eJournals unsere jugend 68/1

unsere jugend
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0342-5258
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/uj2016.art02d
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2016
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Wegen „Unversorgtheit“ ins Heim

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2016
Jens Pothmann
Empirische Analysen dienen dem Erkenntnisgewinn und sind Ausgangspunkt für Praxisentwicklung und Politikgestaltung. Hierbei hat der Indikator „Migrationshintergrund“ an Bedeutung gewonnen. Die Daten sind hilfreich, um die Herausforderungen bei der Begleitung von Menschen mit Migrationshintergrund in der Heimerziehung herauszuarbeiten.
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2 unsere jugend, 68. Jg., S. 2 - 10 (2016) DOI 10.2378/ uj2016.art02d © Ernst Reinhardt Verlag München Basel Wegen „Unversorgtheit“ ins Heim Fragen und Antworten der Statistik zur Situation von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund Empirische Analysen dienen dem Erkenntnisgewinn und sind Ausgangspunkt für Praxisentwicklung und Politikgestaltung. Hierbei hat der Indikator „Migrationshintergrund“ an Bedeutung gewonnen. Die Daten sind hilfreich, um die Herausforderungen bei der Begleitung von Menschen mit Migrationshintergrund in der Heimerziehung herauszuarbeiten. von Dr. phil. Jens Pothmann Jg. 1971; Diplompädagoge; wissenschaftlicher Mitarbeiter der Arbeitsstelle Kinder- und Jugendhilfestatistik im Forschungsverbund Deutsches Jugendinstitut e.V. / Universität Dortmund Mit der amtlichen Kinder- und Jugendhilfestatistik steht ein Instrument der empirischen Dauerbeobachtung zur Verfügung, das seit 2007 im Rahmen der Teilerhebung „Erzieherische Hilfe, Eingliederungshilfe für seelisch behinderte junge Menschen, Hilfe für junge Volljährige“ den Migrationshintergrund von jungen Menschen und deren Familien erfasst. Pro Fall werden für die Heimerziehung und die anderen Hilfen zur Erziehung mit Blick auf die Erfassung eines sogenannten „Migrationshintergrundes“ jährlich Angaben über die Herkunft der Eltern sowie die in der Familie gesprochene Sprache erhoben. Hiermit lassen sich einige grundlegende Fragestellungen zu jungen Menschen mit einem solchen „Migrationshintergrund“ in der Heimerziehung beantworten. Wie haben sich die Fallzahlen entwickelt? Zuletzt hat die amtliche Kinder- und Jugendhilfestatistik für das Jahr 2013 103.742 Maßnahmen der Heimerziehung gem. § 34 SGBVIII - hier und im Folgenden werden darunter auch jeweils die Hilfen für junge Volljährige in Heimeinrichtungen verstanden - ausgewiesen. In rund 29 % der Fälle handelt es sich dabei um junge Menschen, bei denen mindestens ein Elternteil ausländischer Herkunft ist. Die Statistik spricht hier von einem Migrationshintergrund. Bei 15 % der jungen Menschen wird in der Herkunftsfamilie nicht Deutsch gesprochen - auch dieses Merkmal wird als Indikator für einen Migrationshintergrund herangezogen. Die folgenden statistischen Analysen werden auf die hier eingeführten Indikatoren - „in der Familie gesprochene Sprache“ sowie „ausländische Herkunft mindestens eines Elternteils“ - Bezug nehmen. Zwischen 2008 und 2013 ist die Zahl der Heimunterbringungen insgesamt um 20 % gestiegen. Die Zahl der jungen Menschen in den Heimen mit einem Elternteil ausländischer Herkunft hat dabei um 56 % zugenommen, die mit der nichtdeutschen Familiensprache sogar um 64 % (vgl. Tab. 1, Indexentwicklung). Folgerichtig hat sich 3 uj 1 | 2016 Situation von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund auch der Anteil junger Menschen mit einem Migrationshintergrund im benannten Zeitraum erhöht, wie die Darstellung in Tabelle 1 zeigt. Wie verteilen sich die jungen Menschen nach Geschlecht und Alter? Etwas mehr als die Hälfte aller im Jahr 2013 neu begonnenen Heimerziehungen entfallen auf Jungen und junge Männer (54 %). Diese Quote fällt für die Gruppe von jungen Menschen mit mindestens einem Elternteil ausländischer Herkunft etwas höher aus (57 %) und erreicht bei denjenigen, in deren Familie nicht Deutsch gesprochen wird, sogar einen Wert von fast zwei Dritteln. Bei einer Betrachtung der Altersverteilung der Klientel im Rahmen der aktuellen Gewährungspraxis der Fremdunterbringung zeigt sich in der Heimerziehung mit zunehmendem Alter bis zum Erreichen der Volljährigkeit eine steigende Anzahl von neu begonnenen Hilfen. Die zahlenmäßig stärkste Gruppe stellen die 15bis unter 18-Jährigen dar, wohingegen Unterbringungen von jungen Volljährigen in stationären Einrichtungen weitaus seltener gezählt werden. Die wenigsten Heimunterbringungen entfallen auf die unter 3-Jährigen (vgl. Abb. 1). 2008 2009 2010 2011 2012 2013 Fallzahlen absolut Junge Menschen „im Heim“ insgesamt 86.163 91.395 95.205 97.895 100.359 103.742 darunter mit ausländischer Herkunft eines Elternteils 19.466 22.025 24.218 26.667 28.556 30.379 darunter aus Familien, in denen nicht Deutsch gesprochen wird 9.760 10.545 11.733 13.153 14.205 15.977 Indexentwicklung (2008 = 100) Junge Menschen „im Heim“ insgesamt 100,0 106,1 110,5 113,6 116,5 120,4 darunter mit ausländischer Herkunft eines Elternteils 100,0 113,1 124,4 137,0 146,7 156,1 darunter aus Familien, in denen nicht Deutsch gesprochen wird 100,0 108,0 120,2 134,8 145,5 163,7 Anteile in % von Insgesamt Junge Menschen „im Heim“ insgesamt 100,0 100,0 100,0 100,0 100,0 100,0 darunter mit ausländischer Herkunft eines Elternteils 22,6 24,1 25,4 27,2 28,5 29,3 darunter aus Familien, in denen nicht Deutsch gesprochen wird 11,3 11,5 12,3 13,4 14,2 15,4 Begonnene Hilfen Insgesamt 32.198 34.125 34.722 35.495 36.048 36.678 Tab. 1: Junge Menschen in der Heimerziehung (einschließlich der Hilfen für junge Volljährige) nach Migrationshintergrund (Deutschland; 2008 bis 2013; Aufsummierung der zum 31. 12. eines Jahres andauernden und der innerhalb eines Jahres beendeten Leistungen) Quelle: Statistisches Bundesamt: Statistiken der Kinder- und Jugendhilfe - Erzieherische Hilfen, Eingliederungshilfe, Hilfe für junge Volljährige; versch. Jahrgänge; Zusammenstellung und Berechnung Arbeitsstelle Kinder- und Jugendhilfestatistik 4 uj 1 | 2016 Situation von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund Diese Verteilung bestätigt sich bei den Neufällen 2013 auch für die jungen Menschen mit einem Migrationshintergrund. Sowohl bezogen auf das Merkmal der ausländischen Herkunft eines Elternteils als auch hinsichtlich der in der Familie gesprochenen Sprache stellen die 15bis unter 18-jährigen Heimbewohner/ -innen die größte Gruppe dar. Immerhin mehr als die Hälfte derjenigen, für die 2013 eine Heimerziehung begonnen hat und bei denen in der Familie zumindest nicht in erster Linie Deutsch gesprochen wird, ist 15 Jahre oder älter, aber noch nicht volljährig (vgl. Abb. 1). In welchen Lebenslagen sind die Kinder und Jugendlichen aufgewachsen? Der 14. Kinder- und Jugendbericht hat einmal mehr darauf hingewiesen, dass Armut und die damit verbundenen prekären Lebenslagen Risiken für die Erziehung beinhalten (vgl. Deutscher Bundestag 2013, 107ff ). In der amtlichen Kinder- und Jugendhilfestatistik kann als Indikator für prekäre Lebenslagen der Bezug von Transferleistungen abgebildet werden. Berücksichtigt werden hierbei das Arbeitslosengeld II auch in Verbindung mit dem Sozialgeld (für Kinder), die bedarfsorientierte Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung im Rahmen der Sozialhilfe oder auch der Kinderzuschlag. Diese Angaben liefern Hinweise zur Inanspruchnahme von erzieherischen Hilfen durch Familien, die von Armut bedroht sind. Und in der Tat bestätigen die Ergebnisse der amtlichen Kinder- und Jugendhilfestatistik die Hypothese, dass es einen Zusammenhang von Armutslagen einerseits und einem erhöhten Bedarf an Leistungen der Hilfen zur Erziehung auf der anderen Seite gibt. Anders formuliert: „Adressat(inn)en von Hilfen zur Erziehung sind besonders von sozioökonomisch prekären Lebenslagen betroffen“ (Fendrich/ Pothmann/ Tabel 2014, 22). 60,0 50,0 40,0 30,0 20,0 10,0 0,0 4,2 3,5 2,8 4,7 3,6 2,8 7,7 6,1 5,0 10,9 9,3 7,2 22,920,5 15,8 39,5 45,9 53,3 10,111,113,1 Unter 3 J. 3 bis unter 6 J. 6 bis unter 9 J. 9 bis unter 12 J. 12 bis unter 15 J. 15 bis unter 18 J. 18 J. und älter Insgesamt Ausländische Herkunft mindestens eines Elternteils Es wird in der Familie vorrangig kein Deutsch gesprochen Abb. 1: Junge Menschen in der Heimerziehung (einschl. der Hilfen für junge Volljährige) nach Migrationshintergrund und Altersgruppen (Deutschland; 2013; begonnene Hilfen, Anteile in %) Die Anzahl der jungen Menschen in den hier dargestellten Kategorien - das sogenannte „N“ - stimmt mit den entsprechenden Angaben aus Tab. 2 überein. Quelle: Statistisches Bundesamt: Statistiken der Kinder- und Jugendhilfe - Erzieherische Hilfen, Eingliederungshilfe, Hilfe für junge Volljährige; 2013; Zusammenstellung und Berechnung Arbeitsstelle Kinder- und Jugendhilfestatistik 5 uj 1 | 2016 Situation von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund Insgesamt zeigen die Ergebnisse für 2013, dass bei den jungen Menschen, für die 2013 eine Heimunterbringung begonnen hat, in 58 % aller Fälle die Herkunftsfamilien auf einen Transfergeldbezug angewiesen sind. Zum Vergleich: Die sogenannte „Mindestsicherungsquote“ - das ist der Anteil von Empfänger/ -innen von Leistungen vor allem nach dem SGB II, SGB XII oder auch dem Asylbewerberleistungsgesetz - an der Gesamtbevölkerung liegt Ende 2013 bei 9 % (www.amtliche-sozialberichterstattung.de; Zugriff: 15. 9. 2015). Für eine Ausdifferenzierung dieses Ergebnisses nach dem Migrationshintergrund der Kinder und Jugendlichen ist es erforderlich, auf die Mikrodaten des sogenannten „Forschungsdatenzentrums der Statistischen Ämter des Bundes und der Länder“ zurückzugreifen. Hierzu wird im Folgenden Bezug auf die Ergebnisse des Jahres 2011 im Vergleich zu den in diesem Jahr begonnenen Hilfen genommen. Demnach sind in der Heimerziehung 62 % der Familien ohne Migrationshintergrund auf Transferleistungen angewiesen. Bei Familien, in denen 100 75 50 25 0 Keine ausländische Herkunft / deutsche Sprache (Gruppe a) Ausländische Herkunft / deutsche Sprache (Gruppe b) Ausländische Herkunft / nicht deutsche Sprache (Gruppe c) 62,4 61,8 48,8 Abb. 2: Junge Menschen in der Heimerziehung (einschl. der Hilfen für junge Volljährige) nach Migrationshintergrund (Herkunft und Sprache) und Transferleistungsbezug (Deutschland 2011; begonnene Hilfen; Anteile in %) Lesehilfe: 62,4 % der jungen Menschen, für die 2011 eine Heimunterbringung begonnen hat, kommen aus Familien mit einem Transfergeldbezug. Bei jungen Volljährigen bezieht sich der Bezug von Transferleistungen auf den jungen Menschen selbst. Dies wird hier und im Folgenden aufgrund der geringen Fallzahlen allerdings sprachlich vernachlässigt. Methodischer Hinweis: Für die Auswertungen sind auf der Basis der Mikrodaten - mit den hier sonst im Beitrag verwendeten Standardtabellen 2013 ist dies nicht möglich - drei Gruppen von jungen Menschen gebildet worden: Gruppe a fasst junge Menschen zusammen, bei denen zu Hause Deutsch gesprochen wird und bei denen kein Elternteil ausländischer Herkunft ist. Gruppe b umfasst die jungen Menschen, bei denen mindestens ein Elternteil ausländischer Herkunft ist, die aber zu Hause ebenfalls in der Regel Deutsch sprechen. Gruppe c bezeichnet die jungen Menschen, bei denen in der Herkunftsfamilie eine andere Sprache als Deutsch gesprochen wird und bei denen mindestens ein Elternteil ausländischer Herkunft ist. Quelle: Forschungsdatenzentrum der Statistischen Ämter: Statistiken der Kinder- und Jugendhilfe - Erzieherische Hilfen, Eingliederungshilfe, Hilfe für junge Volljährige, 2011; Zusammenstellung und Berechnung Arbeitsstelle Kinder- und Jugendhilfestatistik 6 uj 1 | 2016 Situation von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund mindestens ein Elternteil ausländischer Herkunft ist und in denen hauptsächlich die deutsche Sprache gesprochen wird, liegt der Anteil derjenigen, die zusätzlich Transferleistungen beziehen, ebenfalls bei 62 %. Bei den Familien mit Migrationshintergrund, die zu Hause hauptsächlich nicht Deutsch sprechen, liegt dieser Anteil bei 49 % (vgl. Abb. 2). Diese Unterschiede für die Heimerziehung korrespondieren nicht mit den Ergebnissen für andere Leistungen der Hilfen zur Erziehung, insbesondere den ambulanten Formen. Hier sind Familien mit einem Migrationshintergrund, die eine Hilfe zur Erziehung in Anspruch nehmen, in einem deutlicheren Maße eher auf staatlich finanzielle Unterstützung angewiesen als Familien ohne Migrationshintergrund. Dabei sind eher Familien mit einem Migrationshintergrund betroffen, die zu Hause vorrangig nicht Deutsch sprechen (vgl. Fendrich/ Pothmann/ Wilk 2012). Auch wenn diese Unterschiede zwischen den verschiedenen Leistungssegmenten der Hilfen zur Erziehung hier nicht aufgeklärt werden können, so können die Ergebnisse dennoch dahingehend verallgemeinert werden, dass Hilfen zur Erziehung in Anspruch nehmende junge Menschen und ihre Familien häufig unter sozioökonomisch prekären Bedingungen ihren Alltag gestalten müssen. Hieraus resultieren - im Übrigen auch unabhängig vom Migrationshintergrund - Ausgrenzungen und psychosoziale Risiken (vgl. Bundesjugendkuratorium 2013). So fassen Rauschenbach und Züchner (2011) den Forschungsstand dahingehend zusammen, dass sich sozioökonomisch belastete Lebenslagen und damit ökonomische Ungleichheiten mit der Folge von sozialen Ausgrenzungen auf die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen sowie das Erziehungsverhalten von Eltern auswirken. Immerhin sind die Folgen von prekären Lebenslagen und sozialen Ungleichheiten auf Bildungserfolg, Arbeitslosigkeit, Gesundheit, Freizeitgestaltung, delinquentes Verhalten, Sozialkontakte oder auch familiäres Zusammenleben bis hin zu Erziehungsstilen und Kindesvernachlässigungen erkennbar. Das aber wiederum sind unabhängig vom Migrationshintergrund Erfahrungen, die die Biografien der jungen Menschen prägen und die sie auch nicht beim Ankommen in einer Heimeinrichtung an der Tür abgeben. Weitere Belastungen können eben über den Migrationshintergrund, aber auch über konkrete Migrationserfahrungen mit hinzukommen. Dies wird bei der zahlenmäßig stark angestiegenen Gruppe der Flüchtlinge mit einem hohen Anteil von Kindern und Jugendlichen deutlich, führt man sich die Erfahrungen von Flucht und Vertreibung, aber auch die belastenden Lebenssituationen bei ihrer Ankunft in Deutschland vor Augen (vgl. Peucker/ Seckinger 2015, 127ff ). Welche Gründe führen zur Heimunterbringung? Gründe für eine Heimerziehung sind - über alle begonnenen Unterbringungen des Jahres 2013 betrachtet - eingeschränkte Erziehungskompetenzen der Eltern bzw. Personensorgeberechtigten. Es folgen Gründe im Kontext einer „Unversorgtheit des jungen Menschen“ sowie „Auffälligkeiten im sozialen Verhalten“ (vgl. Tab. 2). Vergleicht man die Gründe für Heimunterbringungen bei jungen Menschen in der Heimerziehung mit und ohne Migrationshintergrund, so zeigen sich auch bei diesem Auswertungsmerkmal migrationsspezifische Differenzen. So gilt für junge Menschen mit einem Migrationshintergrund, die 2013 in Einrichtungen der Heimerziehung untergebracht worden sind, dass die Gründe für diese Maßnahme am häufigsten bei der Unversorgtheit des jungen Menschen selbst gelegen haben. Dies gilt vor allem für die Gruppe von Kindern und Jugendlichen, bei denen mit hoher Wahrscheinlichkeit mit weitaus höheren sprachlichen Barrieren (nichtdeutsche Familiensprache) zu rechnen ist (vgl. Tab. 2). 7 uj 1 | 2016 Situation von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund Bei diesen Auswertungen ist vor allem das Ergebnis zur Kategorie „Unversorgtheit des jungen Menschen“ auffällig. Dies gilt umso mehr, als dass dieser Grund zuletzt eine zusätzliche Relevanz erhalten hat, wie auch Analysen für die Hilfen zur Erziehung insgesamt zeigen: Noch für das Jahr 2009 weist die KJH-Statistik diesbezüglich eine Quote von 17 % auf (vgl. Fendrich/ Pothmann/ Wilk 2012), während der Anteil 2013 bei der männlichen Klientel mit Migrationshintergrund bei 31 % mit Abstand am häufigsten als Hauptgrund für die Gewährung einer Hilfe angegeben wird. Diese Verteilungen und Entwicklungen können in einen Zusammenhang mit den erheblichen Zunahmen und den hohen Fallzahlen bei den unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen gebracht werden. Bereits frühere Analysen der Daten zu den Gründen für die Hilfegewährung haben Hinweise darauf gegeben, dass die Bedeutung der unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge in den Hilfen zur Erziehung im Allgemeinen und in der Heimerziehung im Besonderen in den letzten Jahren gewachsen ist (vgl. ausführlich Fendrich/ Pothmann/ Tabel 2014). Auf die mittlerweile zumindest in einigen Bundesländern auch quantitativ beachtliche Relevanz von unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen verweisen auch Ergebnisse einer Umfrage für Baden-Württemberg des hiesigen Kommunalverbands Jugend und Soziales (KVJS). Dabei wurden zum Stichtag 31. 12. 2014 bei den Jugendämtern im Südwesten 765 unbegleitete eingereiste junge Menschen in Einrichtungen der Heimerziehung mit einer Leistung der Hilfe zur Erziehung erfasst. Zum 31. 12. 2013 Insgesamt (N = 36.678) Es wird in der Familie vorrangig kein Deutsch gesprochen (N = 6.648) Ausländische Herkunft mindestens eines Elternteils (N = 11.618) Unversorgtheit des jungen Menschen 14,7 41,8 25,9 Unzureichende Förderung, Betreuung, Versorgung des jungen Menschen 10,3 7,5 8,4 Gefährdung des Kindeswohls 14,5 13,9 14,9 Eingeschränkte Erziehungskompetenz der Eltern / der PSB 17,2 8,4 13,1 Belastungen des jungen Menschen durch Problemlagen der Eltern 6,9 4,0 5,9 Belastungen des jungen Menschen durch familiäre Konflikte 8,3 5,7 8,1 Auffälligkeiten im sozialen Verhalten 12,6 6,2 9,5 Entwicklungsauffälligkeiten / seelische Probleme des jungen Menschen 6,9 4,2 5,7 Schulische / berufliche Probleme des jungen Menschen 3,0 1,5 2,4 Zuständigkeitswechsel 5,5 6,9 6,1 Tab. 2: Junge Menschen in der Heimerziehung (einschl. der Hilfen für junge Volljährige) nach Migrationshintergrund (Herkunft und Sprache) sowie Hauptgründen für die Hilfegewährung (Deutschland 2013; begonnene Hilfen; Angaben in %) Quelle: Statistisches Bundesamt: Statistiken der Kinder- und Jugendhilfe - Erzieherische Hilfen, Eingliederungshilfe, Hilfe für junge Volljährige; 2013; Zusammenstellung und Berechnung Arbeitsstelle Kinder- und Jugendhilfestatistik 8 uj 1 | 2016 Situation von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund wurden für Baden-Württemberg über die amtliche Kinder- und Jugendhilfestatistik rund 5.400 junge Menschen im Alter von 15 Jahren und älter erfasst, die eine Heimerziehung in Anspruch nehmen. Die nunmehr zum Ende 2014 in der besagten Jugendamtsbefragung erhobenen 765 unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge (umF) entsprechen rechnerisch einem Anteil von 14 %. Diese Quote ist sicherlich nicht auf das Bundesgebiet eins zu eins übertragbar, aber es stellt zumindest einen empirischen Anhaltspunkt über Größenverhältnisse dar, über die ansonsten im Rahmen der amtlichen Statistik keine Daten vorliegen (vgl. Pothmann 2015). Wie werden die Heimunterbringungen beendet? Über die KJH-Statistik werden pro Fall die Gründe für die Beendigung einer Maßnahme erfragt. Bis auf die Erziehungsberatungen werden für die anderen Hilfearten diese Angaben von den Jugendämtern gemacht. Dabei kann zwischen planmäßigen Beendigungen (einschließlich einer Überleitung in eine Adoptionspflege) sowie nicht planmäßigen Beendigungen unterschieden werden. Unter die letztgenannte Kategorie fallen Abweichungen von den im Rahmen der Hilfeplanung vereinbarten Zielsetzungen oder auch die sogenannten „sonstigen Beendigungsgründe“, die nur dahingehend weiter differenziert werden können, als dass damit beispielsweise auch das Ausreißen eines jungen Menschen aus der Einrichtung verbunden sein kann. Bei aller Vorsicht können diese Auswertungen auch in den Bereich der Wirkungsforschung für die Heimerziehung einsortiert werden, denn: Legt man einen vergleichsweise simplen, aber auch dafür naheliegenden Wirkungsbegriff zugrunde, dass eine Situationsveränderung von einem Zustand A zu einem Zustand B auf die Formel „Wirkung = Erreichung der Hilfeplanziele“ (Albus u. a. 2010, 15) zu bringen ist, so lassen sich anhand der KJH-Statistik immerhin empirisch belastbare Aussagen zu den Voraussetzungen und Rahmenbedingungen für das Erreichen von Hilfeplanzielen machen (vgl. ausführlicher Pothmann/ Rauschenbach 2011). Planmäßige Beendigung insgesamt** Nicht planmäßige Beendigung Insgesamt davon abweichend vom Hilfeplan davon wg. sonstiger Gründe Heimerziehung insgesamt (N = 32.131) 45,2 54,8 39,0 15,8 darunter junge Menschen mit ausländischer Herkunft eines Elternteils (N = 9.748) 44,5 55,5 38,3 17,2 darunter junge Menschen aus Familien, in denen nicht Deutsch gesprochen wird (N = 5.215) 45,7 54,3 33,5 20,9 Tab. 3: Gründe für die Beendigung von Maßnahmen der Heimerziehung (einschl. der Hilfen für junge Volljährige) nach Migrationshintergrund (Herkunft und Sprache) (Deutschland; 2013; beendete Hilfen; Angaben in %)* * Sämtliche Angaben in der Spalte beziehen sich auf die Fallzahlen insgesamt. Bei den Fallzahlen insgesamt sind die Zuständigkeitswechsel herausgerechnet worden. ** Einschließlich Adoption und Adoptionspflege. Quelle: Statistisches Bundesamt: Statistiken der Kinder- und Jugendhilfe - Erzieherische Hilfen, Eingliederungshilfe, Hilfe für junge Volljährige; 2013; Zusammenstellung und Berechnung Arbeitsstelle Kinder- und Jugendhilfestatistik 9 uj 1 | 2016 Situation von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund Laut den amtlichen Daten für das Erhebungsjahr 2013 wird nicht mal jede zweite Heimunterbringung gemäß dem Hilfeplan beendet (vgl. Tab. 3). Im Umkehrschluss bedeutet das: Der Großteil der Hilfen gem. § 34 SGB VIII wird nicht in der Form zum Abschluss gebracht, wie es im Rahmen des Hilfeplanverfahrens vereinbart worden ist. Ein kleinerer Anteil entfällt dabei auf die sogenannten „sonstigen Gründe“ (vgl. Tab. 3). Diese Verteilung stellt sich für die jungen Menschen mit einem Migrationshintergrund ähnlich dar. Dabei liegt der Anteil der planmäßig beendeten Hilfen bei etwa 45 % (vgl. Tab. 3). Bei den jungen Menschen aus Familien, in denen kein Deutsch gesprochen wird, ist der Anteil der „sonstigen Gründe“ etwas höher. Es lässt sich darüber spekulieren, inwiefern bei diesen Fällen der Anteil der Ausreißer etwas höher sein könnte. Bilanz und Ausblick Statistische Analysen nach dem Migrationshintergrund werden falsch verstanden und fehlinterpretiert, wenn Migration per se als Ausprägung von sozialer Benachteiligung, Verhaltensauffälligkeiten oder gar einer Gefährdung für die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen aufgefasst wird. Vielmehr schließen solche datengestützten Betrachtungen an Beobachtungen an, dass die Begleitung und Unterstützung von Menschen mit Migrationshintergrund als Herausforderung für die Einrichtungen der sozialen Arbeit diskutiert werden müssen. Fragen des sozialpädagogischen Handelns, der interkulturellen Kompetenzen oder auch der Öffnung von Einrichtungen sind dabei von zentraler Bedeutung (vgl. Gadow u. a. 2013, 225ff ). Entsprechende Aufgabenstellungen gelten auch für die Institutionen der Kinder- und Jugendhilfe sowie der Hilfen zur Erziehung und hier insbesondere der Heimerziehung. Folglich stehen Soziale Dienste in diesem Kontext besonders vor einer Herausforderung, wenn junge Menschen in den Hilfen zur Erziehung nicht nur von kulturellen und sprachlichen Barrieren betroffen sind, sondern sich zusätzlich noch in sozioökonomisch prekären Lebensverhältnissen befinden. Auch geben die Befunde - insbesondere zu den Gründen für eine erzieherische Hilfe - Anlass für Spekulationen hinsichtlich der Gewährungspraxis in den Jugendämtern selber, denen man auf der Spur bleiben sollte. Hier fällt insbesondere der hohe Anteil von unversorgten jungen Menschen aus Familien auf, in denen zumindest vorwiegend kein Deutsch gesprochen wird und die eine Heimunterbringung in Anspruch nehmen. Dies könnte darauf hindeuten, dass aufgrund sprachlicher Verständigungsprobleme weitere Klärungen auch im Rahmen der ersten Beratungsgespräche bzw. der Hilfeplanung gar nicht weiter möglich sind und man sich bei den Gründen für die Heimerziehung allein auf den äußeren Anschein verlassen muss. Das aber wäre eine konkrete Anforderung an eine bessere Ausstattung und zusätzliche Ressourcen für die Sozialen Dienste bezogen auf Sprach- und Kulturmittler. Dies gilt umso mehr vor dem Hintergrund, dass der Bedarf an Fremdunterbringungsmöglichkeiten von jungen Menschen mit einem Migrationshintergrund in den nächsten Jahren aller Voraussicht nach weiter steigen wird. Einerseits lässt sich dies über die Fortschreibung der aktuellen Fallzahlenentwicklungen für die Heimerziehung plausibilisieren (vgl. Tab. 1). Andererseits resultiert diese Annahme aus den in den letzten Jahren steigenden Fallzahlen bei den zumeist 16- oder 17-jährigen männlichen unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen im Rahmen der Inobhutnahme, zumal bekannt ist, dass ein großer Anteil der jugendlichen Flüchtlinge im Anschluss an die Inobhutnahme durch eine vor allem auch stationäre Hilfe 10 uj 1 | 2016 Situation von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund zur Erziehung unterstützt und versorgt werden muss (vgl. Pothmann 2014). Nach den jüngsten Veröffentlichungen des Statistischen Bundesamtes haben sich die Fallzahlen allein zwischen 2013 und 2014 um 77 % von knapp 6.600 auf etwas mehr als 11.600 erhöht (vgl. Destatis 2015). Dr. phil. Jens Pothmann Technische Universität Dortmund CDI-Gebäude / Forschungsverbund Vogelpothsweg 78 44227 Dortmund Tel. (02 31) 7 55 54 20 jpothmann@fk12.tu-dortmund.de Literatur Albus, S., Greschke, H., Klingler, B., Messmer, H., Micheel, H.-G., Otto, H.-U., Polutta, A. (2010): Wirkungsorientierte Jugendhilfe. Abschlussbericht der Evaluation des Bundesmodellprojekts. Münster Bundesjugendkuratorium (BJK) (2013): Migration unter der Lupe. Der ambivalente Umgang mit einem gesellschaftlichen Thema der Kinder- und Jugendhilfe. München [Destatis] Statistisches Bundesamt (2015): Unbegleitete Einreisen Minderjähriger aus dem Ausland lassen Inobhutnahmen 2014 stark ansteigen. Pressemitteilung vom 16. 9. 2015 Deutscher Bundestag (2013): Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe in Deutschland - 14. Kinder- und Jugendbericht. Unterrichtung durch die Bundesregierung. Bundestagsdrucksache 17/ 12200. Berlin Fendrich, S., Pothmann, J., Tabel, A. (2014): Monitor Hilfen zur Erziehung 2014. Dortmund, www.hzemoni tor.akjstat.tu-dortmund.de Fendrich, S., Pothmann, J., Wilk, A. (2012): Hilfen zur Erziehung für Einwandererfamilien. In: Matzner, M. (Hrsg.): Handbuch Migration und Bildung. Weinheim, Beltz, 332 - 352 Gadow, T., Peucker, C., Pluto, L., van Santen, E., Seckinger, M. (2013): Wie geht’s der Kinder- und Jugendhilfe? - Empirische Befunde und Analysen. Weinheim, Beltz Juventa Peucker, C., Seckinger, M. (2015): Flüchtlingskinder in Deutschland - Herausforderungen für die Kinder- und Jugendhilfe. Das Jugendamt, Heft 3, 127 - 130 Pothmann, J. (2014): Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge (umF) in Obhut der Kinder- und Jugendhilfe - Antworten der Jugendhilfestatistik. Forum Jugendhilfe, Heft 4, 35 - 38 Pothmann, J. (2015): Flüchtlinge in Obhut der Jugendhilfe. Hinweise zur Belastbarkeit der Datenlage bei unbegleiteten Minderjährigen. KomDat Jugendhilfe, Heft 1, 10 - 12 Pothmann, J., Rauschenbach, T. (2011): Kann die amtliche Statistik Wirkungen beobachten? In: Macsenaere, M., Hiller, S., Fischer, K. (Hrsg.): Outcome in der Jugendhilfe gemessen. Freiburg, 199 - 205 Rauschenbach, T., Züchner, I. (2011): Lebenslagen von Kindern und Jugendlichen in Deutschland, In: Münder, J., Wieser, R., Meysen, T. (Hrsg.): Kinder- und Jugendhilferecht, Baden-Baden, Nomos, 13 - 39