eJournals unsere jugend 68/11+12

unsere jugend
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0342-5258
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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2016
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Peerbasierte Antidiskriminierungsarbeit für eine demokratische Kultur im realen und virtuellen Sozialraum

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2016
Tim Scholz
Bettina Dettendorfer
Christine Reich
Wie können junge Menschen dazu motiviert und befähigt werden, sich in realen und virtuellen Sozialräumen aktiv gegen Diskriminierung und Ausgrenzung zu engagieren und sich für eine vielfältige demokratische Kultur einzusetzen? Diesen zentralen Fragestellungen geht die Jugendbildungsstätte Kurt Löwenstein mit ihrem Projekt nach.
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466 unsere jugend, 68. Jg., S. 466 - 470 (2016) DOI 10.2378/ uj2016.art64d © Ernst Reinhardt Verlag München Basel Peerbasierte Antidiskriminierungsarbeit für eine demokratische Kultur im realen und virtuellen Sozialraum Ein Modellprojekt der Jugendbildungsstätte Kurt Löwenstein Wie können junge Menschen dazu motiviert und befähigt werden, sich in realen und virtuellen Sozialräumen aktiv gegen Diskriminierung und Ausgrenzung zu engagieren und sich für eine vielfältige demokratische Kultur einzusetzen? Diesen zentralen Fragestellungen geht die Jugendbildungsstätte Kurt Löwenstein mit ihrem Projekt nach. von Tim Scholz Jg. 1971, Studium Politische Wissenschaften, Pädagogischer Leiter und Bildungsreferent Ausgehend von den Auseinandersetzungen um die Unterkunft für geflüchtete Menschen in Berlin-Hellersdorf im Sommer 2013, als „besorgte BürgerInnen“, unterstützt durch rechte Gruppierungen, massiv Stimmung gegen geflüchtete Menschen in der Nachbarschaft machten, entwickelte die Jugendbildungsstätte Kurt Löwenstein die Idee einer zivilgesellschaftlichen Gegenstrategie, um aktiv Zeichen gegen Diskriminierung und Ausgrenzung zu setzen. Es sollten langfristig Peers ausgebildet werden, die für eine vielfältige Demokratie und die Gestaltung demokratischer Prozesse sowohl in ihrem eigenen Sozialraum als auch im virtuellen Raum eintreten sollen. Rechte Gruppierungen schüren mit menschenverachtenden Ideologemen und platten Parolen unter Ausnutzung von irrationalen Ängsten in der deutschen Mehrheitsgesellschaft Stimmung gegen Geflüchtete, die durchaus mobilisierungs- und gesellschaftlich anschlussfähig sind. Damit werden Rechtsextremen Anknüpfungspunkte für eigene Kampagnen geboten. Dies kann, nicht nur unter Jugendlichen, Radikalisierungsprozesse fördern, indem sie sich als „Vollstrecker“ des allgemeinen Bettina Dettendorfer Jg. 1976, Erziehungswissenschaftlerin, Bildungsreferentin Christine Reich Jg. 1967, Sozialwissenschaftlerin, Geschäftsführerin Zusammen leiten sie das Projekt „Es ist deine Kampagne - (Inter)aktiv für eine lebendige Demokratie! “ der Jugendbildungsstätte Kurt Löwenstein 467 uj 11+12 | 2016 Peerbasierte Antidiskriminierungsarbeit „Volkswillens“ verstehen können. Insbesondere die Thematik „Geflüchtete“ erweist sich offensichtlich als geeignet, nicht nur sozialchauvinistische und menschenfeindliche Einstellungen zu aktivieren, sondern auch an nationalsozialistische Ideologeme anzuknüpfen, wie zum Beispiel der Verzahnung von pseudokriminalistischer und rassenbiologistischer Verfolgung. Die Jugendbildungsstätte Kurt Löwenstein möchte im Rahmen ihres Modellprojektes in unterschiedlichen Sozialräumen im Umfeld von Unterkünften für geflüchtete Menschen der Präsenz von Rechtsextremen und ihren menschenverachtenden Positionen offensiv entgegengetreten. Jugendliche sollen auf unterschiedliche Art und Weise als Peers dazu befähigt werden, vor Ort und in den sozialen Medien aktiv für eine demokratische Kultur einzutreten. Gemeinsam mit dem Salvador-Allende-Haus in Nordrhein-Westfalen wollen wir unsere Ansätze in urbanen und ländlichen Räumen in Berlin, Brandenburg und Nordrhein-Westfalen erproben. Wir wollen Jugendliche für Formen der Ausgrenzung und Diskriminierung sensibilisieren, zur Auseinandersetzung motivieren und sie als Peers unterstützen, um so erfolgte oder beginnende Radikalisierungsprozesse in den beschriebenen Sozialräumen zurückzudrängen. Ziel ist es, Jugendliche darin zu befähigen, rechtsextremen Argumentationsmustern inhaltlich gegenzuhalten. Dies soll zu einem Zurückdrängen rechtsextremer Meinungsführerschaft innerhalb der Sozialräume bzw. der jugendlichen Peerzusammenhänge und zur Dekonstruktion rechtsextremer Narrative führen. Da rechte Gruppierungen und Organisationen aktuell vor allem die Flüchtlingspolitik dazu nutzen, ihre Inhalte und Orientierungsangebote bei Jugendlichen zu etablieren, müssen sich Wissensvermittlung, Einstellungshinterfragung, persönliche Positionierung und das Aufzeigen von Handlungsoptionen auch auf dieses Feld beziehen. Mit unserem Projekt wollen wir proaktiv in die realen und virtuellen Sozialräume wirken und zu einer Hegemonie demokratischer Kultur beitragen. Dabei soll eine Vernetzung vieler Akteure erfolgen. Die Jugendbildungsstätte Kurt Löwenstein ist als Landes- und Bundesbildungsstätte der Sozialistischen Jugend Deutschlands - Die Falken seit mehr als 40 Jahren in der außerschulischen politischen Kinder- und Jugendbildung aktiv. Sie dient als eine der vielen Kooperationspartner. Durch unsere langjährige Bildungsarbeit verfügen wir über ein entsprechendes Netzwerk an KooperationspartnerInnen zur Umsetzung des Projektes. Ein fünfköpfiges hauptamtliches Bildungsteam führt mit Unterstützung eines HonorardozentInnenpools jährlich ca. 80 Wochenseminare der politischen Jugendbildung für Berliner und Brandenburger SchülerInnen und Auszubildende, internationale Bildungs- und Begegnungsseminare und Fortbildungen für MultiplikatorInnen der Jugendarbeit durch. Bewusst suchen wir aber auch neue Vernetzungen und die Zusammenarbeit vor allem mit Einrichtungen in der räumlichen Nähe von Unterkünften geflüchteter Menschen, zu denen sie auch einen Bezug haben, wie etwa Schulen, Jugendeinrichtungen oder Stadtteilzentren. Großes Interesse am Thema Flucht und Fluchtursachen Das Thema Migration und Flucht ist bei Kindern und Jugendlichen aufgrund der aktuellen Entwicklungen sehr präsent. Es ist ein Thema, das polarisiert. Einerseits kommt es zu personenstarker Mobilisierung seitens rechter AkteurInnen, gleichzeitig zeigt sich die demokratisch orientierte Zivilgesellschaft mit Willkommensfesten und Gegendemonstrationen aktiv. Der medial vermittelte Eindruck bezüglich der Lage geflüchteter Menschen zeichnet teilweise ein Bild eines gesellschaftlichen Notstands, das eine sachliche und menschenrechtsorientierte Annäherung an das Thema nicht fördert. 468 uj 11+12 | 2016 Peerbasierte Antidiskriminierungsarbeit Zielgruppe des Projekts sind SchülerInnen im Alter zwischen 10 und 18 Jahren, die wir als empfänglich für die öffentlichen Debatten zum Thema Flucht und Migration einschätzen. Die Jugendlichen können den Themenschwerpunkt der Seminare im Rahmen des Projektes im Regelfall selbst wählen. Durch die Vermittlung von Wissen in Verbindung mit einer klaren Haltung durch die DozentInnen während der Bildungsangebote ist es uns gelungen, Kinder und Jugendliche in der Auseinandersetzung mit dem Thema zu fördern und zur Entwicklung eines eigenen Standpunktes zu befähigen. Mit Kindern im Alter von 10 - 12 Jahren ließ sich die Thematik „Menschen auf der Flucht“ sehr gut bearbeiten. Ziel dieser mehrtägigen Seminare im Rahmen des Projektes ist es, den SchülerInnen durch die intensive Beschäftigung mit den Inhalten, die sie sachgerecht aufarbeiten, aufzuzeigen, welche eigenen Handlungsmöglichkeiten sie besitzen, nach denen sie sich in der geführten Debatte positionieren können, wie es ihrer Meinung entspricht, ohne sich dabei von anderen leiten zu lassen. Vor allem die Arbeit mit Biografien geflüchteter Kinder erwies sich dabei als guter Anknüpfungspunkt, um Inhalte zu vermitteln und Diskussionen anzuregen. Wie in anderen Projekten der Jugendbildungsstätte Kurt Löwenstein, in denen Kinder Zielgruppe politischer Bildung waren, zeigte sich auch bei der Thematik „Flucht und Zusammenleben“, dass Kinder nicht im politikfreien Raum leben, sondern sehr wohl in der Lage sind, eine ernsthafte Auseinandersetzung über gesellschaftlich relevante Themen zu führen, weil sie diese auch als solche wahrnehmen und im Alltag damit konfrontiert sind. Im Sinne einer politischen Bildung von Anfang an und einer Prävention von Demokratiefeindlichkeit ist dies eine relevante Erkenntnis aus dem Projekt „Es ist deine Kampagne - (Inter)aktiv für eine lebendige Demokratie! “. Bei den aktuell stattfindenden Seminaren stellen wir seitens der Jugendlichen ein stärkeres Interesse am Thema Antidiskriminierung und Wertschätzung von Vielfalt fest, wenn auch das Thema Migration und Flucht zentral bleiben wird, nicht zuletzt aufgrund der gesellschaftlichen Relevanz des Themas. Aufgrund der gestiegenen Zahl geflüchteter Menschen, die im letzten Jahr in die Bundesrepublik gekommen sind, sehen wir eine zentrale Aufgabe des Projektes auch in der Durchführung von gemeinsamen Begegnungen und Aktivitäten von Kindern und Jugendlichen mit und ohne Fluchterfahrung. Viel zu oft sind sie in ihren eigenen Sozialstrukturen verhaftet und somit im Alltag voneinander isoliert. Daher bieten sich wenige Möglichkeiten zum Kontakt und daher kann eine Willkommenskultur kaum geschaffen werden. Dieser Kontakt wird nun durch das Projekt verstärkt angestrebt. Durch den Peersansatz Jugendliche erreichen und motivieren Wurde zu Beginn des Projektes noch mit Schulklassen gearbeitet, so waren es im weiteren Verlauf nur noch Seminare für einzelne engagierte Jugendliche. Hier stehen wir vor mehreren Herausforderungen. Es gilt Strategien zu entwickeln, diese Peers, in denen sie sich bewegen, auszubilden und sie zu befähigen, Aktivitäten vor Ort zu planen und durchzuführen. Dazu wird es Bildungsformate geben, wie z. B. regelmäßige Angebote in Jugendfreizeiteinrichtungen in Form von Arbeitsgruppen oder der Unterstützung von Jugendinitiativen, die sich für Geflüchtete engagieren. Zentral ist dabei, die gewonnenen Peers zu stärken und zu unterstützen, damit sie vor Ort und in den sozialen Medien aktiv werden können. Damit dieses gelingt, sollen die Peers u. a. durch Fortbil- 469 uj 11+12 | 2016 Peerbasierte Antidiskriminierungsarbeit dungstage, Bildungsmodule unter Einsatz von Blended Learning Formaten und einem Onlinetutorium ausgebildet und selbst handlungsfähig werden. Wichtig ist der direkte Kontakt der Peers mit unterstützenden MentorInnen. Hierzu haben wir in unserem Konzept „SozialraumkoordinatorInnen“ geschaffen, die vor Ort in den Sozialräumen in der Vernetzungsarbeit aktiv sind, aber auch für die Peers als Ansprech- und Unterstützungspersonen zur Verfügung stehen. Als Aktivitäten vor Ort, den Kampagnen der Peers, sind bislang vielfältige Ideen gesammelt worden: Musikkampagnen, Besetzung des öffentlichen Raums (z. B. Mieten von Plakatwänden), lokale Veranstaltungen, virtuelle Litfaßsäulen und Kampagnen im Netz etc. Mit dem Projekt wollen wir neben dem realen Sozialraum der Jugendlichen bewusst auch die virtuellen Räume erreichen und soziale Medien in den Blick nehmen. Auseinandersetzung mit Hate Speech Mit unserem Projekt möchten wir verstärkt das Augenmerk auf die verschiedenen Formen von Hatespeech/ Hassrede richten, dem Jugendliche in unterschiedlichster Ausprägung im Internet und vor allem in den sozialen Netzwerken begegnen. Hate Speech als Ausdruck von Menschenverachtung und Hass ist keine neue Erscheinung und auch nichts, was erst seit ein paar Jahren bekannt ist. Dennoch scheint es seit knapp zwei Jahren eine neue Wut- und Hasskultur zu geben, die nicht nur in Deutschland um sich greift und als Verbreitung von gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit im Netz zu finden ist. Dabei ist gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit zu verstehen als zusammenhängendes Phänomen, das in der „[…] Abwertung und Ausgrenzung einer ganzen Reihe von sozialen Gruppen und den ihnen zugerechneten Personen, wie sie sich u. a. in ethnischem Rassismus, Antisemitismus und Sexismus zeigt, ein zusammenhängendes Syndrom Gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit [bildet], zusammengehalten durch die Ideologie der Ungleichwertigkeit. Im Kern geht es darum, dass Menschen aufgrund ihrer zugewiesenen Gruppenzugehörigkeit eine unterschiedliche Wertigkeit beigemessen wird“ (Küpper 2016, 21). Im Netz und dort vor allem in den sozialen Netzwerken finden wir diese gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit in Form von Hate Speech in den verschiedensten Formen der Abwertung, in Vorurteilen genauso wie in Diskriminierung bis hin zu offenen Gewaltaufrufen. Sie äußert sich in Text und Bild, direkt oder indirekt, offenkundig menschenverachtend oder als Satire verpackt. Sie ist zu finden in Kommentarfunktionen bei Zeitungen oder in Diskussionen bei Facebook, Twitter und anderen sozialen Medien. Aber auch im eigenen Bekanntenkreis kann schon mal das eine oder andere geschrieben werden, „was doch mal gesagt werden darf“. Ergebnisse der im Juni 2016 veröffentlichten Forsa-Umfrage „Ethik im Netz - Hate Speech“ machen deutlich: In der Gruppe der 14 - 24-Jährigen ist Hassrede ein alltägliches Phänomen. So sehen 22 Prozent der Befragten sehr häufig, 32 Prozent häufig und 37 Prozent ab und zu Hate Speech in ihren unterschiedlichsten Ausprägungen. Hate Speech ist somit gerade auch für junge Menschen eine relevante Sozialisationserfahrung geworden. Dabei wird Hass und Diskriminierung als Ausdruck von gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit im Netz nicht nur von rechten und rechtspopulistischen Gruppen genutzt, sondern erreicht viele Menschen, etabliert Narrative und scheint gesellschaftsfähig zu werden. Die Grenze des Sagbaren hat sich verschoben. Auch wenn bisher kein direkter Zusammenhang zwischen der im Netz vorhandenen Hassrede und realen Ausschreitungen oder Handlungen z. B. gegenüber geflüchteten Menschen wissenschaftlich festgestellt wurde, muss man sich die Frage stellen, inwieweit Hate Speech im Netz zu einer Radi- 470 uj 11+12 | 2016 Peerbasierte Antidiskriminierungsarbeit kalisierung von Einstellungen und Haltungen in der Gesellschaft beiträgt. Selbst aktiv werden: Gegenrede und Kampagnen im Netz In Form von Projekttagen an Schulen und in Jugendeinrichtungen sowie in unterschiedlichen Seminarsettings gibt es im Projekt die Möglichkeit, genau diese Fragen mit Kindern und Jugendlichen zu thematisieren, um der Tatsache Rechnung zu tragen, dass für die Zielgruppe die Kommunikation im Netz ein selbstverständlicher Bestandteil ihres Lebens ist. Besonders die Thematik Hate Speech soll dabei näher behandelt werden. Hintergründe und Zusammenhänge in Verbindung mit Menschenwürde und Meinungsfreiheit durch demokratisches Miteinander soll dabei Ziel der Handlungen sein. Tim Scholz Bettina Dettendorfer Christine Reich Jugendbildungsstätte Kurt Löwenstein Freienwalder Allee 8 - 10 16356 Werneuchen E-Mail: t.scholz@kurt-loewenstein.de b.dettendorfer@kurt-loewenstein.de c.reich@kurt-loewenstein.de Literatur Küpper, B. (2016): Ideologien der Ungleichwertigkeit und das Syndrom. Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit. In: Heinrich-Böll-Stiftung (Hrsg.): Ideologien der Ungleichwertigkeit. http: / / www.lfm-nrw. de/ fileadmin/ user_upload/ lfm-nrw/ Service/ Veran staltungen und Preise/ Medienversammlung/ 2016/ EthikimNetz_Hate_Speech-PP.pdf, 4. 8. 2016