eJournals unsere jugend 68/2

unsere jugend
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0342-5258
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/uj2016.art13d
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2016
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Heim-Mobbing

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2016
Markus Dietl
Ängste, Depressionen, Selbstmordgedanken sind Folgen, die mobbingbetroffene Jugendliche immer wieder erleiden. Würdeverletzungen lösen Ärger aus, und Betroffene geraten in Isolation. Es sinkt das Selbstwertgefühl und die Leistungsfähigkeit. Die Probleme übertragen sich in den privaten Bereich, und die Ausgrenzungen führen so zu Erkrankungen (Teuschel 2010).
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83 unsere jugend, 68. Jg., S. 83 - 93 (2016) DOI 10.2378/ uj2016.art13d © Ernst Reinhardt Verlag München Basel Heim-Mobbing Formen, Reaktionen und Umgang Ängste, Depressionen, Selbstmordgedanken sind Folgen, die mobbingbetroffene Jugendliche immer wieder erleiden. Würdeverletzungen lösen Ärger aus, und Betroffene geraten in Isolation. Es sinkt das Selbstwertgefühl und die Leistungsfähigkeit. Die Probleme übertragen sich in den privaten Bereich, und die Ausgrenzungen führen so zu Erkrankungen (Teuschel 2010). von Dr. Markus Dietl Jg. 1973; Gesundheitswissenschaftler, Kommunikationstrainer Nirgends wird so viel gemobbt wie im sozialen Bereich (Meschkutat/ Stackelbeck/ Langenhoff 2002). Studien der Europäischen Union (2010) zeigen, dass Mobbing oft zu Gegengewalt führt. Trotzdem wird es meistens erst bemerkt, wenn es zu spät ist. Die drei wesentlichen Fragen, die sich dabei stellen, sind: Welche Formen nimmt Mobbing an? Wie können Jugendliche und Erziehende gewaltfrei reagieren? Wie können Betroffene mit Mobbing umgehen? Welche Formen nimmt Mobbing an? Schläge, Freiheitsentzug oder andere Bestrafungen sind für viele Jugendliche im Heim und auch für Erziehende Alltag. Sie leiden seelisch und körperlich unter diesem Mobbing. Fallbeispiel: Frank (14, Name geändert) leidet. Denn seine angriffslustige Umwelt triezt, kränkt und verspottet ihn. Seine Mobber lachen über ihn. Sie ignorieren den Jugendlichen und grenzen ihn damit aus. Der Betroffene lebt in Angst. Sobald er sich in die Gruppe begibt, beginnt für ihn ein Alptraum. Daran beteiligen sich MitbewohnerInnen und Angestellte. Nach drei Tagen verliert er seine Heiterkeit, nach drei Monaten seine Freunde, nach drei Jahren seinen Lebensmut. Bei Mobbing schränken Gleichaltrige, Vorgesetzte, Erziehende und andere die Möglichkeiten ein, zu Wort zu kommen. Sie üben Kritik, drohen oder verweigern den Kontakt. Die Attacken richten sich auf die sozialen Beziehungen, wenn z. B. jemand ignoriert wird. Angriffe können allerdings auch auf das soziale Ansehen zielen. Dies passiert, wenn jemand Gerüchte verbreitet oder Mobbing-Betroffene lächerlich macht. Bei Angriffen auf die Qualität der Schul-, Berufs- und Lebenssituation erhalten die Betroffenen sinn- und aussichtslose Aufgaben. Es sind auch Angriffe auf die Gesundheit möglich. Hierzu zählt die körperliche Gewalt (vgl. Abbildung 1). Beachte: Manche Mobbinghandlungen entwickeln sich erst zu roher Gewalt, wenn sie systematisch ausgeübt werden. Andere stellen alleingenommen schon eine grobe Verletzung der menschlichen Würde dar. Trotzdem lässt sich bei einer einmaligen Handlung nicht von Mobbing sprechen. 84 uj 2 | 2016 Mobbing Mobbingforschung Die Mobbingforschung begründete Heinz Leymann in den 1990er Jahren in Schweden. Der Psychologe versteht unter Mobbing negative kommunikative Handlungen, die von einer oder mehreren Personen ausgehen und sich gegen eine Person richten. Diese Handlungen kommen über einen längeren Zeitraum vor (Leymann 1993, 60). Beachte: Als Kriterien für Mobbing bestimmt Leymann (1993), dass es mindestens einmal pro Woche und über mindestens sechs Monate auftritt. Konfliktreiche Beziehung Ist es bereits Mobbing oder noch ein Konflikt? Die Grenze zwischen Konflikten und Mobbing ist fließend (vgl. Tabelle 1). Beide Begriffe ähneln sich, doch nicht jeder Konflikt führt zu Mobbing. Die ExpertInnen streiten sich darüber und verwenden unterschiedliche Definitionen. Beachte: Bei Mobbing gerät der Konflikt außer Kontrolle. Denn Mobbing bezeichnet Gewalt, die sich gegen Seele, Geist und Körper richtet. Wann Mobbing genau beginnt, lässt sich in der Praxis trotzdem schwer bestimmen. Denn bei einem einmaligen Streit oder wenn die Parteien gleich stark sind, sprechen ExpertInnen noch nicht von Mobbing (Zapf/ Semmer 2004). Mobbingursachen verstehen Das Ursachengeflecht bei Mobbing ist komplex. Mögliche Ursachen für direktes Mobbing sind: schmerzhafte Beziehungen, Überforderungen, Machtkämpfe, mangelndes Einfühlungsvermögen, schwache Führungspersönlichkeiten und Orientierungslosigkeit (Dietl 2015). Allerdings streben Mobbende nicht selten selbst nach der Gunst anderer Mobbender. Dies nährt einen Kreislauf aus angepasstem, missgünsti- Angriffe auf die Möglichkeit, sich zu äußern ➤ Jemand wird ständig unterbrochen ➤ Anschreien oder lautes Schimpfen Angriffe auf die sozialen Beziehungen ➤ Jemand wird wie Luft behandelt ➤ Jemand wird nicht mehr angesprochen Angriffe auf die Gesundheit ➤ Körperliche Gewalt ➤ Misshandlungen Angriffe auf das soziale Ansehen ➤ Jemand verbreitet Gerüchte ➤ Jemand verdächtigt einen, psychisch krank zu sein ➤ Jemand wird lächerlich gemacht Angriffe auf die Qualität der Schul-, Berufs- und Lebenssituation ➤ Jemand bekommt nur noch sinnlose Aufgaben ➤ Jemand wird absichtlich überfordert Abb. 1: Auswahl einiger Mobbinghandlungen Quelle: Eigene Darstellung, angelehnt an Leymann (1993) 85 uj 2 | 2016 Mobbing gem und intolerantem Verhalten. Ausgrenzende Gruppenereignisse sind alltäglich. Jeder kann betroffen sein. Die strukturellen Bedingungen spielen bei Mobbing eine wesentliche Rolle (Zapf/ Semmer 2004). Die Ursachen für indirektes Mobbing liegen neben der Geschichte in der Ökonomie, Bürokratie und/ oder Politik (Dietl 2015). Historisch-kulturelle Ursachen Historisch betrachtet basiert Mobbing auf verwurzelter Intoleranz in unserer Gesellschaft. Denn unsere Vorfahren haben sich bereits ausgrenzenden Strukturen untergeordnet. In der Nachkriegszeit wurde in Heimen die Verwahrung angestrebt; erst danach richtete sich der Fokus mehr auf die Förderung der Insassen. Die totalitären Wurzeln unserer Vergangenheit können wir deshalb nur vollständig bewältigen, wenn wir auf entwürdigende Sprach- und Organisationsmuster achten. Ökonomische Ursachen Die Ökonomen setzen soziale Einrichtungen bewusst einem Wettbewerb aus. Das führt zu Kostendruck, Sparmaßnahmen, Stellenabbau und Überforderungen. Effizienzsteigerung maximiert die Gewinne. Mobbingprävention ist im Qualitätsmanagement kaum anerkannt. Deshalb finden empathische Gesprächsrunden fast nicht statt (Sears 2011), und die Erziehenden bleiben mit schwierigen Situationen überfordert. Politische Ursachen Eine ausgrenzende Politik schafft den Rahmen für Mobbinghandlungen. Beleidigende Unwörter wie Selektionsrest für schwerstbehinderte Kinder, die nicht in die Normschule gehen, grenzen aus und beeinflussen die Bevölkerung. Wer von Gutmenschen oder WutbürgerInnen spricht, setzt in zynischer Weise Andersdenkende pauschal und ohne Betrachtung ihrer Darlegungen herab und wertet sie ab (Biermann 2013). Aber auch Minderheiten wie Geflüchtete sind betroffen. Wer Wörter wie Integrationsverweigerer in Umlauf bringt, unterstellt, dass MigrantInnen kein Interesse an der Gemeinschaft hätten. Versäumnisse auf politischer Ebene bleiben unerwähnt. Politische Rechtfertigungen bei Mobbing geschehen neben der Sprache auch über die Religion, Ideologie, Kunst oder die Wissenschaften. Bürokratische Ursachen Heime funktionieren bürokratisch: „Ich musste das tun“, „Anweisung von oben! “, „Er soll sich unterordnen“. Wo so gesprochen wird, ist Mobbing nicht weit. Amtssprache stärkt die Mobbenden und verschleiert Würdeverletzungen. Sie führt zu fehlender Flexibilität und Starrheit. BürokratInnen berufen sich auf die Vorschrift. Doch diese ist schnell gegen Menschen gerichtet. Deshalb halten der Psychologe Marshall Rosenberg (2004) und die Philosophin Hanna Arendt (1960) Amtssprache für Konflikt Mobbing Ungelöster Streit: vereinzelte Schuldzuweisungen, seelische Angriffe Ohne Regelmäßigkeit Vereinzelte Mobbinghandlungen Eskalationsneigung Machtposition noch ausgeglichen Etablierter Psychoterror: Ausgrenzung / Isolation, Selbstwertgefühl nimmt ab Regelmäßig Zeitraum > ½ Jahr, 1 x pro Woche Gesundheitsschäden Ungleiche Machtpositionen Tab. 1: Konflikte vs. Mobbing Quelle: eigene Darstellung 86 uj 2 | 2016 Mobbing sehr gefährlich. Die bürokratische Sprache ermöglicht es den Menschen, eine verantwortliche Haltung rational zu umgehen. Solange Amtssprache unmenschliche Abläufe festigt, bleibt körperliche und seelische Unversehrtheit der Jugendlichen und Erziehenden auf der Strecke. Beachte: In Heimen geschieht Mobbing nicht nur direkt, sondern es nimmt vor allem verdeckte, indirekte Formen an (vgl. Abbildung 2). Wie können Jugendliche und Erziehende gewaltfrei reagieren? Wenn Jugendliche oder Angestellte im Heim angegriffen, beschimpft und ignoriert werden, stoßen wir schnell an die Grenzen unserer Handlungsmöglichkeiten. BeobachterInnen fehlen die Worte, und Einrichtungen haben keinen Ansatz, darauf zu reagieren. Fallbeispiel: Schnell laufen die beiden Jugendlichen vorbei. Sie sehen zu Boden und würdigen Frank keines Blickes. Daraufhin senkt sich auch Franks Blick traurig zu Boden. An der Tür erwartet ihn ein Erzieher. Kühl und distanziert begrüßt er den Jungen: „Du siehst aus wie ein Häuflein Elend.“ Danach sitzt der Heimbewohner am gemeinsamen Esstisch. Ihm laufen die Tränen das Gesicht hinunter. Doch keiner weiß, warum. In den nächsten Tagen eskaliert die Situation. Nach ersten missbilligenden Sätzen der Mitbewohner ist Frank ärgerlich. Nachdem die MitarbeiterInnen immer kleinkarierter ihre Dienstbefugnisse anwenden, bekommt er Angst. Doch nach dem ersten Training in Gewaltfreier Kommunikation schöpft Frank wieder Hoffnung. Gewaltfreie Kommunikation Wie sagt jemand etwas? Stimmt die eigene Beobachtung mit der des Gesprächspartners überein? Das sind wesentliche Aspekte in der Gewaltfreien Kommunikation, die Marshall Rosenberg (1983) entwickelt hat. Dieses Kommunikationsmodell hilft dabei, eigene Anliegen zu erfüllen, ohne dem Gegenüber zu schaden. So lassen sich erfüllende Beziehungen aufbauen. Wer nach einer genauen Beobachtung die aktuellen Gefühle und Bedürfnisse (vgl. Tabelle 2 und Tabelle 3) genau wahrnimmt und ausdrückt, erhöht nicht nur seine Chance, zu bekommen, was er braucht, sondern findet auch einen Weg aus der Gewaltspirale. Empathie ist deshalb in Mobbingsituationen besonders wichtig. Beachte: Das Modell der Gewaltfreien Kommunikation basiert auf den vier Grundelementen: Beobachten, Einfühlen, Bedürfnisse klären, Bitte stellen. Entscheidend ist in schwierigen Gesprächen allerdings, mit welcher Haltung, Einstellung oder Energie wir uns mitteilen. bürokratisch körperlich seelisch politisch ökonomisch kulturell Direkt (Personal) Indirekt (Strukturell) Mobbing Abb. 2: Mobbingformen und -ursachen Quelle: Eigene Darstellung 87 uj 2 | 2016 Mobbing Tab. 2: Gefühle Gefühle, wenn Bedürfnisse nicht erfüllt sind: Angst alarmiert angespannt bange befangen beklommen besorgt beunruhigt entsetzt gefährdet gehemmt gehetzt gelähmt getrieben hektisch hysterisch kleinmütig nervös panisch passiv perplex scheu schockiert schüchtern unentschlossen unklar unruhig unsicher verzagt vorsichtig zögerlich zweifelnd Ärger ärgerlich aufgebracht aufgeregt bestürzt empört entrüstet erregt frustriert genervt gereizt kalt missmutig stachelig trotzig turbulent ungehalten verächtlich verbittert verstimmt wütend zornig Neid ambivalent begierig benommen erwartungsvoll hungrig unzufrieden Ekel abgeneigt abgestoßen abscheulich angeekelt lustlos unbehaglich unwillig widerwillig Eifersucht aufgewühlt begehrlich gierig erbittert mürrisch misstrauisch schmachtend sehnsüchtig ungeduldig Scham (Schuld) allein apathisch bedauernd bedrückt belastet beschämt einsam peinlich berührt reuig verlegen Traurigkeit abgeschlagen bedrückt bekümmert betroffen betrübt deprimiert desillusioniert düster elend entmutigt enttäuscht ermüdet erschöpft gequält hilflos hoffnungslos lethargisch melancholisch mutlos niedergeschlagen pessimistisch resigniert schwermütig traurig trostlos überwältigt unglücklich untröstlich verletzt verzweifelt voller Schmerz Gefühle, wenn Bedürfnisse erfüllt sind: Dankbarkeit befriedigt beschwingt dankbar gerührt gestärkt herrlich inspiriert intensiv kribbelig optimistisch satt sprudelnd wach Freude amüsiert ausgelassen beschwingt ekstatisch fasziniert fröhlich glücklich jubelnd lebendig selig strahlend überglücklich verzaubert Mitgefühl fokussiert gebannt interessiert mitfühlend ruhig sorglos still versunken vertrauensvoll verwundbar warm weich zutraulich Überraschung abenteuerlustig angeregt begeistert erstaunt hoffnungsvoll liebevoll offenherzig verspielt zufrieden zuversichtlich Quelle: eigene Darstellung 88 uj 2 | 2016 Mobbing Wer die eigene Verantwortung für sein Innenleben ablehnt, neigt dazu, dem Gegenüber Schuld zuzuweisen und ihn sprachlich oder sogar körperlich zu verletzen. Die vier Grundelemente der Gewaltfreien Kommunikation - Beobachtung, Gefühl, Bedürfnis, Bitte - bieten eine Alternative. Sie sind in Tabelle 4 und Abbildung 3 erklärt. Beachte: Ziel der Gewaltfreien Kommunikation ist, eine wohlwollende Verbindung zwischen den Menschen aufzubauen. Umgang mit Ärger in Mobbingsituationen: das SSTOP-Modell Bei Mobbing ist es besonders wichtig, auf den inneren Dialog zu achten. Es geht darum, sich zu fragen, welche Gedanken, Bedürfnisse und Gefühle hinter dem ausgelösten Ärger stecken. Danach lassen sich ankommende Bitten an sich selbst oder an andere Personen stellen. Das SSTOP-Modell (vgl. Abbildung 4) veranschaulicht die Methode. Auslöser wahrnehmen (Stimulus) Betroffene sind Auslöser, aber nicht die Ursache für Mobbing. Denn Mobbinghandlungen resultieren aus unerfüllten Bedürfnissen und dem Denken, wie und was jemand sein sollte (Larsson 2013). Dabei ist zu fragen, in welchen Situationen beim Gegenüber Mobbinghandlungen ausgelöst werden. Beachte: Betroffenen hilft es, Konflikte, schwierige Situationen, seelische Verletzungen zu notieren. Ein Tagebuch unterstützt Betroffene dabei. Autonomie, Freiheit, Selbstbestimmung, Selbstständigkeit, Wahlmöglichkeit Identität, Bewusstsein, Integrität, Selbstausdruck, Würde Gesundheit, Balance, Bewegung, Heilung, Lebenserhalt, Nahrung, Schlaf, Sexualleben Schutz, Beständigkeit, Entlastung, Ordnung, Ruhe, Sicherheit, Unversehrtheit Kreativität, Kompetenz, Selbstverwirklichung, Wachstum, Wirksamkeit Sinn, Authentizität, Ehrlichkeit, Klarheit, Spiritualität, Transzendenz Liebe, Beitrag leisten, Empathie, Fürsorge, Geborgenheit, Kooperation, Unterstützung, Vertrauen, Wärme, Zuverlässigkeit Teilhabe, Akzeptanz, Augenhöhe, Einfluss, Gerechtigkeit, Gemeinschaft, Kontakt, Mitgefühl, Verständnis, Zugehörigkeit Spiel, Erholung, Feiern, Inspiration, Muße Wertschätzung, Achtsamkeit, Klarheit, Mühelosigkeit, Respekt Tab. 3: Bedürfnisse Quelle: eigene Darstellung Aufrichtig ausdrücken Empathisch empfangen Beobachtung: Wenn ich sehe, höre … Gefühl: fühle ich mich … (siehe Tab. 2) Bedürfnis: weil ich … (siehe Tab. 3) brauche. Bitte (positiv): Wärst du bereit, … Beobachtung: Wenn du siehst/ hörst… Gefühl: fühlst du dich dann … (siehe Tab. 2) Bedürfnis: weil du … (siehe Tab. 3) brauchst? Bitte (konkret): Möchtest du …? aufrichtig: mir zu sagen, was du gerade brauchst? einfühlsam: mir zu sagen, was bei dir angekommen ist? lösungsorientiert: zu tun (spezifisch, konkrete Handlung) Tab. 4: Die Grundelemente Gewaltfreier Kommunikation (GFK) Quelle: eigene Darstellung, angelehnt an Gill/ Leu/ Morin (2009) 89 uj 2 | 2016 Mobbing Schuldzuweisungen erkennen (Should-thinking) Auf Würdeverletzungen reagieren wir meistens mit Schuldzuweisungen. Diese richten sich entweder gegen uns selbst oder gegen andere und führen deshalb häufig zu Gegenangriffen oder zur Depression aufgrund von Selbstbeschuldigungen. Unsere Bedürfnisse und auch die des Gegenübers bleiben dabei meistens auf der Strecke. Denn wenn sich Wut und Ärger breit machen, lassen sich unerfüllte Bedürfnisse kaum wahrnehmen. Deswegen ist es wichtig, solche Prozesse zu kennen und angemessen darauf zu reagieren. Bedürfnis verstehen (Translate to needs) Indem sich Betroffene und Beteiligte bewusst machen, was sie brauchen, eröffnen sie sich neue Vermeiden: ➤ Kritisieren ➤ Fordern ➤ Leugnen der eigenen Verantwortung für unsere Gedanken, Gefühle und Handlungen Was ich ➤ beobachte ➤ fühle ➤ brauche ➤ bitte zum Ausdruck bringen Empathisch empfangen was andere ➤ beobachten ➤ fühlen ➤ brauchen ➤ bitten Abb. 3: Elemente der Gewaltfreien Kommunikation Quelle: Eigene Darstellung, angelehnt an Rosenberg/ Molho (1998) Abb. 4: Das SSTOP-Modell ➤ was jemand sagt, tut… Gefühl wandeln (open to feelings) Gegenwartsbezogene Bitte (Present request) Bedürfnis (Translate to needs) Schuldzuweisungen erkennen (Should thinking) Auslöser wahrnehmen (Stimulus) ➤ Sollte-Denken ➤ Innerer Wolf ➤ Übersetzen ➤ Körperreaktion wahrnehmen ➤ An sich selbst ➤ An andere Person Quelle: Eigene Darstellung, angelehnt an Leu (2014) 90 uj 2 | 2016 Mobbing Handlungsspielräume. Denn hinter Mobbing steckt ein unerfülltes Bedürfnis, welches - wie jedes Bedürfnis - eigentlich dem Leben dient. Dies tun Mobbingstrategien meistens nicht. Es gibt allerdings viele andere gewaltfreie Wege, um Bedürfnisse zu erfüllen. Empathie hilft uns, zu erkennen, was wir brauchen. Verstandene Bedürfnisse weisen den Weg aus dem Kreislauf aus Ärger, Depression und Schuldzuweisungen. Gefühl wandeln (Open to feelings) Sobald Gefühle gesehen werden, wandeln sie sich. Zentral dabei ist, auf Körperreaktionen zu achten und verantwortlich mit Gefühlen umzugehen. Denn diese geben uns Orientierung über unsere Lebenssituation. Trauer und Freude informieren uns, ob unsere Bedürfnisse erfüllt worden sind. Kommunikation gelingt, sobald sich jemand aufrichtig ausdrückt und er/ sie die Gefühle und Bedürfnisse empathisch wahrnimmt. Gegenwartsbezogene Bitte (Present request) Eine Gegenwartsbezogene Bitte könnte im inneren Dialog lauten: „Stehe für deine eigenen Bedürfnisse ein und sage: Nein! “. Es fällt uns oft schwer, bei Würdeverletzungen„Nein“ zu sagen. Wir entwickeln sogar Schuldgefühle. Doch ein „Nein“ wäre womöglich ein„Ja“ zum eigenen Bedürfnis nach Selbstrespekt. Hier hilft es, eine empathische Haltung einzunehmen und das Tempo zu verlangsamen. Wenn die eigenen Bedürfnisse und die Anliegen des Gegenübers in die abschlägige Antwort einbezogen sind, kann der Gegenüber das„Nein“ wahrscheinlich besser verstehen und akzeptiert es auch leichter. Eine andere gegenwartsbezogene Bitte könnte in Mobbingsituationen lauten: „Lass Dir jetzt helfen! “ Beachte: Damit die Betroffenen Würdeverletzungen aufarbeiten können, brauchen sie Verbündete. Unterstützen können: betriebliche Anlaufstellen, FreundInnen, professionelle BeraterInnen, MediatorInnen, Coaches, SozialberaterInnen oder RechtsanwältInnen. Bei vorgeschrittenem Mobbing helfen auch ÄrztInnen, PsychologInnen und PsychotherapeutInnen. Was Einrichtungen tun können Sobald Mobbing im Spiel ist, sind Situationen festgefahren. Besonders im Heimumfeld ist das für Jugendliche und Erziehende Alltag. Deshalb stellt sich die Frage: Wie können EinrichtungsleiterInnen dazu beitragen, dass auf Mobbinghandlungen verzichtet wird? Ein sicheres und vertrauensvolles Umfeld schaffen Damit eine fürsorglich-wertschätzende Atmosphäre den Jugendlichen Geborgenheit gibt, ist ein sicherer Rahmen notwendig. Den Beteiligten fehlen oft Räume, um Gefühle und Bedürfnisse auszudrücken. Ein vertrauensvolles Umfeld schafft die notwendigen Bedingungen dafür, um alle Beteiligten zu verstehen. Offene Gesprächsrunden gehören deshalb in den Ablauf der Einrichtungen integriert. Jugendliche und Erziehende zum Eingreifen befähigen Wer wenig Einfühlungsvermögen Betroffenen gegenüber besitzt und sich schnell seelisch angegriffen fühlt, neigt zu Mobbing. Doch Empathie-Kompetenz lässt sich trainieren und entwickeln. Im Vordergrund steht dabei, die Sicht sowie die Gefühle und Bedürfnisse des Gegenübers zu verstehen. Dies heißt allerdings nicht, dass man mit der Sicht einverstanden sein muss. Schuldzuweisungen vermeiden Der in Mobbingsituationen verbreitete No- Blame-Ansatz richtet sich gegen Schuldzuweisungen (= Blame). No-Blame bedeutet, dass niemand bestraft wird. Bei diesem Verfahren erfolgt keine Ursachenforschung. BeraterInnen bearbeiten Konflikte nicht in der Vergangenheit, sondern in der Gegenwart. In die Gespräche sind sowohl mobbende als auch unterstützen- 91 uj 2 | 2016 Mobbing de Jugendliche eingebunden. Die vermittelnde Person stärkt den Einfluss der nicht mobbenden Jugendlichen. Der Ansatz wurde in den 1980er Jahren in England von George Robinson und Barbara Maines (2008) entwickelt. Beachte: Betroffene schaffen es in der Regel nicht aus eigener Kraft, Mobbing zu bewältigen. Mobbinghandlungen einfach zu ignorieren, ist kein sinnvoller Ansatz. Wie mit Mobbing umgehen? Heime sind eher ungeeignete Orte, um Menschen zufrieden oder gar glücklich zu machen. Denn in Heimen ist die Entscheidungsfreiheit bei den Beteiligten systematisch eingeschränkt. Vorschriften entziehen beispielsweise allen Beteiligten die Kontrolle über ihren Tagesablauf. Über Mobbingsituationen spricht niemand gern. Oft legt sich Sprachlosigkeit über Würdeverletzungen. Dieses Schweigen ermöglicht Mobbing (Dietl 2015). Die Beteiligten brauchen daher Mut, um mit der Sprachlosigkeit zu brechen. Dies macht besonders das Geschehen im Kloster Ettal deutlich. Fallbeispiel: Im Internat des Benediktinerklosters herrschte bis in die Achtziger Jahre hinein ein autoritäres System, aus dem es kein Entrinnen gab. Teil dieses Gewaltsystems waren auch sexuelle Übergriffe. Gewalt wurde als Erziehungsmethode eingesetzt (Keupp et al. 2013). Menschen wollen ihr Ansehen schützen. Sie schämen sich. Es gibt zahlreiche Ursachen für das Schweigen (vgl. Abbildung 5). Diese sind uns häufig nicht bewusst. Es lohnt sich deshalb, mögliche Gründe gegliedert nach ZuschauerInnen, MobberInnen und Betroffenen zu betrachten. Beachte: Die Wahrheit über Mobbinghandlungen kommt aufgrund der Schweigekultur in den Heimen nur selten ans Licht. Das enorme hierarchische Gefälle in unseren Heimen verleitet zum Machtmissbrauch. Trotzdem muss sehr viel passieren, bis ein Heim aufgrund von Missständen schließt. 2013 trat dieser Fall in Brandenburg allerdings ein. Fallbeispiel: Jugendliche sind jahrelang in den Brandenburger Haasenburg-Heimen an Liegen gefesselt worden. Es kommt dort neben Knochenbrüchen zu zwei Todesfällen in den Jahren 2005 und 2008. Um der Gewalt zu entgehen, laufen mehrere Jugendliche weg. Ein 19-Jähriger erstattet Strafanzeige, weil er durch das Personal immer wieder längere Zeit ans Bett gefesselt wird. Ein weiterer Jugendlicher berichtet von Körperverletzungen, Beleidigungen und Nötigungen. Nachdem ExpertInnen die Missstände in den Brandenburger Heimen bestätigen, wird zuerst ein Aufnahmestopp verhängt und werden Angestellte entlassen. Wenige Monate später kommt Brandenburgs Jugendministerin Martina Münch (SPD) zu der Einsicht, dass die Einrichtungen nicht mehr reformierbar seien (Münch, 2013). Nach den schweren Misshandlungen werden die umstrittenen Haasenburg-Heime geschlossen. Fremdbestimmt und kontrolliert verbringen HeimbewohnerInnen ihren Alltag in solchen Einrichtungen. Ihr Tagesablauf ist strikt geregelt. Selbst wenn Entscheidungen die HeimbewohnerInnen persönlich betreffen, informiert das Personal nicht immer. Kriterien wie verschlossene Türen, mächtige Mauern und eine abgelegene Lage treffen neben Gefängnissen und Psychiatrien auch auf Heime zu. Wenn Menschen für längere Zeit von der übrigen Gesellschaft abgeschnitten sind und ein formal reglementiertes Leben führen, steigt die Gefahr des Machtmissbrauchs. Das beschreibt der kanadische Soziologe Erving Goffman (1973). Er stellt im Rahmen seiner Untersuchungen fest, dass Einrichtungen in westlichen Demokratien einen totalitären Charakter besitzen. Denn Heime sind gekennzeichnet durch eine 92 uj 2 | 2016 Mobbing Beschränkung des sozialen Kontakts zur Außenwelt sowie der Freizügigkeit. Goffman nennt solche Einrichtungen „Totale Institutionen“ und löst die bis heute anhaltende Zielbestimmung „ambulant vor stationär“ aus. Fazit Heim-Mobbing betrifft Jugendliche und Angestellte. Sobald Mobbing im Spiel ist, wirken Situationen aussichtslos - das ist für viele Jugendliche aus dem Heimumfeld der Alltag. Empathie ist ein wirksames Gegenmittel. Sie hilft, die seelischen Verletzungen selbst zu heilen. Empathie reicht allerdings nicht aus, solange die Bedürfnisse einzelner Personen und/ oder Gruppen - wie HeimbewohnerInnen - gesellschaftlich nicht wahrgenommen und anerkannt werden. Hier sind Gesellschaft und Politik gefragt. Generell gilt für viele Einrichtungen, dass neben körperlicher Gewalt und Kränkungen hierarchisch-ausgrenzende Strukturen eine wesentliche Rolle spielen. Obwohl Mobbing oft durch strukturelle Bedingungen ausgelöst wird (Zapf/ Knorz/ Kulla 1996), sind wirksame Hilfen kaum vorhanden. Hier liegt der Ansatzpunkt, um auf Mobbing wirksam zu reagieren (Dietl 2015). Fehlende Sensibilität für Hinweise des Betroffenen Nicht vorstellbar: Helfer, mobben nicht! Heile Welt Keine kommunikativen Räume Mangelnde Professionalität Vertrauen auf die Hierarchie Scham Normalisierung Tabuisierung Angst vor Ausgrenzung Umfeld nicht belasten Scham, Tabu, Schuldgefühle Tabuisierung von Mobbing und Gewalt Sprachlosigkeit und Verwirrung Zuschauer Mobber Betroffene Abb. 5: Ursachen für das Schweigen Quelle: Eigene Darstellung angelehnt an Keupp et al. (2013) 93 uj 2 | 2016 Mobbing Der Wandel in unseren Heimen ist ein gesellschaftliches Bedürfnis. In Deutschland braucht es deshalb mehr Dialog zwischen den Verantwortlichen, Beteiligten und Betroffenen. Beachte: Wer glaubt, allein mit mehr Personal ließen sich Würdeverletzungen in unseren Heimen verhindern, liegt falsch. Denn solange die Verantwortlichen keine empathische Haltung einnehmen, funktioniert die Fürsorge unzureichend. Ein Lösungsansatz ist daher, die soziale Kompetenz aller Beteiligten zu entwickeln. Hier passiert noch viel zu wenig. Dr. Markus Dietl Bunzlauer Straße 20 80992 München info@dietl-medical-writing.de Literatur Arendt, H. (1960): Vita activa oder Vom tätigen Leben. Kohlhammer, Stuttgart Bämayr, A. (2012): Das Mobbingsyndrom: Diagnostik, Therapie und Begutachtung im Kontext zur in Deutschland ubiquitär praktizierten psychischen Gewalt. Europäischer Universitätsverlag, Berlin Biermann, K. H. (2013): Sprachlügen. Unworte und Neusprech von „Atomruine“ bis „zeitnah“. Fischer, Frankfurt am Main Dietl, M. (2015): Mobbing im Heim: Gewaltfreie Lösungswege. Springer, Wiesbaden Europäische Union (2010): Experience of discrimination, social marginalisation and violence: A comparative study of Muslim and non-Muslim youth in three EU Member States. FRA, Wien Gill, R., Leu, L., Morin, J. (2009): Nonviolent Communication (Nvc) Toolkit for Facilitators: Interactive Activities and Awareness Exercises Based on 18 Key Concepts for the Development of NVC Skills and Consciousness. BookSurge Publishing, Charleston Goffman, E. (1973): Asyle. Über die soziale Situation psychiatrischer Patienten und anderer Insassen. Suhrkamp, Frankfurt am Main Keupp, H., Straus, F., Mosser, P. et al. (2013): Sexueller Missbrauch, psychische und körperliche Gewalt im Internat der Benediktinerabtei Ettal. Individuelle Folgen und organisatorisch-strukturelle Hintergründe. IPP, München Larsson, L. (2013): 42 Schlüsselunterscheidungen in der GFK: Für ein tieferes Verständnis der Gewaltfreien Kommunikation. Junfermann, Paderborn Leu, L. (2014): Gewaltfreie Kommunikation: Das 13- Wochen-Übungsprogramm: Ein praktischer Leitfaden für Übungsgruppen und GFK-Kurse. Junfermann, Paderborn Leymann, H. (1993): Mobbing - Psychoterror am Arbeitsplatz und wie man sich dagegen wehren kann. Rowohlt, Reinbek Meschkutat, B., Stackelbeck, M., Langenhoff, G. (2002): Der Mobbing-Report. Eine Repräsentativstudie für die Bundesrepublik Deutschland. Wirtschaftsverlag NW, Dortmund Münch, M. (2013): Aus für Haasenburg-Kinderheime in Brandenburg. In: www.mdr.de/ brisant/ branden burg-schliesst-haasenburg-jugendheime100.html, 21. 4. 2014 Robinson, G., Maines, B. (2008): Bullying - A Comprehensive Guide to support Group Method. Sage, London Rosenberg, M. (1983): A Model for Nonviolent Communication. New Society Publishers, Gabriola Island Rosenberg, M. (2004): Konflikte lösen durch Gewaltfreie Kommunikation. Ein Gespräch mit Gabrielle Seils. Herder, Freiburg im Breisgau Rosenberg, M., Molho, P. (1998): Nonviolent (empathic) communication for health care providers. Haemophilia 4, 335 - 340 Sears, M. (2011): Gewaltfreie Kommunikation im Gesundheitswesen. Eine Kultur des Mitgefühls schaffen. Junfermann, Paderborn Teuschel, P. (2010): Mobbing - Dynamik, Verlauf, gesundheitliche und soziale Folgen. Schattauer, Stuttgart Zapf, D., Semmer, N. K. (2004): Stress und Gesundheit in Organisationen. In: Schuler, H.: Enzyklopädie der Psychologie. Hogrefe, Göttingen, 1007 - 1112 Zapf, D., Knorz, C., Kulla, M. (1996): On the Relationship between Mobbing Factors and Job Content, Social Work Environment and Heal Outcomes. European Journal of Work and Organizational Psychology 5, 215 - 237