unsere jugend
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0342-5258
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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2016
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Salafistische Radikalisierung in der Adoleszenz
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2016
Kerstin Sischka
Das Diagnostisch-Therapeutische Netzwerk Extremismus ist 2015 als Modellprojekt initiiert worden, um auf den psychologischen und psychotherapeutischen Interventionsbedarf zu reagieren, der in Radikalisierungsprozessen zu beobachten ist. Diskutiert wird, inwiefern extremistische Positionen Bedürfnissen von Jugendlichen in ihrer Identitätsentwicklung entgegenkommen.
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477 unsere jugend, 68. Jg., S. 477 - 484 (2016) DOI 10.2378/ uj2016.art66d © Ernst Reinhardt Verlag München Basel Salafistische Radikalisierung in der Adoleszenz Identitätstheoretische und psychodynamische Grundlagen der Prävention Das Diagnostisch-Therapeutische Netzwerk Extremismus ist 2015 als Modellprojekt initiiert worden, um auf den psychologischen und psychotherapeutischen Interventionsbedarf zu reagieren, der in Radikalisierungsprozessen zu beobachten ist. Diskutiert wird, inwiefern extremistische Positionen Bedürfnissen von Jugendlichen in ihrer Identitätsentwicklung entgegenkommen. Die Prävention von religiös begründetem Extremismus ist in hohem Maße von einer gelingenden Zusammenarbeit zwischen staatlichen und zivilgesellschaftlichen Akteuren und einer multiprofessionellen Kooperation verschiedener Berufsgruppen abhängig. Je spezifischer die Präventionsanforderungen werden - beispielsweise wenn es um die Intervention bei bereits beginnender Radikalisierung, das Aussenden von Distanzierungsimpulsen oder um Ausstiegshilfen aus extremistischen Szenen geht - umso wichtiger werden psychosoziale und psychotherapeutische Ansätze. Aus langjährigen Erfahrungen in der Arbeit mit Aussteigern aus rechtsextremistischen und freiheitsfeindlichen Strukturen (der Initiative EXIT-Deutschland) und mit der Beratungsstelle für Deradikalisierung im Bereich Salafismus (HAYAT ) wurde der Bedarf deutlich, psychologische, psychotherapeutische und sozialpsychiatrische Kompetenzen stärker in das jeweilige Case Management einzubeziehen, woraus die Idee zur Gründung des DNE (Diagnostisch-Therapeutisches Netzwerk Extremismus) entstand (vgl. Wagner 2013). Das DNE besteht aus einer psychologisch-psychotherapeutischen Fachstelle, die fall- und problembezogen mit lokalen Netzwerkpartnern in verschiedenen bundesdeutschen Städten und Regionen zusammenarbeitet und auch den Dialog mit wissenschaftlichen Fachgesellschaften sucht. Seit 2015 arbeiten psychologisch und psychotherapeutisch qualifizierte MitarbeiterInnen des DNE eng mit EXIT und HAYAT zusammen, z. B. in Form von konsiliarischer Beratung und Falldiskussion, gemeinsamer Fallbetreuung oder der (zeitweisen) Übernahme von Fällen der Eltern- oder Ausstiegshilfe. Das DNE hat mehrere Workshops gemeinsam mit Kollegen aus dem Netzwerk des ZDK (Zentrum Demokratische Kulvon Kerstin Sischka Jg. 1975, Diplom-Psychologin, wissenschaftliche Mitarbeiterin im Zentrum Demokratische Kultur und seit 2015 Koordinatorin des Diagnostisch- Therapeutischen Netzwerkes Extremismus (DNE) 478 uj 11+12 | 2016 Salafistische Radikalisierung in der Adoleszenz tur) durchgeführt und wird zunehmend von externen Fachkräften in fallbezogenen Fragen bei Radikalisierungsgefährdungen oder Deradikalisierungsprozessen konsultiert (Sischka 2015). Da es sich bei der psychologischen und psychotherapeutischen Sekundär- und Tertiärprävention und Distanzierungsintervention bei Radikalisierung um ein neues und noch wenig konzeptualisiertes Arbeitsfeld handelt, bemüht sich das DNE um eine Aufarbeitung relevanter wissenschaftlicher Grundlagen. Hierbei steht ein psychosozialer Ansatz im Zentrum, dem es um eine nicht-reduktionistische Subjektkonzeption geht, in dem die Komplexität der psychischen Innenwelt wie auch der gesellschaftlichen Außenwelt ernst genommen und in ihrer wechselseitigen Konstitution anerkannt werden. In Anlehnung an den britischen Kriminologen Jefferson plädiert das DNE für eine Konzeption des Subjekts, „dessen innere Welt nicht ohne ein Wissen um seine Erfahrungen in der Welt verstanden werden kann, und dessen Erfahrungen in der Welt nicht ohne ein Wissen um die Art und Weise verstanden werden können, in der ihre innere Welt den Subjekten gestattet, die äußere Welt zu erleben“ (Jefferson/ Hollway 2000, 4, Übers. d. Autorin). Auf dieser Grundlage sollen am Beispiel der Adoleszenz und Identitätsentwicklung von Jugendlichen und Heranwachsenden nun einige Grundlagen aus der Arbeit des DNE dargestellt sowie Thesen über Radikalisierungsprozesse, deren Prävention und deradikalisierende Erstintervention entwickelt werden. Krisenhafte Adoleszenzverläufe und Radikalisierung Radikalisierungsprozesse bei jungen Menschen beginnen meist in der Adoleszenz, d. h. psychologisch in einer Phase, die mit enormen körperlichen, emotionalen und kognitiven Entwicklungen einhergeht. Die galt schon immer als eine Zeit der Krisen, in der junge Menschen in ihrem Streben nach Autonomie und in ihrer Identitätsentwicklung hin und her schwanken. Zumeist geht die Adoleszenz mit einer intensiven Erprobungstätigkeit und der Entwicklung neuer Fähigkeiten einher. Jugendliche lösen sich von den Eltern ab, fühlen sich zu Gleichaltrigen hingezogen und gehen erste Liebesbeziehungen ein. Es kann aber auch zu problematischen Verläufen kommen, in denen sich schwere Krisen und vielleicht sogar psychosoziale Symptome entwickeln und die individuelle Entwicklung in eine Sackgasse gerät. Zu fragen ist, ob die religiös-extremistische Radikalisierung nicht auch ein solches „psychosoziales Symptom“ ist, dem Konfliktdynamiken zugrunde liegen, an denen neben gesellschaftlichen, sozialen und familiären Faktoren auch psychische Verarbeitungsweisen mitwirken, die es genauer zu beleuchten gilt. Im günstigsten Falle durchleben Jugendliche die emotionalen Krisen und Turbulenzen der Adoleszenz ohne größere Probleme und es kommt zu einer zunehmenden Stabilisierung eines neuen Bildes von sich selbst, welches es ermöglicht, die Verantwortung für das eigene Leben, für Gelingen und Scheitern zu übernehmen (vgl. Salge 2013). Der Prozess des Erwachsenwerdens ist eine normalpsychologische Phase mit einer intensiven Identitätssuche, einem verstärkten Instabilitätserleben und dem Spiel mit verschiedenen (Daseins-)Möglichkeiten, das nicht mit dem 18. Lebensjahr abgeschlossen ist (vgl. Salge 2013). Junge Menschen gelten dabei als potenziell kompetente Co-Produzenten ihrer eigenen Entwicklung, doch es steht außer Frage, dass das Gelingen der Adoleszenz und des Erwachsenwerdens zu einem hohen Maße davon abhängt, ob sie auf gute und stabile Beziehungen zu den Eltern zurückgreifen können. Erfahrungen aus der Unterstützung von Eltern radikalisierter junger Menschen zeigen aber häufig, dass die emotionale Kommunikation zwischen Eltern und Kindern nicht erst seit dem Beginn der Radikalisierung gestört ist, sondern dies häufig schon vorher der Fall war. 479 uj 11+12 | 2016 Salafistische Radikalisierung in der Adoleszenz Nicht selten liegen traumatische Verlusterfahrungen und Brüche in der Familiengeschichte vor oder die Jugendlichen wachsen mit einem alleinerziehenden Elternteil auf, sodass das Fehlen einer väterlichen triangulierenden Funktion für die Radikalisierung begünstigend wirken kann. Sich als Jugendlicher die Frage zu stellen, „Wer bin ich? “ und „Wer möchte ich einmal sein? “ lässt sich, entwicklungspsychologisch betrachtet, nur durch ein „ständiges Oszillieren zwischen Introspektion, Fantasieren als Antizipationsversuch, Probehandeln und Offenheit für die Perspektive des bedeutsamen Anderen auf das eigene Selbst“ beantworten (Salge 2013, 41). Die Entwicklung von Identität ist nicht möglich, „ohne auf sich selbst durch die Augen der Anderen zu schauen, aber auch selbst den Anderen zum Objekt der eigenen Beobachtung werden zu lassen“ (Salge 2009, 40). Dies bringt junge Menschen immer auch mit ihren Identitätsunsicherheiten in Berührung, weshalb Exploration und Probehandeln auf ein stabiles Selbstwertgefühl angewiesen sind. Denn sich als „unfertig“, „unsicher“ oder gar als „defizitär“ zu erleben, ist eng verbunden mit dem Affekt der Scham. Einbrüche im Selbstwertgefühl, narzisstische Kränkungen, soziale Ängste und deren Abwehr, Wut bis hin zum Hass liegen dann eng beieinander. Wie junge Menschen mit solchen emotionalen Grenzerfahrungen zurechtkommen, ist abhängig von den inneren Beziehungserfahrungen und ihrer psychischen Stabilität. Identitätskrisen und strukturelle Entwicklungsstörungen - ein Kontinuum Sozialpädagogen und Familienberater, die mit radikalisierungsgefährdeten oder radikalisierten jungen Menschen arbeiten, beschreiben häufig Probleme der Identitätsentwicklung bei ihren Klienten. Die Jugendlichen scheinen intensiv auf der Suche nach Identität zu sein, wirken orientierungslos, sodass die Angebote der radikalen salafistischen Szene attraktiv erscheinen, wenn sie auf Bedürfnisse nach Zugehörigkeit, Gemeinschaft und Zusammenhalt reagieren. Es wäre aber leichtfertig zu postulieren, dass die Jugendlichen in der radikal-salafistischen Szene eine „Identität“ bekämen, als hätten sie vorher nichts Eigenes gehabt. Identitätsentwicklung ist immer ein psychosozialer Prozess, der sowohl auf intrapsychischer wie auch auf interpersoneller Ebene stattfindet. Wenn Jugendliche den Eindruck erwecken, dass sie sich durch eine unkritische Identifizierung mit Gruppen oder Leitbildern eine Identität ersatzweise entleihen, dann ist das nicht immer ein „Probehandeln“, sondern kann Hinweise auf einen problematischen Verlauf der Adoleszenz geben. Entwicklungspsychologie und Psychotherapie gehen im Allgemeinen von einem Kontinuum zwischen (a) normalen Adoleszenzkrisen, (b) reaktiven Identitätsstörungen im Zuge eines kritischen oder traumatischen Lebensereignisses und (c) entwicklungsbedingten Identitätsstörungen aus (vgl. Ermann 2011). An dem einen Ende des Kontinuums liegen Reaktionen auf normale psychosoziale Belastungen, z. B. durch Konflikte in Familie, Freundeskreis oder Schule, die in der Adoleszenz zu einer Labilisierung des Identitätsgefühls und damit zu einem vorübergehenden Zustand der Orientierungslosigkeit führen können. Am anderen Ende des Kontinuums sind bis in die Kindheit zurückreichende entwicklungsbedingte Identitätsstörungen anzusiedeln, bei denen die Organisation des psychischen Erlebens und zentrale Ich-Funktionen dauerhaft beeinträchtigt sind. Im Zentrum steht hier eine „Identitätsdiffusion“, deren Hauptmerkmal das Fehlen eines integrierten Konzepts des Selbst und der wichtigsten Bezugspersonen ist. Etwa in der Mitte zwischen beiden Polen sind schwere Identitätskrisen angesiedelt, die durch außergewöhnliche und teilweise traumatisch wirkende Brüche im Lebensverlauf ausgelöst werden. Wenn hier eine Identitätsdiffusion auftritt, dann bricht etwas 480 uj 11+12 | 2016 Salafistische Radikalisierung in der Adoleszenz schon Entwickeltes als Reaktion auf die erlebte Krise wieder zusammen. Für alle diese Phänomene gibt es in aktuellen Veröffentlichungen über adoleszente Radikalisierungsprozesse diverse Hinweise (vgl. Mücke 2016, vgl. Mansour 2015, vgl. Dantschke 2015). Ansätze der sozialpädagogischen Einzelfallhilfe können jungen Menschen in Krisensituationen wichtige Hilfestellungen leisten. Wenn jedoch strukturelle Probleme im Bereich der Identitätsentwicklung und Beziehungsregulation sichtbar werden, kann es Sinn machen, verstärkt psychotherapeutische Interventionen in Betracht zu ziehen. Manche Jugendliche, die sich über die Zugehörigkeit zu radikal-salafistischen Gruppen Halt, Orientierung und Eindeutigkeit wünschen, versuchen auf diese Weise eine Identitätsdiffusion zu bewältigen, die eigentlich von Chaos im Inneren und Orientierungslosigkeit im Außen gekennzeichnet ist. Auf die Psychodynamik solcher Prozesse wird im Verlauf des Artikels noch genauer eingegangen. Wenn diese sich radikalisierenden Jugendlichen überhaupt nicht mehr zwischen sich selbst und der eigenen Gruppe differenzieren, dabei auch bisherige Freundschaften abbrechen und die „Brüder“ oder „Schwestern“ aus der salafistischen Gruppe idealisieren, während die bisherigen Freunde entwertet werden, sind dies einige der Phänomene, die auf eine Identitätsdiffusion hinweisen können. Oft haben solche Jugendlichen eine sehr widersprüchliche Selbstwahrnehmung, nehmen auch andere Menschen nur sehr unscharf und oberflächlich wahr und sind nicht in der Lage, diese Widersprüche zu integrieren, d. h. zu einem Gesamtbild zu verbinden. Ihre Vorstellung von sich selbst, die eigene Zukunft betreffend (Beruf, Partnerschaft, Familie), fehlt völlig oder ist in sich stark widersprüchlich, wie auch Bemühungen, um irgendwelche Ziele zu erreichen, sinnlos erscheinen oder ganz fehlen. Bei manchen dieser Jugendlichen dominiert ein Erleben von Fremdheit gegenüber sich selbst und anderen sowie ein Gefühl von innerer Leere. Psychische Strukturdefizite als Vulnerabilitätsfaktor für Radikalisierung? Wenn die Identität, beispielsweise im Sinne einer Identitätsdiffusion, stark verunsichert oder unintegriert ist, sind zudem häufig auch andere Aspekte der psychischen Struktur bzw. weitere Fähigkeiten in den Bereichen der Selbst- und Beziehungsregulation schwach entwickelt (vgl. Rudolf et al. 2008): ➤ Jugendliche haben dann beispielsweise Schwierigkeiten mit ihrer Selbstwertregulierung bis hin zu einer großen Kränkbarkeit. ➤ Bei schwereren Einschränkungen sind die Selbstreflexion, also die Fähigkeit, über sich selbst in Beziehung zu anderen nachzudenken, sowie die Kommunikations- und Empathiefähigkeit schlecht entwickelt. ➤ Impulsdurchbrüche können mit einer Übersteuerung der Impulse abwechseln, so dass es auch rigide Bewältigungsmechanismen und ein Bedürfnis nach starren Regeln geben kann. ➤ Teilweise herrschen Beziehungsmuster vor, die eher an einem instrumentellen Bedürfnis- und Nutzenaspekt orientiert sind und nicht an einer emotionalen Wechselseitigkeit. Bei schweren strukturellen Defiziten ist die psychische Abwehr durch unreife Mechanismen, wie Spaltung, Entwertung und Idealisierung, gekennzeichnet. Friedmann schreibt aus der Arbeit mit delinquenten Jugendlichen dazu: „Einige der gewaltaffinen Jugendlichen suchen sich Strukturen, in denen ihre Projektionen in Ideologien versteckt, ausgelebt und gerechtfertigt werden können. Sie kompensieren ihr negatives Selbstbild und die empfundene Wertlosigkeit durch die Identifikation mit einer Gruppe, in der sie die herbeigesehnte Anerkennung und Stärke erleben, und projizieren die negativen Selbstanteile auf eine geeignete andere Gruppe, an der sie ihre Feindseligkeit be- 481 uj 11+12 | 2016 Salafistische Radikalisierung in der Adoleszenz kämpfen können. […] Gewalt kann also zur Aufrechterhaltung von labilen Ich-Funktionen eingesetzt werden“ (Friedmann 2015, 181). Strukturelle Probleme im Bereich der Identitätsentwicklung und Beziehungsregulation während der Adoleszenz können Vorläufer von späteren Persönlichkeitsstörungen sein. Allerdings entwickelt sich die Persönlichkeitsstruktur auch im Erwachsenenalter noch weiter und ist eigentlich nie völlig abgeschlossen, sodass sich in der Betrachtung von Identitäts- und Persönlichkeitsentwicklung dynamische Konzepte anbieten, wie sie beispielsweise in der modernen Psychoanalyse verwendet werden. Hier wird Identität nicht als ein fester, stabiler Zustand mit einem andauernden Gefühl des „Sich- Selbst-Gleichseins“ konzeptualisiert, sondern als ein Prozess, bei dem innerpsychische Mechanismen, wie Spaltung, Projektion und Introjektion als Abwehrmechanismen am Wirken sind, die dazu dienen, die psychische Homöostase zu wahren (vgl. Hinshelwood 1995). Insofern bedeutet die Identitätsentwicklung eine ständige Vermittlung von subjektiver Welt und äußerer Realität einerseits sowie bewussten und unbewussten Dimensionen der Persönlichkeit andererseits und es zeigen sich darin immer konflikthafte Prozesse. Psychodynamik salafistischer Radikalisierung - Thesen zur Kompatibilität von psychischen Strukturdefiziten und extremistischen Angeboten Angebote, die der Salafismus unterbreitet, kommen Bedürfnissen radikalisierungsgefährdeter junger Menschen u. a. deshalb entgegen, weil es eine Art Kompatibilität psychischer Strukturdefizite mit dem extremistischen Angebot gibt. Kiefer zufolge wird im Salafismus mit seinem bipolaren Denken menschliches Handeln zwanghaft als erlaubt oder unerlaubt verortet, „Mehrwertigkeit bzw. Ambiguität wird durch diese dichotome Grundanlage systematisch ausgeschlossen“ (Kiefer 2014, 2). All jene, die nicht den Maximen des radikalen Salafismus folgen, nicht die „wahre Religion“, den „richtigen Glauben“ leben, werden als „Kuffar“, als Ungläubige, gebrandmarkt, mit denen ein Dialog grundsätzlich abgelehnt wird. Junge Menschen, die bereits mit strukturellen Defiziten in die Adoleszenz eintreten und wenig auf sichere innere Beziehungserfahrungen zurückgreifen können, haben es schwerer, narzisstische Krisen zu bewältigen als Jugendliche in innerlich und äußerlich stabilen Verhältnissen. Die Ideologie des Salafismus kann für diese Jugendlichen als ein organisierendes Prinzip für die strukturschwache Psyche wirken, die dadurch gleichsam stabilisiert wird. Die Ideologie stellt eine Projektionsfläche für die eigenen verachteten, abgelehnten, gehassten Aspekte des Selbst dar, die nun Anderen (den „Ungläubigen“) angeheftet werden. Jene sollen dann missioniert, vom „richtigen Weg“ überzeugt, oder verfolgt und vielleicht sogar vernichtet werden. Der radikale Salafismus eignet sich hervorragend für solche Projektionsvorgänge, weil er selbst auf einem Freund-Feind-Denken mit klaren Gut-Böse-Zuordnungen basiert (vgl. Bohleber 2012). Psychische Mechanismen, wie Spaltung, Projektion und Verleugnung projizierter Selbstanteile verbinden sich mit der Ideologie, die emotional besetzt wird, weil sie eine vorübergehende psychische Entlastung verschafft. Daher berichten junge Menschen, die sich salafistischen Gruppen zugewandt haben, zunächst von einer inneren Ruhe und einem Gefühl des „Angekommenseins“ (vgl. Mansour 2015). Mit der Zugehörigkeit zur salafistischen Gruppe gerät der adoleszente Entwicklungsprozess in eine Sackgasse (vgl. Bohleber 2012). Die Ideologie oder die Gruppe, welche die Ideologie repräsentiert, definiert nun, was richtig und was falsch ist. 482 uj 11+12 | 2016 Salafistische Radikalisierung in der Adoleszenz Das reflektierende Nachdenken, soweit die Fähigkeit dazu bereits vorhanden war, wird eingestellt. Die verbleibenden Denkprozesse sind regressiv und von intensiven Emotionen (z. B. Hass) durchdrungen, die sich auf den Kontakt mit der tatsächlichen Realität beziehen, welche immer differenziert, widersprüchlich und konflikthaft ist. Eltern oder Freunde, die von salafistischen Jugendlichen missioniert wurden und sich dagegen zur Wehr setzen, haben dies am eigenen Leibe erlebt. Die Jugendlichen sind kaum noch offen für neue Erfahrungen, weil diese immer auch den emotionalen Kontakt mit Fragen und Zweifeln einschließen würden. Reife psychische Fähigkeiten z. B. zur Kompromissbildung oder zum Aushalten von Ambivalenzen werden, soweit sie schon vorhanden waren, neutralisiert (vgl. Bohleber 2012). Oft entsteht eine „paranoide Weltsicht“, die in Verschwörungstheorien oder antiwestlichen Haltungen zum Ausdruck kommt. Die „Buchstabengläubigkeit“ (Mansour 2015), ist ein Beispiel dafür, wie sich entwickelnde Symbolisierungsfähigkeiten verkümmern oder wieder verloren gehen: Die islamischen Quellen - Koran und Sunna - werden nicht als kulturell geprägte Texte gelesen (vgl. Kiefer 2014). Es gibt keinen kreativen Spielraum im Nachdenken mehr darüber, was der Text zu bedeuten hat, durch den sich der Gläubige fragend, zweifelnd ins Verhältnis zu Gott setzen kann. Wer dem Buchstabenglauben anhängt, darf nicht zweifeln, keine Fragen stellen. Insofern suchen diese Jugendlichen auch kein „Wissen“ oder keine „Wahrheit“, sondern vor allem Eindeutigkeit. Für niemanden „außer für Allah“ zu leben, wird zum Programm. Die Jugendlichen können daraus ein Gefühl der Stärke und moralischen Überlegenheit beziehen. Bohleber (2012) betont, dass solche Gruppen basierend auf kollektiven Fantasien von Einheit, Reinheit und Gleichheit funktionieren. Insofern geht es hierbei auch nicht um den Gewinn von „Identität“, sondern es findet eine Depersonalisierung oder Entleerung des eigenen Ich bei dessen gleichzeitiger Ausweitung auf die Gruppe und das Verhältnis zu Allah statt. Wenn sich diese Heranwachsenden für die Argumente des Gegenübers, beispielsweise ihrer Eltern, öffnen und nachdenken würden, kämen sie notwendigerweise mit all dem in Kontakt, was sie an sich unerträglich finden und daher loswerden wollen und in den Anderen projizieren: die eigenen verachteten, „unreinen“ oder „sündigen“ und ohnmächtigen Selbstanteile, verbunden mit Gefühlen von Scham und Angst, aber auch Neid und Wut, die auf das äußere ideologisch verzerrte Objekt projiziert werden und dort zerstört werden sollen. Insofern kann auch die Ausreise in das Gebiet des sog. Islamischen Staates der Vermeidung des Realitätskontaktes dienen. Wenn sich die Jugendlichen diesen Ort als so ideal, rein und paradiesisch vorstellen, handeln sie bei einer Ausreise in das Kriegsgebiet vor allem auf der Basis ihrer Fantasien und manövrieren sich gleichzeitig in einen nicht nur potenziell fremddestruktiven, sondern auch selbstdestruktiven Akt. Denn wie Bohleber (2012) zeigte, vollzieht sich in terroristischen Regimen eine traumatisierende Persönlichkeitstransformation: gute innere Beziehungserfahrungen, die dem Individuum ein Sicherheitsgefühl in der Welt gaben, brechen zusammen und werden durch die Identifikation mit der ideologischen Gruppe ersetzt. Sie sind solange Sicherheit spendend, solange sich der junge Mensch nicht innerlich davon distanzieren möchte, was lebensbedrohlich enden kann. Psychotherapeutische Entwicklungsförderung als Format in der Radikalisierungsprävention Im Bereich der Prävention von salafistischer Radikalität haben sich in den zurückliegenden Jahren zahlreiche Initiativen im Medienschutz, in der Bildungsarbeit, in der Netzwerkbildung und in der Beratungsarbeit entwickelt. Häufig wird davon ausgegangen, dass der salafistischen Radikalisierung begegnet werden kann, in dem Jugendlichen ein moderates Islamverständnis nahegebracht wird. 483 uj 11+12 | 2016 Salafistische Radikalisierung in der Adoleszenz Erfahrungen aus der Arbeit bei HAYAT und im DNE zeigen jedoch, dass die Hinwendung zum Salafismus oftmals weniger mit der Suche nach dem islamischen Glauben als mit dem Versuch der Bewältigung von Problemen der Identitätsentwicklung zu tun hat. Diese sind auf einem Kontinuum von normalen Adoleszenzkrisen bis hin zu strukturellen Entwicklungsstörungen anzusiedeln. Die bisher existierenden pädagogischen Formate der Radikalisierungsprävention sollten daher verstärkt durch psychotherapeutische Ansätze ergänzt werden, weil diese der Entwicklungsförderung wie auch der Heilbehandlung dienen können. Das Jugendhilferecht bietet die Möglichkeit, Psychotherapie im Rahmen der Hilfen zur Erziehung und als Hilfe für junge Volljährige einzusetzen (vgl. Wiesner 2005). Im Vordergrund stünde hier die Förderung von Reifung und Entwicklung der Persönlichkeit und damit die Beseitigung oder Minderung seelischer Beeinträchtigungen und Störungen, die der Entwicklung des jungen Menschen, seiner Autonomie, Selbstverantwortung und sozialen Integration im Wege stehen. Es wäre wünschenswert, wenn lokale Kinder- und Jugendhilfeträger sich mit den psychotherapeutischen Möglichkeiten gemäß KJHG vertraut machen würden und Sozialpädagogen und Psychotherapeuten hierbei zusammenwirken. In der Arbeit mit der hier beschriebenen Zielgruppe ist denkbar, dass psychotherapeutische Verfahren die sozialpädagogischen Ansätze unterstützen, ergänzen oder (im Extremfall [wieder]) ermöglichen. Umgekehrt kann der Einsatz psychotherapeutischer Verfahren durch pädagogische Arbeit vorbereitet werden. Es gibt in Deutschland wissenschaftlich anerkannte und nachweislich wirksame psychotherapeutische Verfahren, die auch in der durch das KJHG abgedeckten psychotherapeutischen Entwicklungsförderung verstärkt eingesetzt werden könnten. Empfehlenswert erscheinen Ansätze, die in Anlehnung an Streeck-Fischer auf Regulierungsvorgänge, Dezentrierung, Mentalisierung und Symbolisierung gehandelter Mitteilungen zentrieren (Streeck-Fischer 2014): Junge Menschen, die nicht gelernt haben, über sich zu sprechen, die nicht in der Lage sind, zu reflektieren, was sie erleben, brauchen Streeck- Fischer zufolge psychotherapeutische Beziehungs- und Entwicklungsangebote, in denen ihre Entwicklungsbedürfnisse anerkannt und unterstützt werden, ihre innere Welt sich konstituieren und die Identitätsentwicklung wieder in Gang gesetzt werden kann. Es wäre zu erwägen, ob eine solche Arbeit auch aufsuchend außerhalb der psychotherapeutischen Praxen in geschützten Räumen in der Lebenswelt von Jugendlichen und Heranwachsenden stattfinden kann. Eine aufsuchende Arbeit wird aber immer besonders herausfordernd sein, sodass empfehlenswert ist, ein starkes Gewicht auf die Entwicklung der konzeptuellen Qualität, ein professionelles Unterstützungssystem mit Teamarbeit und Netzwerkbeziehungen zu legen und systematisch aus den eigenen Erfahrungen mit der Fallarbeit zu lernen. Wenn lokale Träger der Kinder- und Jugendhilfe, die auch Heranwachsende und junge Erwachsene im Sinne einer Beziehungskontinuität erreichen, ein Interesse daran haben, explizit im Bereich der Prävention von Radikalität und religiös-politischem Extremismus aktiv zu werden und dabei verstärkt auch psychosoziale und psychotherapeutische Ansätze in ihre Arbeit einbeziehen wollen, kann das Diagnostisch- Therapeutische Netzwerk Extremismus bei der Konzeption, Realisierung und Reflektion dieser Arbeit unterstützen. Kerstin Sischka c/ o ZDK Gesellschaft Demokratische Kultur gGmbH Ebertystraße 46 10249 Berlin 484 uj 11+12 | 2016 Salafistische Radikalisierung in der Adoleszenz Literatur Bohleber, W. (2012): Was Psychoanalyse heute leistet. Klett-Cotta, Stuttgart Dantschke, C. (2015): Radikalisierung von Jugendlichen durch salafistische Strömungen in Deutschland. Zeitschrift für Jugendkriminalrecht und Jugendhilfe, 26 (1), 43 - 48 Ermann, M. (2011): Identität, Identitätsdiffusion, Identitätsstörung. Psychotherapeut, 56(135), http: / / doi: 10.1007/ s00278-011-0813-8 Friedmann, R. (2015): Praxisrelevante Differenzierung der Handlungsmotive von Gewalttätern. In: http: / / edoc.hu-berlin.de/ dissertationen/ friedmann-rebec ca-2015-09-03/ METADATA/ abstract.php? id=42016) Hinshelwood, R. (1995): The social relocation of personal identity. Philosophy, Psychiatry & Psychology, 2 (3), 185 - 204, http: / / doi: 10.1353/ ppp.0.0071 Jefferson, T., Hollway, W. (2000): Doing Qualitative Research Differently: Free Association, Narrative and the Interview Method. Sage, London Kiefer, M. (2014): Neosalafismus und Prävention. Jugendsozialarbeit aktuell, 129, 1 - 4 Mansour, A. (2015). Generation Allah. Warum wir im Kampf gegen religiösen Extremismus umdenken müssen. Fischer, Frankfurt Mücke, T., Nath, D. (2016): Zum Hass verführt. Wie der Salafismus unsere Kinder bedroht und was wir dagegen tun können. Eichborn, Frankfurt a. M. Rudolf, G., Grande, T., Henningsen, P. (2008): Die Struktur der Persönlichkeit. Vom theoretischen Verständnis zur psychotherapeutischen Anwendung des psychodynamischen Strukturkonzepts. Schattauer, Stuttgart Salge, H. (2013): Analytische Psychotherapie zwischen 18 und 25. Besonderheiten in der Behandlung von Spätadoleszenten. Springer, Berlin, http: / / dx.doi.org/ 10.1007/ 978-3-642-35357-4 Sischka, K. (2015): Auf dem Weg zu einem diagnostisch-therapeutischen Netzwerk Extremismus (DNE) - Grundlagen für und Einblicke in ein Modellprojekt des Zentrum Demokratische Kultur. Journal Exit- Deutschland. Zeitschrift für Deradikalisierung und demokratische Kultur, 1, 105 - 126 Streeck-Fischer, A. (2015): Trauma und Entwicklung. Folgen in der Adoleszenz. Schattauer, Stuttgart Wagner, B. (2013): Zur Zusammenarbeit privatrechtlicher Initiativen und staatlicher Organisationen in Ausstiegsprozessen aus politisch radikalen Bewegungen. Journal Exit-Deutschland. 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