berichten darüber hinaus über die Zeit der Hinwendung, dass ihnen Personen im Umfeld (Eltern, Lehrer, Freunde) inhaltlich nichts entgegnen konnten, was sie davon abgehalten hätte, sich weiterhin in der Szene zu bewegen. Im Gegenteil: Oftmals habe das Umfeld unkritisch und selten mit tragfähigen Strategien reagiert (siehe dazu u. a. Möller/ Schuhmacher 2007, 133). Das Modellprojekt „Seitenwahl“ setzt an diesem Punkt an. Es ist ein Zusammenspiel aus Maßnahmen und Angeboten der Prävention und Intervention. Innerhalb der ARUG/ ZDB gibt es mehrere Projekte, die sich mit der Abkehr von rechtsextremen Einstellungsmustern befassen. Die Unterscheidung zwischen dem Modellprojekt „Seitenwahl“ und dem Aussteigerprogramm der ARUG differenziert sich maßgeblich an der Tiefe der Einbindung (prozessbezogene Dimension) und an der von dem Klienten eingeschätzten individuellen Zuordnung (identifikatorische Dimension) (vgl. Schuhmacher, in Druck). Zielgruppe Zielgruppe sind Jugendliche und junge Erwachsene, die sich bereits radikalisiert haben oder am Anfang eines Radikalisierungsprozes- 463 uj 11+12 | 2016 Prävention durch Distanzierungsarbeit ses stehen. Um diese zu erreichen, werden im Wesentlichen pädagogische Fachkräfte und weitere MultiplikatorInnen mit Zugängen zu der originären Zielgruppe angesprochen. Diese bieten sich vor allem deswegen an, da eine gelungene Distanzierung vor allem über Beziehungsarbeit funktioniert und eine Beziehung zwischen den MultiplikatorInnen und den Jugendlichen bereits in unterschiedlichster Form besteht. Diese Beziehungen sind wertvolle Ressourcen, die maßgeblich zum Gelingen einer frühzeitigen Distanzierung beitragen können. Die direkte Distanzierungsarbeit als unterstützendes Angebot bezieht sich auf alle Jugendlichen und jungen Erwachsenen, die sich menschenverachtenden Einstellungsmustern zuwenden. Hierbei kommen die bereits erläuterten Kriterien von Schuhmacher (2016) innerhalb der Rechtsextremismusdefinition zum Tragen. Es geht nicht nur um eindeutig dem extrem rechten Spektrum zuordenbare Personen, sondern auch um die, die Versatzstücken rechtsextremer Ideologie zustimmen und sich im Grenzbereich „zwischen der extremen Rechten und der sogenannten Mitte“ (Schuhmacher, in Druck) einordnen lassen. Handlungskonzept Ziel des Projektes ist, dass rechtsorientierte Jugendliche einen engagierten und professionellen Gegenwind in formalen und informellen Sozialisationskontexten erfahren, und so Veränderungsprozesse initiiert werden. Jugendliche und junge Erwachsene, die sich im Prozess der Radikalisierung befinden, sehen sich häufig ratlosen Eltern und Pädagogen gegenüber. Für präventive Angebote sind Zugänge zu Eltern in der Breite schwierig zu erschließen, da diese sich häufig erst dann an Beratungsstellen wenden, wenn ihnen Veränderungen am eigenen Kind auffallen. Pädagogische Fachkräfte hingegen können über strukturelle Fortbildungsangebote erreicht werden. Somit nutzt das Konzept des Modellprojektes „Seitenwahl“ Zugänge zu einer großen Gruppe, die potenziell mit rechtsorientierten Jugendlichen in Kontakt sind. Bei der Fortbildung von pädagogischen Fachkräften und MultiplikatorInnen werden grundlegende Informationen über das Themenfeld Rechtsextremismus - d. h. Einblicke in Ideologie, Lifestyle und Strategien - genauso vermittelt wie Möglichkeiten der Intervention. Hier soll im Fokus stehen, dass die Veränderungen eines Jugendlichen in Richtung menschenverachtender Einstellungen zunächst erkannt, aber eben auch direkt mit einer zielführenden Intervention einhergehen sollte. Den rechtsorientierten Jugendlichen soll vermittelt werden, dass bestimmte Handlungen Konsequenzen haben, dass rassistische, antisemitische oder sonstige menschenverachtende Aussagen nicht unwidersprochen stehen bleiben und dass aber gleichzeitig Gesprächsbereitschaft besteht. Parallel zu der Qualifizierung von pädagogischem Fachpersonal hält ARUG/ ZDB innerhalb des Modellprojekts das unterstützende Angebot vor, dass erfahrene MitarbeiterInnen niedersachsenweit im Rahmen direkter Ansprache mit rechtsorientierten Jugendlichen versuchen, einen Distanzierungsprozess zu initiieren. Solche Gespräche basieren grundsätzlich auf dem Prinzip der Freiwilligkeit als wesentliche Voraussetzung für einen Veränderungswunsch, „denn nur, wenn sich Jugendliche für eine Ansprache und spezifische Angebote zugänglich zeigen, kommt eine Zusammenarbeit mit den Fachkräften überhaupt zustande“ (Hohnstein/ Greuel 2015, 87). Die rechtsextreme Szene bedient sich in ihrer Heterogenität an Strukturen einer immensen Anzahl an jugendkulturellen Subkulturen. Es findet sich kaum eine Subkultur, die nicht von der extrem rechten Szene benutzt, unterwandert und instrumentalisiert wird. Für die jeweiligen Subkulturen sind nicht Fachkräfte oder WissenschaftlerInnen die ExpertInnen, sondern Jugendliche, die sich selbst in diesen Subkulturen bewegen. Genau diese sind die geeignetsten 464 uj 11+12 | 2016 Prävention durch Distanzierungsarbeit MultiplikatorInnen, um rechtsextremen Strömungen innerhalb ihrer Subkultur inhaltlichen Gegenwind entgegenzubringen und auch Alternativen anzubieten. Wie Schuhmacher (2016) gezeigt hat (siehe oben), werden rechtsextreme Gemeinschaften von der Ideologie durch gemeinsame Selbstinszenierungen zusammengehalten. Hier Alternativen und attraktive Gegenkulturen aufzuzeigen und diese vor allem auch für Jugendliche zugänglich zu machen, soll Ziel dieses Peer-to-Peer-Ansatzes sein. Rechtsorientierte Jugendliche sollen nicht von z. B. einer bestimmten Musikrichtung abgebracht werden, sondern ihnen soll eine Alternative aufgezeigt werden, die attraktiv für sie ist, aber keine menschenfeindlichen Inhalte transportiert. Grundlage für einen subkultur-eigenen Diskurs sind auch hier die Sensibilisierung und Qualifizierung von MultiplikatorInnen. Jugendliche und junge Erwachsene werden unterstützt, um Strategien zur Entwicklung von demokratischer Gegenkultur und Selbstheilungskräften innerhalb ihrer Szene zu entwickeln und umzusetzen. Sozialen Netzwerken und Medien kommt in der Lebensrealität vieler Menschen ein hoher Stellenwert zu. Um dieser Rolle entsprechend Rechnung zu tragen, kommen innerhalb des Modellprojektes medienpädagogische Methoden zur Anwendung, um Jugendlichen Handlungsmöglichkeiten gegen „Hate-Speech“-Hasskommentare, zu vermitteln. „Seitenwahl“ will hier einen Beitrag zur demokratischen Debattenkultur im Internet leisten, die in der Vergangenheit vermehrt verroht ist. Neben einer Stärkung von engagierten Jugendlichen und einer breiten Sensibilisierung von UserInnen werden durch MitarbeiterInnen der ARUG/ ZDB direkte Anspracheformen innerhalb sozialer Netzwerke erprobt. Themenkontraste und Diskurse sollen gesetzt werden, damit dem „lauten“ Hetzen im Internet gezielt widersprochen wird und im besten Fall Distanzierungsprozesse und Perspektivwechsel initiiert werden. Auch in diesem Bereich sollen MultiplikatorInnen der unterschiedlichen Bereiche in ihren Möglichkeiten der Intervention gestärkt werden. Bisherige Erfahrungen Im ersten Jahr des Modellprojekts „Seitenwahl“ wurden viele pädagogische Fachkräfte und weitere MultiplikatorInnen informiert, sensibilisiert und mit geeignetem pädagogischem Handwerkszeug ausgestattet. Daraus haben sich vermehrt Bedarfe ergeben, sodass Distanzierungsprozesse durch MitarbeiterInnen der ARUG/ ZDB unterstützt wurden. Das Handlungskonzept wurde darin bestätigt, als dass rechtsorientierte Jugendliche und junge Erwachsene sich inhaltlich an bestimmten Themen „abarbeiten“ wollen und sich gezielt Menschen in ihrem Umfeld suchen, mit denen sie sich über bestimmte Themen auseinandersetzen können. Die Bereitschaft, sich mit den undemokratischen und menschenfeindlichen Themen der rechtsorientierten Jugendlichen auseinanderzusetzen, stieg mit der inhaltlichen Sicherheit und mit der gestärkten Haltung, die die pädagogischen Fachkräfte einnahmen. Die Bereitschaft der KlientInnen, sich auf der anderen Seite mit nicht-rechtsorientierten Perspektiven auseinanderzusetzen, stieg, sobald ihre Argumente ernst genommen, aber inhaltlich begründet zurückgewiesen wurden. Das Gefühl ernst genommen zu werden und trotz einer gegenteiligen Meinung respektvoll behandelt zu werden, erhöhte die Wahrscheinlichkeit, dass andere Perspektiven eingenommen und Veränderungsimpulse zugelassen wurden. Selbstkritisch ist anzumerken, dass die Zugänge zu verschiedenen Subkulturen aus unterschiedlichen Gründen schwer zu erschließen sind und daher ist der Peer-to-Peer-Ansatz weiterhin in der Erprobung. Die Ansprache von rechtsorientierten Kommentatoren in sozialen Netzwerken zeigten sehr unterschiedliche Ergebnisse. In manchen Fällen wurde ein Gefühl des Ertapptwerdens gespiegelt, sodass sogleich eine Reflektion über die getätigten Kommentare - sowohl des Inhalts als auch der Form betreffend - in Gang 465 uj 11+12 | 2016 Prävention durch Distanzierungsarbeit gesetzt wurde. In anderen Fällen hatte das Auftreten unter dem Namen ARUG/ ZDB bereits zur Folge, dass eine Kommunikation strikt abgelehnt wurde. Im Rahmen von Workshops wurden in unterschiedlichen Kontexten Jugendliche im Umgang mit sozialen Netzwerken und Onlinemedien im Sinne einer ‚Rückeroberung demokratischer Räume‘ geschult. Oftmals sind Jugendliche bereit, viel Zeit und Geduld für Diskussionen in sozialen Netzwerken einzubringen, sodass eine Stärkung von eben diesen Prozessen für den demokratischen und respektvollen Diskurs im Internet nur von Vorteil sein kann. Ausblick Die Laufzeit des Modellprojekts „Seitenwahl“ endet 2019. Bis dahin sollen weiterhin pädagogische Fachkräfte aus der Jugendhilfe und weitere MultiplikatorInnen qualifiziert, punktuell in der Distanzierungsarbeit mit rechtsorientierten Jugendlichen unterstützt und menschenrechtsorientierte Jugendliche in ihren jeweiligen Subkulturen und in ihrem Engagement gestärkt werden. Best-Practice-Methoden sollen zusammengetragen und MultiplikatorInnen zur Verfügung gestellt werden. Ziel soll sein, dass die ARUG/ ZDB einen Beitrag zu einer demokratischen, respektvollen und offenen Debattenkultur im Internet und auch in sämtlichen anderen alltäglichen Diskursen leistet. Auf Hasskommentare, online wie offline, müssen Widerspruch und Zurückweisung folgen. Auf Radikalisierung muss Distanzierung folgen. Carolin Peaßens Kristin Harney Zentrum Demokratische Bildung (ZDB) Arbeit und Leben Niedersachsen Ost gGmbH Heinrich-Nordhoff-Straße 73 - 77 38440 Wolfsburg Literatur Decker, O., Kiess, J., Brähler, E. (2016): Die enthemmte Mitte. Autoritäre und rechtsextreme Einstellung in Deutschland. Gießen, Pyschosozial-Verlag Hohnstein, S., Greuel, F. (2015): Einstiege verhindern, Ausstiege begleiten. Pädagogische Ansätze und Erfahrungen im Handlungsfeld Rechtsextremismus. Halle, DJI e.V Koch, R., Saß, S. (2015): Erfolgreich aussteigen - Möglichkeiten und Grenzen der Arbeit mit Ausstiegswilligen. In: Langebach, M., Habisch, C.: Zäsur? Politische Bildung nach dem NSU. Bonn, Bundeszentrale Politische Bildung Lehnert, E., Glaser, E. (2016): Verstellter Blick. Eine Absage an „Deradikalisierung“ im Zusammenhang mit Jugend- und Präventionsarbeit. In: Burschel, F.: Durchmarsch von rechts. Völkischer Aufbruch: Rassismus, Rechtspopulismus, rechter Terror. Berlin, Rosa-Luxemburg-Stiftung Möller, K., Schuhmacher, N. (2007): Rechte Glatzen. Rechtsextreme Orientierungs- und Szenezusammenhänge - Einstiegs-, Verbleibs- und Ausstiegsprozesse von Skinheads. Wiesbaden, Springer VS Neumann, P. (2013): Radikalisierung, Deradikalisierung und Extremismus. In: Aus Politik und Zeitgeschichte (APuZ 29 - 31/ 2013). Bonn, Bundeszentrale politische Bildung Schumacher, N. (2014): Von der Hilfe zur Abhilfe? Die Karrieren von Ausstiegs- und Deradikalisierungs- Paradigma im Kontext der Bundesprogramme. In: Blome, M., Manthe, B. (Hrsg.): Zum Erfolg verdammt. Bundesprogramme gegen Rechtsextremismus. Prävention und Intervention auf dem Prüfstand. Düsseldorf, Informations- und Dokumentationszentrum für Antirassismusarbeit e.V. (IDA) Schumacher, N. (in Druck): ‚Nicht mehr mitmachen‘ und die Herausforderungen für pädagogische „Distanzierungsarbeit“. In: Kurswechsel, Hamburg Stöss, R. (2010): Rechtsextremismus im Wandel. Berlin, Friedrich-Ebert-Stiftung
