eJournals unsere jugend 68/11+12

unsere jugend
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0342-5258
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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2016
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Die Beratungs- und Bildungsstelle „Annedore“ der Stiftung SPI für Demokratie, Recht und Freiheit

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2016
Juliette Brungs
Rüdiger José Hamm
Die Beratungs- und Bildungsstelle „Annedore“ (BBS „Annedore“) arbeitet nicht GEGEN bestimmte politische Phänomene, sondern FÜR demokratische Werte getreu dem Motto: eine Demokratie braucht überzeugte DemokratInnen. Im Mittelpunkt steht die Stärkung freiheitlich-demokratischer Grundwerte und Normen.
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505 unsere jugend, 68. Jg., S. 505 - 509 (2016) DOI 10.2378/ uj2016.art70d © Ernst Reinhardt Verlag München Basel von Dr. Juliette Brungs Literatur- und Theaterwissenschaften. Projektmitarbeiterin BBS „Annedore“ Die Beratungs- und Bildungsstelle „Annedore“ der Stiftung SPI für Demokratie, Recht und Freiheit Die Beratungs- und Bildungsstelle „Annedore“ (BBS „Annedore“) arbeitet nicht GEGEN bestimmte politische Phänomene, sondern FÜR demokratische Werte getreu dem Motto: eine Demokratie braucht überzeugte DemokratInnen. Im Mittelpunkt steht die Stärkung freiheitlich-demokratischer Grundwerte und Normen. Seit einiger Zeit ist in Deutschland eine politische Radikalisierung von Teilen der Bevölkerung zu beobachten, die sich laut der aktuellen „Leipziger Mitte - Studie 2016“ - einer Langzeitstudie zu autoritären und rechtsextremen Einstellungen in Deutschland - u. a. in dem Auftauchen neuer rechtspopulistischer, rechtsextremer und islamfeindlicher Bewegungen ausdrückt (Decker/ Kiess/ Brähler 2016). Die Studie stellt weiterhin fest, dass sich die Bevölkerung in Gruppen zu polarisieren scheint, die einerseits die Demokratie ablehnen, Gewalt als legitimes Mittel der politischen Auseinandersetzung befürworten und selbst ausüben oder die andererseits demokratischen Institutionen vertrauen und politische Gewalt ablehnen. Die Zahl der politisch motivierten Straftaten ist laut dem Bundeskriminalamt im Jahre 2015 um 19,2 % deutlich angestiegen und in den Bereichen Politisch motivierte Kriminalität (PMK) rechts und links auf dem höchsten Stand seit dem Jahr 2001 (BKA 2016). Islamistisch motivierte Gewalt und Terrorismus stellen eine ständige Bedrohung dar und die weltweiten Terrorakte, die mittlerweile in Europa und auch Deutschland zur traurigen Realität gehören, sind eine große Herausforderung. In dieser Gesamtsituation stellt sich die Frage, warum sich vor allem junge Menschen radikalisieren, zu Gewalt als einem Mittel der politischen Auseinandersetzung greifen und sich vom demokratischen System abwenden. Die BBS „Annedore“ setzt die Phänomene Rechtsextremismus, linke Militanz und Islamismus nicht gleich. Vielmehr stellt das Bundesmodellprojekt im Sinne der Radikalisierungsprävention die Stärkung freiheitlich-demokratischer Grundwerte und Normen in den Rüdiger José Hamm Diplom-Politologe. Stellvertretender Projektleiter BBS „Annedore“ 506 uj 11+12 | 2016 Beratungs- und Bildungsstelle „Annedore“ Mittelpunkt der Arbeit und fördert die Handlungskompetenz von SozialarbeiterInnen, LehrerInnen und SporttrainerInnen im Umgang mit Radikalisierungsprozessen bei Jugendlichen. Das Bundesmodellprojekt Die BBS „Annedore“ ist benannt nach der deutschen Widerstandskämpferin, Autorin und Politikerin Annedore Leber (1904 - 1968) und läuft seit dem Jahr 2015. Zielgruppe des Modellprojekts sind Multiplikator/ innen der Bildungs- und Jugendarbeit, vor allem SozialarbeiterInnen, LehrerInnen und TrainerInnen im Sportbereich, da der Stand der Forschung und Fachdebatte nahelegt, dass erwachsene Bezugspersonen außerhalb der Familie ein wichtiger, wenn nicht der wichtigste Faktor für die Resilienz junger Menschen gegenüber politischer Radikalisierung in Richtung extremistischer Militanz sein können. Nämlich dann, wenn sie die Jugendlichen als Personen ernst und annehmen, aber zugleich als „Reibungsfläche“ glaubwürdig demokratische Werte vertreten. Die BBS „Annedore“ bietet dieser Zielgruppe kostenlose Workshops, Seminare und Beratungen an, um sie in diesem Sinne in ihrer pädagogischen Handlungskompetenz zu stärken. Jugendliche brauchen Vorbilder, die ihnen standhalten und mit denen sie sich auseinandersetzen können, die sie ernst nehmen, die aber auch eigene Positionen vertreten und die Jugendlichen im demokratischen Sinne herausfordern, damit diese nicht auf einfache Antworten und falsche Heilsversprechen hereinfallen. Die Radikalisierung von Jugendlichen und jungen Erwachsenen ist ein Prozess, in dessen Verlauf sich die jungen Menschen von demokratischen Grundwerten und Normen sowie dem freiheitlich demokratischen politischen System schrittweise lossagen und schließlich eventuell in gewalttätige Opposition zu ihm gehen. Radikalisierungen scheinen stets sehr individuell zu verlaufen (Neumann 2013). Entgegen der öffentlichen Wahrnehmung kann bisher kein klares Profil besonders gefährdeter Jugendlicher - z. B. sozial schwach, bildungsfern, mit Migrationshintergrund oder ost-sozialisiert - ausgemacht werden. Vielmehr stellen sich alle Jugendlichen mit dem Einsetzen der Pubertät die Frage nach der eigenen Identität und Zugehörigkeit und empfinden oft einen Mangel an sozialer Gerechtigkeit, für die sie sich jedoch einsetzen möchten. Die gefühlte Zugehörigkeit zu einer politischen, sozialen oder religiösen Gruppe scheint sehr stark vom sozialen Umfeld abzuhängen, womit nicht nur z. B. der eigene Freundeskreis, sondern zum Beispiel auch rassistische Stigmatisierungen der Jugendlichen von außen gemeint sind. Es ist in diesem Prozess von zentraler Bedeutung, welche „radikalen Angebote“ in einer gesellschaftlichen Situation existieren (Walter 2014). Radikalisierungen können also nicht losgelöst von gesellschaftlichen Verhältnissen und Entwicklungen betrachtet werden. Politische Radikalisierungen sind insofern „normale“ Perioden im Entwicklungsprozess eines Menschen. Die Hinwendung zu Gewalt als Mittel der politischen Auseinandersetzung, die Ablehnung des Gewaltmonopols des Staates und die Bekämpfung freiheitlich-demokratischer Grundnormen, wie etwa Menschenrechte, Volkssouveränität, Gewaltenteilung oder Presse- und Meinungsfreiheit, gefährdet jedoch den friedlichen und demokratischen Grundkonsens einer Gesellschaft. Die BBS „Annedore“ setzt hier an und bietet MultiplikatorInnen der Bildungsarbeit mit verschiedenen Formaten die Möglichkeit, sich für die gemeinsame Diskussion mit den Jugendlichen zu stärken und zu schulen. Demokratie basiert auf Meinungsvielfalt und Kritik, die mit friedlichen Mitteln ausgetragen werden. In einer globalisierten Welt, in der es keine einfachen Antworten mehr auf die politischen, sozialen und ökonomischen Fragen gibt, müssen vor allem Demokratiekompetenz und Ambiguitätstoleranz als Handlungsoptionen gegen Radikalisierungen gestärkt werden. 507 uj 11+12 | 2016 Beratungs- und Bildungsstelle „Annedore“ Wie arbeitet die BBS „Annedore“? Die Workshops und Beratungen der BBS „Annedore“ zu den Themenbereichen politisch motivierte Militanz/ Extremismus, Radikalisierungsverläufe, Demokratiefeindlichkeit, Antisemitismus, Rassismus, Islamismus, Anti-US-Amerikanismus, Antipluralismus, Verschwörungstheorien, Europafeindschaft und Freund-Feind-Denken sind das Herzstück des Projekts. Sie sind nach einem Modulsystem aufgebaut, welches die Grundlage zur individuellen Erarbeitung von Themen bietet und nach Bedarf der BeratungsnehmerInnen angepasst, problemorientiert erweitert und zu speziellen Fragestellungen ergänzt werden kann. Vor den Workshops ist ein ausführliches Vorgespräch wünschenswert. Es gibt den BeratungsnehmerInnen Sicherheit und ermöglicht zudem eine dialogische Erarbeitung der für den Workshop oder den Beratungseinstieg zentralen Themen und Fragestellungen. Für einen Workshop reicht oft die ausführliche telefonische Besprechung aus. Sollte jedoch schon in diesem Stadium eine längere Beratungsform angestrebt werden, wird in der Regel ein persönliches Treffen vereinbart, bei welchem wichtige Probleme und zu klärende Fragen erarbeitet und sortiert werden können. Der Workshop Die BBS „Annedore“ bietet verschiedene Workshopformate an: von zweistündigen Einstiegs- und Überblicksworkshops zu spezifischen Schwerpunkten bis hin zu ein- oder mehrtägigen themenvertiefenden Workshops, bei denen dann mehr Möglichkeit für die aktive Beteiligung der TeilnehmerInnen und intensivere Problemdiskussionen besteht. Die Beratung Die (individuelle und Gruppen-) Beratung erforscht, thematisiert und bearbeitet die konkreten Problemlagen und Handlungsmöglichkeiten der BeratungsnehmerInnen. Mit verschiedenen Übungen und Methoden werden Situationen analysiert, diskutiert und gemeinsam mit den BeratungsnehmerInnen alternative Lösungsansätze entwickelt. Daran anschließend bietet die BBS „Annedore“ weitergehende Beratung und Unterstützung bei der praktischen Umsetzung der erarbeiteten Lösungsansätze an. Weitere Angebote Über diese Formate hinausgehend führt die BBS „Annedore“ auch Informationsveranstaltungen zum Schwerpunktthema der Radikalisierung von Jugendlichen durch. In Kooperation mit dem Programm„Sport mit Courage/ Demokratietraining für Konfliktmanagement im Sport“ werden zudem Informations- und Überblicksveranstaltungen speziell für den Sportbereich angeboten. Weiterhin nimmt die BBS „Annedore“ mit Info- Tischen an zahlreichen öffentlichen Veranstaltungen des Bereichs der politischen Bildung teil. Beispiele aus der Praxis: Workshop mit Berliner LehrerInnen auf der Demokratiekonferenz für Berliner SchülerInnen in Charlottenburg- Wilmersdorf (2015) Mit 18 teilnehmenden LehrerInnen war dieser Workshop zum Themenschwerpunkt Radikalisierung und Populismus im letzten Herbst gut besucht. Die zweistündige Veranstaltung sollte den ihre Schüler begleitenden PädagogInnen die Möglichkeit zur konkreten Arbeit an einem Thema und zum bezirksübergreifenden kollegialen Austausch geben. Nach einer Einführung in die Schwerpunkte Extremismus, Radikalisierung und Populismus entwickelte sich eine heftige und doch konstruktive Debatte, in deren Verlauf die PädagogInnen ihre Ratlosigkeit gegenüber dem Phänomen der Radi- 508 uj 11+12 | 2016 Beratungs- und Bildungsstelle „Annedore“ kalisierung verdeutlichten. Anhand einer praxisorientierten Übung wurden dabei gesellschaftliche Radikalisierungstendenzen von den MultiplikatorInnen ebenso thematisiert, wie Notwendigkeiten und Möglichkeiten pädagogischer Intervention in der Arbeit mit SchülerInnen diskutiert. Dieser Workshop unterstrich mit Heftigkeit den akuten Fortbildungs- und Diskussionsbedarf der MultiplikatorInnen in der Bildungsarbeit, den die BBS „Annedore“ zu beantworten sucht. Workshop für künftige ErzieherInnen (2016) In einem praxisorientierten Workshop zum Schwerpunktthema Entwicklungspsychologische Aspekte im Radikalisierungsprozess Jugendlicher und junger Erwachsener folgte einem theoretischen Einstieg eine etwa einstündige Übung: Die von der BBS „Annedore“ entwickelte Übung „Radikal oder was? “ konfrontiert die Teilnehmenden in Gruppenarbeit mit drei sehr unterschiedlichen jugendlichen Charakteren. Nach ausführlicher Diskussion der Ausgangssituation in ihren Gruppen werden die TeilnehmerInnen aufgefordert, die ihnen präsentierten vielfältigen und individuellen Aspekte der Lebenssituationen der Jugendlichen einzuschätzen und zu einem gemeinsamen Ergebnis hinsichtlich des jeweiligen Radikalisierungsstandes sowie bezüglich etwaiger Handlungsoptionen in der Arbeit mit diesen Jugendlichen zu kommen. Mittelbis langfristige Beratungsarbeit mit SozialarbeiterInnen eines Mädchenwohnprojekts (seit 2015) Dieser Beratungsprozess wird voraussichtlich bis Mitte/ Ende des Jahres 2017 durchgeführt. Es kann hier also aufgrund von Datenschutz und Persönlichkeitsrechten nur eine schematische Abbildung dessen stattfinden. Das Mädchen-Wohnprojekt besteht aus sechs Apartments, die von bis zu zehn 16 - 18Jährigen Mädchen bewohnt werden, die von BetreuerInnen zum selbstständigen Wohnen angeleitet werden. Für die BetreuerInnen ist mitunter schwierig, die Balance zwischen Vorgabe und Freiraum oder Anleitung und Eigeninitiative der Bewohnerinnen zu halten. Wie altersentsprechend zu erwarten, tauchen immer wieder Radikalisierungstendenzen, bewusst (und gern auch im öffentlichen Raum) inszenierte Provokationen oder strikte Ablehnung seitens der Bewohnerinnen auf. Diese Reaktionen der Jugendlichen haben über die Jahre ein hohes Frustrationspotenzial bei den BetreuerInnen erzeugt. Um für die Auseinandersetzung mit radikalisierten Mädchen besser gerüstet zu sein, wünschten sich die MitarbeiterInnen eine Begleitung und Schulung. In der gemeinsamen Beratungsarbeit wurde deutlich, dass der Weg zu einer besser gelingenden Arbeit mit den Mädchen nur durch die Verbesserung der Arbeitssituation der BetreuerInnen erreicht werden kann, da gemeinsam entwickelte Freiräume und Ideen direkt vom Motivationsgrad der BetreuerInnen abhängen. Die Arbeit der BBS „Annedore“ muss in diesem Fall weit in den Bereich der Teamberatung und Mediation hineinreichen, um sowohl BetreuerInnen als auch Bewohnerinnen bei ihrer positiven Weiterentwicklung unterstützen zu können. Zukunftsperspektiven Die BBS „Annedore“ entwickelt die eigenen Workshop- und Beratungsformate fortlaufend weiter, um der Komplexität der Thematik und den individuellen Bedarfen der BeratungsnehmerInnen entsprechen zu können. Zudem sucht das Projektteam den fachlichen Austausch mit relevanten wissenschaftlichen 509 uj 11+12 | 2016 Beratungs- und Bildungsstelle „Annedore“ Disziplinen sowie ForscherInnen. Die unterschiedlichen Projekte und Ansätze der Radikalisierungsprävention sollten in Zukunft näher zusammenarbeiten, da es im demokratischen Sinne sicherlich nicht den einen, richtigen Ansatz gibt, sondern vielfältige Umgangsweisen mit Radikalisierungen, die in der Vielfalt geeint für die Demokratie vorgehen sollten. Dr. Juliette Brungs Rüdiger José Hamm Stiftung SPI Beratungs- und Bildungsstelle „Annedore“ für Demokratie, Recht und Freiheit (BBS „Annedore“) Samariterstr. 19 - 20 10247 Berlin Tel. (0 30) 41 72 56 28 Literatur Mandel, D. R. (2009): Radicalization: What Does It Mean? In: Pick, T., Speckhard, A., Jacuch, B.: Homegrown Terrorism: Understanding the Root Causes of Radicalisation Among Groups with an Immigrant Heritage in Europe, Brüssel Neumann, P. (2013): Radikalisierung, Deradikalisierung und Extremismus. Aus Politik und Zeitgeschichte 63. Jahrgang 29 - 31, 15. Juli 2013, 3 - 10 Bundesministerium des Innern (2016): Pressemitteilung: Politisch Motivierte Kriminalität im Jahr 2015. Bundesweite Fallzahlen. Berlin. In: http: / / www.bmi. bund.de/ SharedDocs/ Downloads/ DE/ Nachrichten/ Pressemitteilungen/ 2016/ 05/ pmk-2015.pdf? __ blob=publicationFile, 1. 8. 2016 Bundeskriminalamt (2016): Kriminalität im Kontext von Zuwanderung. Kernaussagen. Betrachtungszeitraum: 1. QUARTAL 2016. Berlin. In: http: / / www.bmi. bund.de/ SharedDocs/ Downloads/ DE/ Kurzmeldun gen/ lage-kriminalit%C3%A4t-kontextzuwanderung- 1-2016.pdf? __blob=publicationFile, 1. 8. 2016 Walther, E. (2014): Wie gefährlich ist die Gruppe? Eine sozialpsychologische Perspektive kriminalitäts-bezogener Radikalisierung, Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik 9, 393 - 401 Falter, J. W. (1983): Arbeitslosigkeit und Nationalsozialismus. Eine empirische Analyse des Beitrags der Massenarbeitslosigkeit zu den Wahlerfolgen der NSDAP 1932 und 1933, Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 3, 525 - 554 Senatsverwaltung für Inneres und Sport, Abt. Verfassungsschutz (2016): Verfassungsschutzbericht 2015, Berlin