unsere jugend
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0342-5258
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/uj2016.art32d
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2016
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„Evidenzbasierte Praxis“
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2016
Holger Ziegler
Orientiert sich die Beurteilung konkreter Maßnahmen in der Sozialen Arbeit lediglich darauf, was gerade gut „funktioniert“, besteht die Gefahr der Instrumentalisierung praxisbezogener Forschung. Andererseits ist auch eine konsequente wirkungsorientierte Ausrichtung kritisch zu betrachten. Eine Debatte um Fragen der Wirkungsforschung ist deshalb für die Soziale Arbeit unerlässlich.
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224 unsere jugend, 68. Jg., S. 224 - 231 (2016) DOI 10.2378/ uj2016.art32d © Ernst Reinhardt Verlag München Basel „Evidenzbasierte Praxis“ Chancen und Risiken der Wirkungsforschung Orientiert sich die Beurteilung konkreter Maßnahmen in der Sozialen Arbeit lediglich darauf, was gerade gut „funktioniert“, besteht die Gefahr der Instrumentalisierung praxisbezogener Forschung. Andererseits ist auch eine konsequente wirkungsorientierte Ausrichtung kritisch zu betrachten. Eine Debatte um Fragen der Wirkungsforschung ist deshalb für die Soziale Arbeit unerlässlich. von Prof. Dr. Holger Ziegler Jg. 1974; Professor für Soziale Arbeit an der Universität Bielefeld, Fakultät für Erziehungswissenschaft Dass sozialarbeiterische Interventionen in die Lebensführung ihrer AdressatInnen 1. Ziele haben und sich 2. (in welcher Weise auch immer) auswirken, ist eine offensichtliche Tatsache. Interessant ist die Frage, um welche Ziele es geht und inwiefern und in welcher Hinsicht sich welche Interventionspraktiken auswirken. Dass Wirkungsforschungen insbesondere zur Klärung des zweiten Teils dieser Frage ein empirisches Wissensfundament beitragen können, lässt sich kaum bestreiten. Welche Formen des Eingriffs in Lebensführungen sich unter welchen Umständen wie auf die AdressatInnen auswirken und welche Handlungs- und Daseinsmöglichkeiten durch die Soziale Arbeit eröffnet oder verschlossen werden, sind wichtige Fragen, deren Beantwortung für eine (empirisch fundierte) Kritik der real existierenden Sozialen Arbeit ebenso von Bedeutung ist, wie für die praktische und theoretische Fundierung der Sozialen Arbeit. Allgemeine Befunde der Wirkungsforschung Die Wirkungsforschungen der letzten 25 Jahre haben zu einer Reihe durchaus relevanter, wenngleich in der Regel nicht wirklich überraschender, Befunde geführt. Man kann, zusammenfassend formuliert, davon ausgehen, dass die Qualifikationder Fachkräfte, das Ausmaßihrer Arbeitsautonomie, die Mitbestimmung der Fachkräfte in den Organisationen, die Qualität des Teamklimas, das Vorhandensein von fachlich-reflexiv begründeten und zugleich verbindlichen Ziel- und Handlungskonzeptionen, die Organisationsverbundenheit der Fachkräfte, aber auch das Ausmaß an Fallbearbeitungszeit und Ausgewogenheit von Aufgaben- und Ressourcen-Planungen einen Einfluss auf die Wirksamkeit ihrer fachlichen Praxis hat. Es finden sich zudem empirische Hinweise darauf, dass klare, aber als sinnvoll akzeptierbare und Orientierung gebende Regeln und Strukturen, partizipative Kontexte, die Beziehungsgestaltungen und die Qualität der Arbeitsbündnisse die Wirkungswahrscheinlichkeiten von Maßnahmen beeinflussen. Auch dass das Ausmaß, in dem junge Menschen und Familien die Erfahrung von Wertschätzung, Fairness, Verständnis und Verlässlichkeit machen, den Erfolg einer Maßnahme beeinflusst, kann als gesichert gelten. Studien weisen ferner darauf hin, dass 225 uj 5 | 2016 Evidenzbasierte Praxis - Chancen und Risiken der Wirkungsforschung z. B. Hilfeplanungen und Jugendhilfemaßnahmen, die über einen rein auf Symptomreduktionen von Defiziten und Problematiken gerichteten Fokus hinausgehen und zugleich Ressourcen und Stärken fördern, häufig günstigere Wirkungen erreichen. Eine Vielzahl von Studien macht auch darauf aufmerksam, dass z. B. für die Nachhaltigkeit der Effekte der Heimerziehung (ambulante) Betreuungen, Begleitungen oder zumindest Beratungen im Anschluss an die Maßnahmen von hoher Bedeutung sind. Die Dauer von Jugendhilfemaßnahmen ist entscheidend Der wohl wesentliche Befund nahezu sämtlicher deutscher wie internationaler Studien lautet, dass die Wirkung bzw. der Erfolg einer Maßnahme in einem hohen Maße mit der Dauer der Maßnahme korreliert. Dies ist insgesamt der wohl am besten abgesicherte Befund. Er gilt insbesondere auch in der Heimerziehung, in der Maßnahmen von unter einem Jahr in der Regel keine oder nur sehr geringe Effekte zeitigen. Allerdings wurde die durchschnittliche Heimaufenthaltsdauer in der Praxis in den letzten Jahren deutlich verkürzt. Dass 2012 mehr als die Hälfte der Heimerziehungen (51,3 %) eine maximale Verweildauer von weniger als 12 Monaten hatten, spricht allerdings Bände über die eingeschränkte praktisch-politische Relevanz der Befunde der Wirkungsforschung. Effekte sind nur in geringem Ausmaß von den Handlungsmethoden abhängig Der wohl überraschendste Befund der Wirkungsforschung lautet, dass die Effekte in aller Regel nur in geringem Ausmaß von der spezifischen Handlungsmethode abhängen. Dieser Befund gilt nicht nur für die Soziale Arbeit, sondern zählt auch zu den zentralen Ergebnissen der langen Tradition der empirischen Therapie-Forschung. Selbst bei vergleichsweise individualzentrierten Psychotherapien klären spezifische Therapieverfahren in der Regel bei sonst gleichen Bedingungen zwischen (maximal) 15 % und 1 % der Varianz der Ergebnisse auf (vgl. Lambert/ Ogles 2004; Wampold 2001). Wie es Martin Seeligman (2005) formuliert, kann keine Therapieform generell oder auch nur mit Hinblick auf bestimmte Problemlagen eine höhere Wirkung als andere nachweisen. Angesichts der vergleichsweise starken Einbettung in intersubjektive und lebensweltliche Bedingungskonstellationen und aufgrund ihrer hohen Abhängigkeit von Fallverstehen und kontextadäquaten Vorgehensweisen ist kaum zu erwarten, dass der (geringe) Effekt spezifischer Verfahren im Kontext der Kinder- und Jugendhilfe stärker ausfallen wird als in der Psychotherapie. Bis zu einem gewissen Grad sprechen Wirkungsforschungen demnach dafür, dass insbesondere die Qualität von Organisationen und klassische Qualitätsdimensionen von Professionalität in der Leistungserbringung für den Erfolg von Maßnahmen verantwortlich zeichnen. Die Befunde sprechen auch dafür, dass eine Steuerung, die es der Profession ermöglicht, fachlich angemessene Leistungen nach professionellen Qualitätskriterien zu erbringen, als wirksame Steuerung gelten kann. Politischer Wunsch nach einer nützlichkeitsorientierten Wirkungsforschung Vor allem in der politischen Wirkungsdebatte scheint sich eine gewisse Unzufriedenheit mit diesen Befunden zu finden. Vielmehr scheint es, als wolle man vor allem eine Wirkungsforschung, die es erlaubt, Entscheidungen über den Einsatz von Maßnahmen und Verfahren nach Effektivitäts- und Effizienzprämissen zu treffen. Hier geht es weniger um die Frage, wie die Erbringung einer Leistung zu gestalten sei, sondern welche Verfahren, Maßnahmen und 226 uj 5 | 2016 Evidenzbasierte Praxis - Chancen und Risiken der Wirkungsforschung Programme als ‚erfolgversprechend‘ gelten und daher finanziert werden sollten. Vor diesem Hintergrund soll die Erforschung von Wirkungen Sozialer Arbeit in Form von Evaluationsforschungen vollzogen werden, die darauf gerichtet sind, zu prüfen, in welchem Ausmaß Maßnahmen und Programme ihre im Vorfeld definierten Ziele erreicht haben bzw. dazu beitragen, den Cost-Value-Benefit, d. h. die Höhe der verausgabten öffentlichen Mittel relativ zu den messbaren Wirkungsgraden der erbrachten Leistungen zu optimieren. Vor diesem Hintergrund ist die gegenwärtige Konjunktur der Wirkungsforschung ein Ausdruck dessen, was Solesbury (2001, 4) als „utilitarian turn“ (Nützlichkeitswandel) in der Sozialwissenschaft beschrieben hat. Nützlichkeitsorientierte Wirkungsforschung steht im Widerspruch zu den fachlichen Ansprüchen in der Sozialen Arbeit Eine Wirkungsforschung, die dem dabei dominanten utilitaristisch-instrumentalistischen Credo „What Counts is What Works“ folgt, steht dabei zumindest in einem Spannungsverhältnis zu den Ansprüchen einer partizipatorischen, adessatInnenorientierten Sozialen Arbeit. Dies gilt auch, wenn man zugesteht, dass das „What- Counts-is-What-Works“-Credo häufig eher eine ideologische Legitimierungsstrategie darstellt, die nur wenig Korrespondenz in der (Steuerungs-)Realität Sozialer Arbeit findet. Dass die Ergebnisse der Wirkungsforschung ignoriert oder schlichtweg ins Gegenteil verkehrt werden, wenn sie politisch nicht opportun erscheinen, ist nicht nur eine verschwörungstheoretische Annahme, sondern lässt sich schon durch einen flüchtigen Blick z. B. auf die Debatte um die Weiterentwicklung der Hilfen zur Erziehung validieren. Da man politisch (und aus fiskalischen Gründen) der Meinung ist, dass z. B. familienorientierte Einzelhilfen durch andere Formate zu ersetzen sind, argumentiert man eben, dass die SPFH Wirkungsdefizite aufweise und sozialräumliche Maßnahmen, Gruppenangebote in Regelinstitutionen oder ‚Frühe Hilfen‘ etc. effektiver wären. Doch auch wenn man von dem sehr selektiven Gebrauch der Ergebnisse der Wirkungsforschung absieht, beinhaltet eine utilitaristische Ausrichtung - der zufolge das ‚gut‘ ist ‚was funktioniert‘ - für die Soziale Arbeit zumindest die Gefahr, dass z. B. Fragen von Autonomie, Demokratie und Partizipation in den Hintergrund treten und die praxisbezogene Forschung in der Sozialen Arbeit auf ein bloßes Informationsbeschaffungswerkzeug zur Effizienzsteigung vorherrschender Steuerungsrationalitäten reduziert wird. Bedeutung der Wirkungsdebatte und Wirkungsforschung für die Soziale Arbeit Gleichwohl ist die Soziale Arbeit schlecht beraten, sich nicht mit der Frage von Wirkungsforschung zu beschäftigen. Dies gilt, zumal die Debatte um Wirkungsforschung auch eine Debatte darüber ist, was der Auftrag und das Ziel Sozialer Arbeit sein soll und wie Soziale Arbeit durchzuführen sei. Anders formuliert, ist die Frage der Wirkungsforschung und Wirkungsorientierung nicht zuletzt eine politische Auseinandersetzung darüber, was gute Soziale Arbeit ist. Der eminent politische Charakter der Wirkungsdebatte und schließlich auch der Wirkungsforschung selbst wird schon alleine vor dem Hintergrund der Tatsache deutlich, dass die Auswahl der Indikatoren und Maßstäbe, die zur Beurteilung der Wirkung Sozialer Arbeit herangezogen werden, immer das Ergebnis politisch-normativer Entscheidungen sind. Da Beschreibungen nicht nur bloßes Produkt von Beobachtungen sind, sondern immer spezifische Selektionen enthalten, ist auch die Erfassung von Indikatoren keineswegs einfach eine 227 uj 5 | 2016 Evidenzbasierte Praxis - Chancen und Risiken der Wirkungsforschung Grundlage für das Tätigen wahrer Aussagen, die auf der neutralen Beobachtung objektiver Fakten beruhen. Vielmehr beruht die Bildung von Wirkungsindikatoren darauf, aus einer Vielfalt möglicherweise zu erkundenden Merkmale, welche Sachverhalte repräsentieren sollen, die als wahr oder objektiv angesehen werden, diejenigen auszuwählen, denen für den Zweck der Beschreibung die höchste Relevanz zugesprochen wird (dazu: Bonvin/ Rosenstein 2010). Wirkungsnachweise, so die Idee, sollen wesentliche Informationsbasis für praktische Handlungsstrategien sein. Allerdings ist die Festlegung dessen, was zur Informationsbasis gehört, was als relevant gilt und was nicht, das Produkt einer Entscheidung. Erst eine solche Entscheidung erlaubt es, Zielsetzungen zu definieren, an denen die Wirksamkeit der Projekte bemessen wird. Die Auswahl der Informationsbasis ist ausschlaggebend Die Entscheidung, eine bestimmte Informationsbasis zu fokussieren (und andere mögliche Informationen zu vernachlässigen) ist dabei keine Konsequenz, die sich auf reiner wissenschaftlicher Evidenz ergibt, sondern immer eine Entscheidung, in die eine Reihe unterschiedlicher fachlicher und normativer Erwartungen, aber auch praktischer Präferenzen einfließen. Aussagen darüber, ob eine Maßnahme ‚wirksam‘ oder ‚unwirksam‘ sei, sind in einer allgemeinen Weise kaum möglich und sinnvoll. Was möglich ist, sind Aussagen darüber, ob eine bestimmte Maßnahme mit Blick auf eine bestimmte, immer partielle Informationsbasis eine höhere Wirksamkeit entfaltet als entweder keine Maßnahme oder eine alternative Maßnahme. Ob die dabei zugrunde gelegte Informationsbasis für Aussagen über Wirksamkeit praktisch und je fallspezifisch tatsächlich die richtige oder angemessene ist, lässt sich wissenschaftlich kaum abschließend beantworten. Erst die Auswahl der Informationsbasis erlaubt es, Zielsetzungen zu definieren und Mittel und Ressourcen auf deren Erreichen zu konzentrieren, werden wirkungsorientierte Verfahren je nach der gewählten Informationsbasis unterschiedliche Zielsetzungen verfolgen und unterschiedliche Werkzeuge und Instrumente einsetzen. Insbesondere wenn es bei der Auswahl der wirkungsorientierten Informationsbasis um die sozialarbeiterische Bearbeitung der praktischen Lebensführung Dritter geht, ist es eine wesentliche Macht-, aber auch eine Demokratiefrage, wer daran beteiligt ist und welche Interessen maßgeblich sind, wenn über die Festlegung der gültigen Informationsbasis entschieden wird (vgl. Bonvin 2009): „Wessen Evidenz als Evidenz zählt“ (Parsons 2002, 57) ist auch für die Soziale Arbeit eine entscheidende Frage. Differenz zwischen fachlich angemessener und effektiver Praxis Sozialer Arbeit Die Relevanz der Breite und des Inhalts der informationalen Basis von Wirkungsaussagen lässt sich exemplarisch anhand des sogenannten Sherman-Report (1998) aufzeigen. Dieser Bericht ist eine umfangreiche und methodologisch anspruchsvolle internationale Meta-Evaluationsstudie zu Projekten der Kriminalprävention. Der Sherman-Report widmet sich der Frage, welche Maßnahmen kriminalitätsreduzierend wirken und welche nicht. Im Ergebnis zeigen Lawrence Sherman und seine KollegInnen durchaus deutlich auf, dass Programme, die auf eine Verbesserung der beruflichen Qualifikation Jugendlicher abzielen, ebenso wie Programme, die kooperatives Lernen und andere Solidaritäts- und Beteiligungsbzw. Partizipationsformen betonen, in aller Regel kriminalpräventiv betrachtet ineffektiv sind. Das Gleiche gilt für erlebnispädagogische Maßnahmen und für Programme, die eine Entwicklung des Selbstwertgefühls in den Mittelpunkt stellen. Allerdings sind Solidarität oder Identitäts- und 228 uj 5 | 2016 Evidenzbasierte Praxis - Chancen und Risiken der Wirkungsforschung Selbstwertentwicklung wesentliche Dimensionen der Kinder- und Jugendhilfe. Auch Beteiligung und Partizipation gehören zumindest rhetorisch zu den weithin akzeptierten Arbeitsprämissen der Sozialen Arbeit. Selbst wenn effektive Delinquenzprävention als eine Aufgabe der Sozialen Arbeit akzeptiert wird, finden sich plausible Gründe dafür, zwischen einer fachlich angemessenen Form der Sozialen Arbeit und einer kriminalpräventiv möglichst effektiven Praxis zu unterscheiden (dazu: Schrödter/ Ziegler 2007). Eine konsequent ‚wirkungsorientierte‘ Ausrichtung der Sozialen Arbeit läuft Gefahr, diesen Unterschied zu ignorieren oder zumindest einseitig auflösen. Diese Gefahr findet sich nun nur im Kontext der Kriminalprävention. Auch wenn Evaluationsstudien die Wirksamkeit der Kinder- und Jugendhilfe z. B. anhand ihres Beitrags zur Reduktion weitgehend entwicklungspsychopathologisch bestimmter Störungssymptome bemisst, legt sie eine spezifische Ausrichtung der sozialarbeiterischen Praxis nahe. Evidenzbasierte Praxis auf der Basis einer experimentellen Wirkungsforschung? Aber nicht nur mit Blick auf die gewählten Wirkungsindikatoren, sondern auch aufgrund der methodischen Prinzipien der Wirkungsforschung selbst, sind bzw. wären die Auswirkungen einer ‚evidenzbasierten Praxis‘ für die Logiken der Leistungserbringung der Kinder- und Jugendhilfe erheblich. Der Konjunktiv, dass die Auswirkungen erheblich wären, ist insofern wichtig, weil die Idee einer ‚evidenzbasierten Praxis‘ bislang (noch) nicht Realität in der Kinder- und Jugendhilfe ist. Die Idee einer ‚evidenzbasierten Praxis‘ im engeren Sinne ist die Idee, die Praxis der Kinder- und Jugendhilfe an den Ergebnissen der experimentellen Wirkungsforschung auszurichten. Eine wesentliche Prämisse der im internationalen wissenschaftlichen Diskurs dominierenden experimentellen Wirkungsforschung lautet, dass nur jene Ergebnisse als Wirkungen bezeichnet werden können, die ursächlich auf die Intervention zurückzuführen sind. Die Feststellung einer solchen Wirkung erfordert nicht nur die Erhebung von Daten, die auf das Eintreten oder Nicht-Eintreten der untersuchten erwünschten Ereignisse verweisen (Outcome-Messung), sondern bedarf der Modellierung kontrafaktischer Situationen (d. h. einer Situation, die eingetreten wäre, wenn keine Maßnahme erfolgt wäre) und der Prüfung der Ergebnisse dieser Situationen. Nur so kann bestimmt werden, welche Entwicklung die AdressatIn einer Intervention genommen hätte, wenn sie dieser Intervention nicht ausgesetzt gewesen wäre. Eine solche kontrafaktische Situation kann - so eine im wissenschaftlichen Diskurs verbreitete Position - nur durch experimentelle Vergleiche modelliert und geprüft werden. Wenn die Mitglieder einer Gruppe, die einer bestimmten Maßnahme exponiert werden unter ansonsten gleichen Bedingungen, nach der Maßnahme häufiger oder seltener die gemessenen Merkmale oder Ereignisse aufweisen als Mitglieder einer Gruppe, die keiner (oder einer alternativen) Maßnahme ausgesetzt werden, dann wird die relative Wahrscheinlichkeit des (Nicht-) Eintretens des untersuchten Ereignisses als Wirkung der Maßnahme verstanden. Große Herausforderungen der experimentellen Wirkungsforschung Die wesentliche Herausforderung der entsprechenden Wirkungsforschung besteht in der Kontrolle von ‚Dritt-‘ oder ‚Störvariablen‘. Da insbesondere kontrollierte Experimentaldesigns, bei der Sicherstellung der ‚internen Validität‘, d. h. der Kontrolle von beobachteten und unbeobachteten Drittvariablen, als besonders zuverlässig gelten, werden sie häufig als der „Goldstandard“ für die wissenschaftliche Fundierung von Wirkungsnachweisen beschrieben. Dies gilt insbesondere für sogenannte 229 uj 5 | 2016 Evidenzbasierte Praxis - Chancen und Risiken der Wirkungsforschung randomisierte Kontrollstudien (RCTs), die ein Studiendesign bezeichnen, welches es erlaubt, den Einfluss von Drittvariablen, die eine alternative Erklärung der Outcome-Varianzen bieten könnten, durch Verfahren der Randomisierung auszuschalten. Randomisierungsverfahren basieren darauf, TeilnehmerInnen nach dem Zufallsprinzip auf eine Experimentalgruppe und eine Kontrollgruppe zu verteilen. Die Mitglieder der Experimentalgruppe erhalten die zu untersuchende Maßnahme, die Mitglieder der Kontrollgruppe werden keiner oder einer alternativen Maßnahme ausgesetzt. Ist dabei das Sample der UntersuchungsteilnehmerInnen groß genug, dann stellt eine solche Zufallsaufteilung sicher, dass sowohl die beobachteten als auch die unbeobachteten Merkmale (bzw. Störvariablen) in der Experimental- und Kontrollgruppe gleich verteilt sind. Eine durch Randomisierung sichergestellte Gleichverteilung dieser Variablen sorgt dafür, dass auch deren systematischer Einfluss gleich verteilt und in diesem Sinne beim Gruppenvergleich statistisch eliminiert ist. Eine solche Eliminierung des Einflusses von Drittvariablen gilt immer nur für Gruppenmittelwertvergleiche, aber nicht für die jeweiligen Individuen in der Gruppe, die als Einzelne natürlich weiterhin die entsprechenden Merkmale aufweisen. Anders formuliert: Die Wirkungsaussagen von RCTs treffen nicht auf der Individualebene der MaßnahmenteilnehmerInnen zu. Grenzen der experimentellen Wirkungsforschung mit Blick auf die komplexe Praxis der Sozialen Arbeit Während die Stärke solcher experimentellen Wirkungsanalysen in der Beschreibung der Folgen liegt, die der gezielten Variation einer Maßnahme zugeschrieben werden kann, gelingt es dieser Forschung weniger gut, die Bedingungen und Mechanismen aufzuzeigen, durch die eine Ursache- Wirkungs-Beziehung zustande kommt (Shadish et al. 2002). Dies ist die kaum vermeidbare Folge eines „trade-off between internal and external validity“ (Cartwright 2007, 10), die im Wesentlichen darauf hinausläuft, dass RCTs - und die Methoden, die versuchen, RCTs möglichst nahe zu kommen - bestenfalls Kausalbeschreibung, aber eben keine Kausalerklärungen liefern. Es wird zwar der (an definierten Ergebnisvariablen bemessene) Erfolg oder Misserfolg einer Maßnahme beschrieben, aber nicht die Zusammenhänge und Mechanismen, die diesen Erfolg (oder Misserfolg) bedingen. Das Problem einer mangelnden Kausalerklärung ist mit Blick auf die Idee einer Ausrichtung der Praxis an den Ergebnissen der Experimentalforschung durchaus bedeutsam. Denn die Ergebnisse der Kausalbeschreibungen experimenteller Wirkungsforschung sind notorisch mit dem Problem der ‚externen Validität’ konfrontiert. Denn methodisch betrachtet sind die Ergebnisse von Experimentalforschungen nur für die geprüften Kontexte und Programmgestaltungen gültig. Sie können nicht auf andere Kontexte und Programmgestaltungen übertragen werden. Dies liegt daran, dass Kausalbeschreibungen die Wahrscheinlichkeit beschreiben, mit der eine ganz bestimmte Maßnahme, die gegenüber einer ganz bestimmten Zielgruppe in einer ganz bestimmten Form und in einem ganz bestimmten Setting durchgeführt worden ist, ein bestimmtes, möglichst klar definiertes Ereignis (die „Wirkung“) nach sich zieht. Sofern die Ergebnisse der experimentellen Wirkungsforschung zur Steuerung der Praxis Sozialer Arbeit verwendet werden sollen, ist es notwendig sicherzustellen, dass die Programme‚ordnungsgemäß‘ durchgeführt, d. h. weder ‚verwässert‘ noch ergänzt oder modifiziert werden. Veränderungen der Programme oder ihrer Durchführung machen die Aussagen kausaldeskriptiver Wirkungsmodellberechnung als Entscheidungsgrundlage für die Auswahl effektiver Maßnahmen wertlos. 230 uj 5 | 2016 Evidenzbasierte Praxis - Chancen und Risiken der Wirkungsforschung Grenzen und Nebenwirkungen einer manualisierten Praxis Sozialer Arbeit Sofern man also Maßnahmen an den Ergebnissen der Experimentalforschung ausrichten möchte, wäre eine gradlinige, möglichst manualisierte Durchführung von Programmen erforderlich (vgl. Wissenschaftlicher Beirat Psychotherapie 2009). Nun ist eine manualisierte, d. h. an einer detaillierten, schriftlichen Bedienungsanleitung ausgerichtete Praxis in der Sozialen Arbeit keinesfalls die Regel. Es finden sich eher selten Stimmen, die eine solche Praxis fordern würden. Allerdings ist bei einem Verzicht auf Manualisierungen nicht zu erwarten, dass der ‚Erfolg‘ einer experimentell geprüften Maßnahme bei einer (unvollständigen) praktischen Replikation andernorts wiederholt wird. Es ist gemeinhin bekannt, dass die Effektstärken auch wirksamer Programme deutlich sinken, wenn sie in der Praxis durchgeführt werden. In diesem Zusammenhang kann man auch von einem gewissen Widerspruch zwischen wirkungsorientierten Programmen und Forderungen nach Partizipation im Sinne von Entscheidungsrechten von AdressatInnen sprechen. Denn Partizipation setzt logisch voraus, dass überhaupt irgendetwas entschieden werden kann, d. h. dass sich im Vollzug einer Maßnahme sowohl die Maßnahme selbst als auch deren Ziele verändert werden können. Sofern Partizipation mehr meint, als nur die manipulative Erzeugung von Commitment und Compliance seitens der AdressatInnen, steht sie in einem Widerspruch zur bloßen Durchsetzung ‚wirksamer‘ Programme. Anders formuliert ist Partizipation nur schwer mit der Forderung nach ‚Programmintegrität‘ der Maßnahmen vereinbar. Fazit: Skepsis gegenüber experimenteller Wirkungsforschung und Ausrichtung auf fachliche Standards und professionelle Ziele der Sozialen Arbeit Es gibt also gute Gründe einer technologischen Anwendung ‚wirksamer‘ Programme skeptisch gegenüber zu stehen und zwar insbesondere dann, wenn man davon ausgeht, dass es die Soziale Arbeit weniger mit wissenschaftlichempirisch eindeutig auflösbaren, sondern mit widersprüchlichen, politisch und moralisch umkämpften Problemkonstellationen zu tun hat. Diese Problemkonstellationen sind durch Ambiguitäten (Mehrdeutigkeiten) gekennzeichnet, bei denen es der Sache nach - neben dem Kriterium einer statistisch messbaren Wirksamkeit von Maßnahmen - vor allem das kaum standardisierbare und nicht manualisierbare Kriterium der fall- und situationsbezogenen Angemessenheit des Umgangs mit den AdressatInnen geht. Die entscheidende Frage lautet daher, ob es bei der Wirkungsforschung darum gehen soll, Hinweise zu liefern, die bei der professionellen Gestaltung der Sozialen Arbeit beachtet werden sollten, weil sie dazu beitragen, die Soziale Arbeit in die Lage zu versetzen, ihren fachlichen Standards und ihren professionellen Zielen zu entsprechen, oder ob es darum gehen soll, Soziale Arbeit auf eine Technologie zu reduzieren, die ein effizientes Erreichen jener ‚Performance Indicators‘ verspricht, nach denen die Soziale Arbeit gesteuert werden soll. Holger Ziegler hziegler@uni-bielefeld.de 231 uj 5 | 2016 Evidenzbasierte Praxis - Chancen und Risiken der Wirkungsforschung Literatur Bonvin, J.-M. (2009): Der Capability Ansatz und sein Beitrag für die Analyse gegenwärtiger Sozialpolitik. In: Soziale Passagen, 1, 8 - 22 Bonvin, J.-M., Rosenstein, E. (2010): Jenseits evidenzbasierter Steuerungsmodelle: Kognitive Rahmen und ihre normativen Implikationen in„Steuerungsmodellen zur sozialen Integration. 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