unsere jugend
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0342-5258
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/uj2016.art33d
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Rezension
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Dieter Kreft
Geradezu neugierig auf diesen Titel wurde ich durch eine sehr kritische Besprechung von Elke Heidenreich (in: Cicero 4/2015, 132f) mit der Überschrift: "Kein Unfug war erfolgreicher". Ich schätze E. Heidenreich als eine kluge, belesene Frau, gradlinig im Denken, bodenständig. Warum so ein "Verriss’ der Gender Theorie " ich wollte mir eine eigene Meinung bilden.
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232 uj 5 | 2016 Rezension Birgit Kelle: Gender Gaga. Wie eine absurde Ideologie unseren Alltag erobern will 2015, Adeo-Verlag, Asslar, 192 S., € 17,99 Geradezu neugierig auf diesen Titel wurde ich durch eine sehr kritische Besprechung von Elke Heidenreich (in: Cicero 4/ 2015, 132f ) mit der Überschrift: „Kein Unfug war erfolgreicher“. Ich schätze E. Heidenreich als eine kluge, belesene Frau, gradlinig im Denken, bodenständig. Warum so ein ‚Verriss’ der Gender Theorie - ich wollte mir eine eigene Meinung bilden. Noch dazu, weil ich seit Jahren mit Sorge beobachte, dass sich in der Sozialen Arbeit eine zunehmend unpolitische Entwicklung breit macht. Zu kennzeichnen dadurch, dass sich unsere Disziplin/ Profession inzwischen „groß mit kleinen Themen“ beschäftigt. Die großen Entwürfe werden stetig „ausgefranst“ über die Behandlung von immer spezielleren Randthemen, Verfeinerungen und Betrachtungen - und das so lange, bis „die große Idee dahinter“ fast unkenntlich wird. Die „große Idee“ ist doch hier, dass Frauen und Männer gleichberechtigt sind und Anspruch auf gleichberechtigte Behandlung in allen gesellschaftlichen Bereichen haben (nach Kreft/ Mielenz: Wörterbuch Soziale Arbeit 2013, 10). Jedenfalls habe ich die einfache Grundidee des Feminismus immer „politisch“ verstanden. Und auch Simone de Beauvoirs „Das andere Geschlecht“, die Einteilung der Menschheit in Männer und Frauen sei nicht Ausdruck natürlicher Gegebenheiten, sondern Ergebnis einer sozialen Konstruktion, „Frauen“ seien von Männern erfunden worden, um sie als „das Andere“ kennzeichnen und so unterdrücken zu können, habe ich immer „politisch“ gelesen. Heute ist nach Birgit Kelle „eine ganze Gender- Industrie mit Tausenden von Beschäftigten (entstanden), (sie) lebt heute mit Lehrstühlen, Instituten und Beauftragten davon, uns alle zu politisch korrekten, geschlechtssensiblen Mitbürgern zu erziehen“ (Vorwort, 8). In acht - z. T. kurzen - Kapiteln behandelt sie ihre Grundthese „der Kaiser ist nackt“ (S. 10): (1) Vom Kreißsaal auf die schiefe Bahn; (2) Weibliche Zebrastreifen; (3) Gendergaga - 60 Ways to Leave your Lover; (4) Einstiegsdroge Pink; (5) Wo Gleichstellung draufsteht, ist Frau drin; (6) Ein Puff für alle im Lehrplan; (7) Gender Mekka Berlin; (8) Österreichs Töchter; (9) Ist Gott ein Nazi? ; (10) Die Mauerblümchen-Studien; (11) Gendergerechter Geschlechtsverkehr. Abschließend wird in einem Epilog die Frage behandelt: „Ja, ist denn alles schlecht an Gender? “. Wie wirkt das Buch? Ich denke, wer immer das Buch liest, wird empört sein. Zunächst natürlich die Gender Protagonistinnen (vielleicht auch einige Protagonisten), denen schon ziemlich direkt „der Spiegel vorgehalten wird“! Lesen Sie, die geneigte Leserin und der geneigte Leser, bitte dazu einfach das gesamte Vorwort mit diesem knappen Schlusssatz: „Und deshalb hat Gender Mainstreaming es verdient, als das betrachtet zu werden, was es ist: eine große Satireshow“ - und Sie werden die Empörung dieser ersten Gruppe sofort nachvollziehen können. Aber auch die zweite Gruppe, die der sog. schlichten Leser (hier als Plural beide Geschlechter umfassend), die einfach wissen wollen, was Gender ist, werden sich schließlich wohl auch empören. Wenn sie z. B. die doch recht seltsamen Sprachentwicklungen lesen werden, die aus Genuj 5 | 2016 233 Rezension der-Sicht zustande gekommen sind. Wir sind ja schließlich in einer „heterosexuellen Matrix“ gefangen, aus der wir uns befreien müssen. „Der größte Coup der Bewegung war es, das Wort ,Gender‘ überhaupt in Umlauf zu bekommen. Geschlecht, das ist ein schönes altes deutsches Wort, warum können wir es nicht weiterbenutzen? Warum hat man weltweit den Begriff ,Sex‘ durch ,Gender‘ ersetzt? Während mit ,Geschlecht‘ ganz klar männlich und weiblich definierbar ist - Stichwort Badezimmerspiegel -, ist ,Gender‘ die Wundertüte, in die jeder reinpackt, was er selbst unter Geschlecht versteht“ (S. 18). Um dem zu entsprechen, wurde das Binnen-I erfunden (SozialarbeiterInnen), angeregt, alle männlichen Professoren im Plural als Professorinnen zu bezeichnen (Uni Leipzig), nicht mehr Bäcker zu sagen, sondern „Bäcka“ oder „Bäckx“, wurden Radfahrer zu „Radfahrende“, Fußgänger zu „Zu Fuß Gehende“ usw. Dann die Zahl der Geschlechter: wie viele gibt es wirklich? Männlich - weiblich, also zwei, auch intersexuell, also drei, wie inzwischen personenstandsrechtlich anerkannt als das unbestimmte Geschlecht, oder „Lesbisch-Schwul- Bisexuell-Transsexuell-Transgender-Intersexuell“ (S. 41), also acht oder gar 4000? Kann schon sein, denn „laut Gender Mainstreaming (gibt es) gar kein ,typisch männlich‘ und kein ,typisch weiblich‘. Alles nur anerzogen. … Alles nur erlernte soziale Rollen, aufgezwungene Stereotype“ (S. 44). Oder: gender-gerechte Spielplätze, Uni-Sex- Toiletten und dann die sexuelle Vielfalt, Sex als Kernkompetenz, die auch in schulische Lehrpläne gehört (Baden-Württemberg). Toleranz war früher, heute gilt insofern „Akzeptanz“ … Sowas muss man sich erst mal ausdenken (S. 82). „Versext und zugenäht“ - so eine fette Zwischenüberschrift auf S. 91 -, aber wirklich, möchte man sagen! Nicht zu vergessen, gender-gerechtes Baden (ab S. 102), das Ampelmännchen, der Lesbenfriedhof in Berlin. Wenn die sog. schlichte Leserin, wohl auch der sog. schlichte Leser, so weit gekommen sind, werden sie sich wohl kopfschüttelnd abwenden angesichts dessen, was da so alles produziert wurde und wird. Ich war dann schließlich aber auch selbst empört, als die „Hart, aber Fair“-Sendung von Frank Plasberg zur Gender Frage vom 2. März 2015 (Nieder mit dem Ampelmännchen - Deutschland im Gleichstellungswahn? ) nach Protesten von Frauenverbänden, Gleichstellungsbeauftragten u. a. („weil unseriös“) aus der ARD-Mediathek gelöscht wurde. Wenn Interessengruppen Zensur bewirken und der (WDR-) Rundfunkrat ihnen einstimmig folgt, dann müssen doch die roten Lampen angehen. Glücklicherweise gibt es YouTube, dort konnte ich mir die Sendung (mehrfach) anschauen, sie war so, wie viele andere Plasberg-Produkte auch: informativ (Anton Hofreiter), witzig-provokativ (Wolfgang Kubicki), nervig (Anne Wizorek), schwatzhaft-naiv (Sophia Thomalla) und (erstaunlicherweise) blass (Birgit Kelle). Aber an keiner Stelle so, dass eine Löschung gerechtfertigt gewesen wäre. Die vielen Gegenproteste haben inzwischen bewirkt, dass die Sendung wieder in die ARD- Mediathek aufgenommen wurde. Was ich nach alledem den Leserinnen und Lesern empfehle? Das Vorwort und den Epilog zu lesen, in Ruhe nachzudenken, den eigenen Verstand zu gebrauchen und die Argumente „politisch“ zu ordnen, was wirklich wichtig ist für die Geschlechterfrage, also nicht ideologisch determiniert, sondern realistisch ausgerichtet: gleicher Lohn für gleiche Arbeit, Frauenbenachteiligung in Beruf und Arbeit, die Gleichstellung 234 uj 5 | 2016 Rezension von Frau und Mann in allen Formen des gesellschaftlichen Zusammenlebens. Und nicht dieser _Firlefanz nach diesem Beispiel: „Doch das hält eine_*n echte_*n Gender-Eiferer_*In nicht auf ihrer/ sein_*er Mission auf, unsere Welt gendersensibel zu gestalten“ (S. 13). Es ist sicher richtig und wichtig, auch in der Sprache den Geschlechtern gerecht zu werden. Einen interessanten Versuch, die Gleichstellung in Sprache und Schrift zu befördern, hat der Bundesverband der Arbeiterwohlfahrt in TUP 3/ 2013, 205ff unternommen, indem er - gestützt auf einen Text, den das Land Thüringen entwickelt hat -, einen Leitfaden zu geschlechtergerechtem Formulieren veröffentlichte: sehr vernünftig, sehr pragmatisch, sehr angemessen. Allerdings haben andere - vermeintlich gender-gerechte Sprach- und Schreibentwicklungen - keine „politische“ Wirkung, weil sie eher lächerlich sind und vermutlich das Gegenteil bewirken. Und ganz gefährlich wäre doch die Entwicklung einer Parallelgesellschaft, die als geschlossenes System nicht mehr austauschfähig ist. Ich bin jedenfalls Frau Kelle (und Frau Heidenreich) dankbar für ihre Anregungen zum eigenen Nachdenken. Prof. Dieter Kreft Kremie.nuernberg@t-online.de DOI 10.2378/ uj2016.art33d
