eJournals unsere jugend 68/6

unsere jugend
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0342-5258
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/uj2016.art35d
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2016
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Risikoverhalten von Jugendlichen

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2016
Jürgen Raithel
In der Lebensphase der Jugend ist das Risikoverhalten entwicklungsbedeutsam und funktional. Das Jugendalter ist von "Ausprobieren", "Testen" und "Grenzen überschreiten" gekennzeichnet und entsprechend sind riskante Verhaltenspraktiken deutlich stärker als in anderen Lebensphasen ausgeprägt.
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242 unsere jugend, 68. Jg., S. 242 - 251 (2016) DOI 10.2378/ uj2016.art35d © Ernst Reinhardt Verlag München Basel Risikoverhalten von Jugendlichen Formen, Funktionen und Empfehlungen In der Lebensphase der Jugend ist das Risikoverhalten entwicklungsbedeutsam und funktional. Das Jugendalter ist von „Ausprobieren“, „Testen“ und „Grenzen überschreiten“ gekennzeichnet und entsprechend sind riskante Verhaltenspraktiken deutlich stärker als in anderen Lebensphasen ausgeprägt. von Prof. Dr. Dr. Jürgen Raithel Jg. 1969; Psychologe und Erziehungswissenschaftler Risikoverhalten ist eine jugendspezifische Altersnorm - jugendliches Risikoverhalten ist normativ (Muuss 1993). Das Ausprobieren von Möglichem und Verbotenem spielt eine wichtige Rolle im Entwicklungsprozess zum Erwachsenwerden und ist mehrfach entwicklungsfunktional. Es ermöglicht Exklusion vs. Inklusion sowie symbolische Selbstinitiationen, Selbstbestätigung und Bewältigungserfahrungen auf emotionaler, sozialer und kognitiver Ebene. Risikoverhaltensweisen sind Teil der Jugendkultur und bieten dem Einzelnen zentrale Stilisierungselemente zur Geschlechtsrolleninszenierung und somit zur Identitätsbildung (Raithel 2005). Welche Form von Risikoverhalten ausgeübt wird, ist individuell different, aber es finden sich statistische Häufigkeitsunterschiede zwischen den Risikoverhaltensarten nach Geschlecht (Sex), Gender (Geschlechtsrollenorientierung) sowie sozialer und ethnischer Herkunft (Milieu sowie Lebensstil). Begriffsdefinition Den Begriffen Risikoverhalten und Risiko sind zwei gegensätzliche Inhalte inhärent. Auf der einen Seite wird Risikoverhalten bzw. Risiko mit Chance und Optionen assoziiert. Hier sei als Beispiel der Sektor der Finanzdienstleistung oder Unternehmenskultur genannt, in welchem ohne Risiko keine überdurchschnittlichen Gewinne generiert oder auch Innovationen geschaffen werden können. Auf der anderen Seite geht mit dem riskanten Verhalten eine Gefahr bzw. Unsicherheit einher. Hier wird in erster Linie die Wahrscheinlichkeit eines Schadens bzw. die Möglichkeit einer unerwünschten Konsequenz assoziiert. Risikoverhalten aus einer solchen Sichtweise gilt demnach als ein unsicherheitsbestimmtes Handeln, dessen unerwünschte Folgen mit einer Schadenswahrscheinlichkeit einhergehen. Systematik des Risikoverhaltens Je nach Schädigungsdimension lassen sich Risikoverhaltensweisen einer gesundheitlichen, delinquenten und finanziellen Dimension zuordnen (s. Tab. 1). Die dimensionsspezifische Unsicherheit des gesundheitlichen Risikoverhaltens liegt in der physischen wie psychischen Schädigung und Lebensbedrohung, die sich in Verletzung, Krankheit und Tod manifestieren kann. 243 uj 6 | 2016 Risikoverhalten von Jugendlichen Die Unsicherheit des delinquenten (rechtsnormbezogenen) Risikoverhaltens liegt in dem „Erwischtwerden“ und der danach folgenden Sanktionierung des Rechtsverstoßes. Das finanzielle Risikoverhalten bezieht sich in seinem Unsicherheitspotenzial auf eine monetäre Schädigung, was sich in einer Verschuldung ausdrücken kann (vgl. Raithel 2004). Was nun als gesundheitsriskantes Verhalten gilt und welches Verhalten nicht, ist nicht immer eindeutig bestimmbar und teilweise von mehreren Aspekten abhängig. Die folgende Tabelle 2 soll einen beispielhaften Überblick liefern, ohne dabei Anspruch auf Vollständigkeit zu erheben. So geht es beim Ernährungsverhalten nicht nur um eine ernährungsphysiologische Qualifizierung der aufgenommenen Energien und Nährstoffe, sondern auch um die Aufnahmemenge (vgl. Trapp/ Neuhäuser-Berthold 2001; Raithel 2002). Im Bereich des Bewegungsverhaltens ist regelmäßige körperliche Aktivität (z. B. Sport) gesundheitsförderlich, während Bewegungsmangel neben hochkalorischer Ernährung eine Hauptursache für viele „Zivilisationskrankheiten“ ist. Allerdings gilt exzessive Sportausübung in physiologischer Hinsicht bereits wieder als gesundheitsschädlich. Im Bereich des sonnenbezogenen Verhaltens wird zwar die Sonne seit Menschengedenken als „Quelle des Lebens“ verehrt, der Aufenthalt in der Sonne führt zur Bildung von Vitamin D und bewirkt bei vielen Personen eine Steigerung des Wohlbefindens und der dauerhafte Entzug kann sogar zu De- Risikodimension Unsicherheit bzw. Schädigung Verhaltensbereiche/ Handlungsfelder Gesundheitliches Risikoverhalten Lebensbedrohung, Unfall, Verletzung, Krankheit, Tod Ernährung, Straßenverkehr, Lärm, Sexualität, Gewalt, Sport, Hygiene, Alkohol, Tabak, illegale Drogen, Suizidalität, Mutproben. Delinquentes/ kriminelles Risikoverhalten Sanktion, Strafmaßnahme Straßenverkehr, illegale Drogen, (sexuelle) Gewalt, Sachbeschädigung, Diebstahl, Einbruch, „Hacken“, Betrug, (Mutproben). Finanzielles Risikoverhalten Finanzielle Verpflichtung, Verschuldung, Pfändung Illegale Drogen, Konsum, Straßenverkehr, Sexualität, Glücksspiel, Gewalt, Sachbeschädigung, Diebstahl, „Hacken“, Betrug. Tab. 1: Dimensionen der Risikoverhaltensweisen Gesundheitliches Risikoverhalten Gesundheitsförderliches Verhalten Hochkalorische Ernährung Restriktives vs. exzessives Ernährungsverhalten Bewegungsmangel Risikosport Ungeschützte Sonnenexposition Substanzkonsum/ -missbrauch Ungeschütztes Sexualverhalten Riskantes Verkehrsverhalten Explizit risiko-konnotative Aktivitäten Lautes Musikhören Nährstoffhochwertige Ernährung Regelmäßige Ernährung Zahn-/ Hygieneverhalten Körperliche/ sportliche Aktivität Ausreichend Schlaf Geschütztes Sonnenbaden „Moderater“ Alkoholkonsum (! ) Psychohygiene/ Stressvermeidung Vorsorgeuntersuchungen Tab. 2: Spektrum gesundheitsrelevanter Verhaltensweisen 244 uj 6 | 2016 Risikoverhalten von Jugendlichen pression führen, doch hat das Sonnenlicht durch seine karzinogene Wirkung der ultravioletten Strahlung eine immer größere gesundheitsgefährdende Schattenseite (vgl. Eid 2003). Als generell gesundheitsriskant gilt der Substanzkonsum, wobei neuere kardiologische Studien einem moderaten Alkoholkonsum (ein Glas Rotwein am Tag) förderliche Effekte bescheinigen. Als gesundheitsriskant gilt das ungeschützte Sexualverhalten in Bezug auf ungewollte Schwangerschaft und ansteckende Sexualkrankheiten, hier vor allem AIDS. Gesundheitsgefährdend sind weiterhin explizit risiko-konnotative Aktivitäten, wie beispielsweise riskante Mutproben und waghalsiges Verhalten sowie das riskante Straßenverkehrsverhalten. Risikoverhaltensweisen lassen sich weiterhin nach der Qualität bzw. Explizitheit des Risikos in eher alltägliche Risikoverhaltensweisen (z. B. Alkohol-, Tabak-, Medikamenten- und Drogenkonsum) und explizit risiko-konnotative Aktivitäten (z. B. riskante Mutproben oder Freizeitaktivitäten) differenzieren (Raithel 2004). Das substanzmittelbezogene Risikoverhalten wird von Jugendlichen weniger als Risiko angesehen, weil unmittelbare gesundheitliche Folgen für sie nicht zu spüren und antizipieren sind. Hingegen sind bei extremen bzw. explizit risikobezogenen Verhaltensweisen der Risikobezug und mögliche Schädigungen evident und im Bewusstsein des Akteurs. Das eher alltägliche - substanzmittelbezogene - Risikoverhalten kann als „risk behavior“ beschrieben werden, während das explizit risiko-konnotative Verhalten als „risk-taking behavior“ zu bezeichnen ist. Für die beiden risikoqualitativ differenten Verhaltensweisen lassen sich z.T. unterschiedliche Funktionen in Hinsicht auf Integrations- und Individuationsleistungen benennen (vgl. Raithel 2004) (s. Tab. 3). Die eher alltäglichen Risikoverhaltensweisen verschaffen aufgrund ihrer hohen Ausübungsfrequenz in unterschiedlichsten Gruppensituationen häufig eine Integrationsfunktion. Hier ist vor allem von quantitativen „Integrationsleistungen“ zu sprechen. Das Bier, der Cocktail oder die Zigarette sind häufig Medium der Kontaktaufnahme, vor allem auch zu temporären Gruppierungen. Die erste Zigarette oder das erste alkoholhaltige Getränk kann aber auch ein Symbol der Selbstinitiation darstellen und somit als ein Moment zur Identitätsbildung beitragen (Helfferich 1994, 90). Dem substanzspezifischen Risikoverhalten kommt weiterhin eine kompensatorische Funktion gegenüber psychosozialen Belastungen in der Familie und Schule zu (Mansel/ Hurrelmann 1991; Raithel 2004). Eine Hauptfunktion der explizit risiko-konnotativen Aktivitäten liegt in der qualitativen Integration, womit die Aufnahme in eine Clique bzw. feste Gruppe gemeint ist (z. B. durch Mutproben). So ist die Gruppenintegration qua Mutprobe in der Regel qualitativ sehr bedeutsam und bleibt relativ einmalig. Gleichfalls ist die Selbstüberwindung und Selbstbestäti- Risikoassoziation Hauptfunktionen Mögliche Verhaltensformen Risk behavior Niedrig, latentes Risiko, Alltäglichkeit ➤ quant. Integration ➤ Individuation ➤ schulische u. familiäre Belastungskompensation Insbesondere Substanzmittelkonsum, Ernährungsverhalten Risk-taking behavior Hoch, explizite Risiko-konnotation ➤ qual. Integration ➤ männl. Individuation ➤ Selbstbestätigung Riskante Mutproben, waghalsige Unternehmungen, vorsätzlich riskantes Verkehrsverhalten Tab. 3: Synopsis idealtypisch polarisierter risikoqualitativ differenter Verhaltensweisen 245 uj 6 | 2016 Risikoverhalten von Jugendlichen gung sowie die männlichkeitsbezogene Selbstpräsentation eine zentrale Entwicklungsfunktion waghalsiger Unternehmungen, wie beispielsweise bei riskanten Mutproben (vgl. Raithel 2003). Weiterhin lassen sich Risikoverhaltensweisen aufgrund ihrer Manifestation in eine internalisierende vs. externalisierende Form bzw. Regulationsform differenzieren (vgl. Mansel/ Hurrelmann 1991). Mit der jeweiligen Richtung des Verhaltens gehen bipolare Körperkonzepte und systematische Geschlechtsunterschiede einher (s. Tab. 4). Unter den Mädchen sind vor allem innengerichtete Verhaltensweisen zu finden, zu denen hauptsächlich der Medikamentenkonsum, Suizidalität und Fehlernährung zählen. Hingegen werden von Jungen insbesondere außengerichtete Verhaltensweisen praktiziert, hierunter fallen idealtypisch der Konsum von Alkoholika, Zigaretten und illegalen Drogen, riskantes Straßenverkehrsverhalten, Gewalt- und Eigentumsdelinquenz sowie die Ausübung von Risiko- und Extremsport. Mit den nach innenbzw. außengerichteten Verhaltensweisen ist ein je spezifisches Körperkonzept verbunden. Hierbei wird das integrative vom instrumentellen Körperverhältnis unterschieden. Dem Körper als wesentlicher Symbolträger der geschlechtsbezogenen Präsentation kommt als leibliche Grundlage des geschlechtlichen Konstruktionsprozesses eine herausragende Rolle zu. Er bietet über seine Inszenierung einen spezifischen Aspekt der Identitätsfindung und ist ein zentraler Identitätsträger (vgl. Baur/ Miethling 1991). Der Körper ist Träger kultureller Regeln und somit das materielle Fundament des Systems der Zweigeschlechtlichkeit. Er ist als leibliche Grundlage Anknüpfungspunkt für das soziale Geschlecht, über welchen Weiblichkeit und Männlichkeit präsentiert und kommuniziert wird. Über die soziale Codierung des Körpers wird die Geschlechtszugehörigkeit ein Leben lang reproduziert und zur Selbstdarstellung verwendet (vgl. Bilden 1991). Das „männliche“ und „weibliche“ Risikoverhalten folgt unterschiedlichen Logiken bzw. geschlechtsspezifischen Entwicklungsfunktionalitäten: Denn es gilt, dass sich die Mädchen mit ihrer Umwelt eher passiv auseinandersetzen, während sich die Jungen ihre Umwelt aktiv aneignen (vgl. Helfferich 1997; Hagemann- White 1984). Die Selbstwahrnehmung, Wahrnehmung des eigenen Körpers und Selbstdefinition unterliegt geschlechtsspezifischen Mustern, die sozial vermittelt werden. Die Mädchen entwickeln ein sehr sensibles, integrierendes Körperbild, wohingegen das Körperbild von Jungen sehr stark instrumentell begriffen wird (vgl. Baur 1988). Eine positive Besetzung des Körpers erfolgt bei den Jungen in Hinblick auf Zähigkeit, Belastbarkeit und Tapferkeit, während bei Mädchen der Fokus auf Empfindsamkeit, Beweglichkeit und Geschmeidigkeit liegt (vgl. Kolip 1997). Verhaltenskategorie Risikoverhaltensweisen Körperkonzept/ Geschlecht Internalisierende Verhaltensweisen Medikamentenkonsum, Suizidalität, problematisches Ernährungsverhalten Integratives Körperkonzept/ Eher Mädchen Externalisierende Verhaltensweisen Alkoholkonsum, Tabakkonsum, Konsum illegaler Drogen, riskantes Straßenverkehrsverhalten, Gewalt- und Eigentumsdelinquenz, Risikosport Instrumentelles Körperkonzept/ Eher Jungen Tab. 4: Risikoverhaltensweisen und Körperkonzepte 246 uj 6 | 2016 Risikoverhalten von Jugendlichen Erklärungsfaktoren des Risikoverhaltens Warum sich nun der eine Jugendliche gesundheitlich riskant und der andere delinquent und/ oder finanziell riskant verhält, hängt neben persönlichkeitsspezifischen und sozialisatorischen Größen auch von situativen Bedingungen, wie z. B. der Verfügbarkeit bzw. Gelegenheitsstruktur ab (s. Abb. 1). Das Risikoverhalten beruht auf einem multifaktoriellen Wirkungsgefüge aus vier Einflusskomplexen: einem Spannungsgebilde zwischen den Faktoren Person, Milieu/ Lebensstil, Gesellschaft und Gelegenheitsstruktur. Bietet sich auf dem Land nicht die Möglichkeit zum S-/ U- Bahn-Surfen, wird das der Jugendliche in seiner gewohnten Umwelt nicht ausüben und auch keine Affinität dazu entwickeln können. Persönlichkeitseigenschaften: Selbstwirksamkeit vs. Selbstwertgefühl Was nun als riskant gilt, ist interindividuell different. Ausschlaggebend sind hier Persönlichkeitseigenschaften. Besonders relevant sind hier die psychologischen Konzepte des Selbstwertgefühls und der Selbstwirksamkeit. Diese Konzepte werden in der Stress- und Bewältigungsforschung als Ressourcen oder Protektivfaktoren gesehen. In der Jugendgesundheitsforschung dienen diese Konzepte zur theoretischen Modellierung und empirischen Erfassung personaler Schutz-, Ressourcebzw. Moderatorfaktoren gegenüber psychosozialen Belastungen (vgl. Mansel/ Hurrelmann 1991; Kolip 1997; Raithel 1999). Beide Konzepte scheinen das Ähnliche zu meinen, doch unterscheiden sie sich in Bezug auf das Risikoverhalten (vgl. Raithel 2004 a). Das Konzeptder Selbstwirksamkeitserwartung geht auf Bandura zurück und wurde von Schwarzer weiterentwickelt (vgl. Schwarzer 1994). Nach der Selbstwirksamkeitstheorie ist das Verhalten einer Person durch ihre Leistungseffizienzerwartung und die Ergebniserwartung bestimmt. Die Selbstwirksamkeit bildet sich durch Erfahrungen des Individuums mit Situationen aus, die erfolgreich bewältigt werden konnten, und führen wiederum zu angemessenen Copingstrategien. Selbstwirksamkeitserwartungen beziehen sich auf wahrgenommene Anforderungen und meinen die Überzeugung einer Person, die Anforderungen zu bewältigen. Es sind Kognitionen über die subjektive Verfüg- Gesellschaft Person Lebensstil/ Milieu Gelegenheitsstruktur Abb. 1: Quadrat der Einflussgrößen auf das Risikoverhalten Jugendlicher (Raithel 2004) 247 uj 6 | 2016 Risikoverhalten von Jugendlichen barkeit von Ressourcen in Belastungssituationen. Selbstwirksamkeitserwartungen sind Bestandteil der individuellen Bewertung eigener Copingmöglichkeiten und tragen somit zur Bewältigung von Krisen und zur Gestaltung des eigenen Lebensraums bei. Das Konzept des Selbstwertgefühls geht auf Rosenberg (1968) zurück. Ein positives Selbstwertgefühl kann als Ausdruck psychischen Wohlbefindens und damit einer gelungenen Entwicklung angesehen werden. Das positive Selbstwertgefühl dient als Puffer gegen negative Auswirkungen von Stress und als protektiver Faktor in der Bewältigung kritischer Lebensereignisse. Hingegen können sich Personen mit einem schwachen Selbstwert im sozialen Geschehen kaum in der gleichen Weise durchsetzen wie Personen mit einem starken Selbstwertgefühl (Engel/ Hurrelmann 1989). Im empirischen Vergleich der beiden Konzepte zeigt sich, dass die Ausübung von gesundheitsbezogenem Risikoverhalten mit der Selbstwirksamkeitserwartung in den meisten Fällen signifikant positiv korreliert. Dies findet sich so für das Selbstwertgefühl allerdings nicht (vgl. Raithel 2004 a). Dieser Befund wird dahingehend interpretiert, dass ein Jugendlicher mit einer hohen Selbstwirksamkeitserwartung von einer gewissen Invulnerabilität seiner Person gegenüber potenzielle Schädigungen durch gesundheitsriskantes Verhalten ausgeht. Es lässt sich hier ein eher instrumentelles Körperkonzept vonseiten der Jugendlichen vermuten, die ihren Körper als ein wirksames Instrument wider die gesundheitlichen Risiken nutzen. Selbstwirksamkeit ist in dieser Perspektive ein Faktor instrumentellen Körperverständnisses und kontraproduktiv bezüglich gesundheitsförderlichen, also risikovermeidenden Verhaltens. Die Befunde legen die Vermutung einer Generalisierung auch auf andere Risikoverhaltensweisen nahe, wenngleich hier noch eine empirische Überprüfung aussteht. Funktionalität des Risikoverhaltens in der jugendlichen Entwicklung Risikoverhaltensweisen im Jugendalter übernehmen eine entwicklungspsychologische Funktion (Polyfunktionalität des jugendlichen Risikoverhaltens). Eine entsprechende Gegenüberstellung zwischen Entwicklungsaufgaben und Funktionen des Risikoverhaltens veranschaulicht Tabelle 5. Die riskanten Verhaltensweisen sind als Bemühungen um die Bewältigung von Entwicklungsanforderungen zu sehen. Individuell gewählte Risikoverhaltensweisen müssen in diesem Zusammenhang zum Teil als „folgerichtige“ Reaktionen von Jugendlichen verstanden werden, denen akute oder auch überdauernde Belastungen, Orientierungskrisen oder Verhaltensunsicherheiten in der Bewältigung ihrer Entwicklungsanforderungen zugrunde liegen. Jugendliche nutzen und bewerten Risikopraktiken gegenwarts- und funktionsorientiert. Für viele Jugendliche zählt nur das „Hier und Jetzt“ und es wird ausschließlich der vordergründige Nutzen des Verhaltens gesehen, ohne dabei die negativen Folgen in den Blick zu rücken, weil unmittelbare Beeinträchtigungen für sie (noch) nicht zu spüren sind. Verhaltenstheoretisches Modell der Funktionalität des Risikoverhaltens In kognitiv-verhaltenstheoretischer Sicht ist jegliches Verhalten durch einen Nutzen bzw. einen psychologischen Gewinn motiviert (s. Abb. 2). Der Gewinn des Risikoverhaltens im Jugendalter ist die Bewältigung von unterschiedlichen Entwicklungsaufgaben und anderen lebensphasischen Herausforderungen. Die „motivierende Kraft“, die das riskante Verhalten aufrechterhält, ist dabei der psychologische Nutzen, den die Betroffenen daraus ziehen. In den meisten Fällen ist dem Akteur aber dieser Gewinn nicht bewusst. 248 uj 6 | 2016 Risikoverhalten von Jugendlichen Entwicklungsaufgaben (Dreher/ Dreher 1985) Funktionen des Problemverhaltens (Jessor/ Jessor 1983; Silbereisen/ Kastner 1987; Moffitt 1993) Individuation ➤ Ausdruck persönlichen Stils ➤ Suche nach grenzüberschreitenden, bewusstseins-erweiternden Erfahrungen und Erlebnissen Abnabelung von den Eltern ➤ Unabhängigkeit von Eltern demonstrieren ➤ Bewusste Verletzung elterlicher Kontrolle Aufbau eines Lebensstils ➤ Teilhabe an subkulturellem Lebensstil ➤ Spaß haben und Genießen Wertesystem entwickeln ➤ gewollte Normverletzung ➤ Ausdruck sozialen Protests Integration: Aufbau von Freundschaften; Aufnahme intimer Beziehungen ➤ Erleichterung des Zugangs zu Peergruppen ➤ Exzessiv-ritualisiertes Verhalten ➤ Kontaktaufnahme mit gegengeschlechtlichen Peers Entwicklungsprobleme (Silbereisen/ Kastner 1987) ➤ Ersatzziel ➤ Stress- und Gefühlsbewältigung (Notfallreaktion) Geschlechtsrollenidentität; veränderter Körper (Raithel 2005) ➤ Stilisierung der Geschlechtsrolle Tab. 5: Entwicklungsaufgaben und Funktionen des Risiko-/ Problemverhaltens (Erweiterung von Silbereisen/ Reese 2001) Person ➤ Persönlichkeitseigenschaften ➤ Mentalität/ Werte ➤ Bildung/ Milieu ➤ Geschlecht Motivation Situation Gelegenheitsstruktur Bewertung z. B. hohe Selbstwirksamkeit Risikoverhalten Gewinn ➤ Individuation ➤ Integration Abb. 2: Verhaltenstheoretisches Kreislaufmodell der Aufrechterhaltung des Risikoverhaltens 249 uj 6 | 2016 Risikoverhalten von Jugendlichen An dem Beispiel Rauchen sei das Modell illustriert. Der Jugendliche will Anschluss zu einer für ihn attraktiv bewerteten Peergroup finden, mit dem Ziel Zugehörigkeit und Integration. Da diese in der aktuellen Situation Zigarette rauchen, kann er am leichtesten über den Zigarettenkonsum Anschluss erhalten. Wenn er nun davon ausgeht, dass ihm die Zigarette nicht direkt Schaden wird (Bewertungsprozess), so wird er fragen, ob er auch eine Zigarette mitrauchen kann. So kommt er mit den Jugendlichen über die gemeinsame Aktivität ins Gespräch und eine Gemeinsamkeit entsteht. War der Anschluss für den Jugendlichen erfolgreich, so wird er gewiss beim nächsten Treffen wieder eine Zigarette mit den anderen Jugendlichen rauchen und somit wird das praktizierte Risikoverhalten aufrechterhalten. Handlungspraktische Anregungen für die Kinder- und Jugendhilfe Ausgehend von der Polyfunktionalität des jugendlichen Risikoverhaltens sollten Jugendliche rechtzeitig lernen, Risiken richtig einzuschätzen und Gefahrensituationen zu vermeiden oder zu bewältigen (Risikokompetenz), ohne dass allerdings Risikoverhalten „verteufelt“ wird. Natürlich gilt es in sozialpädagogischer Absicht auch immer die Lebensverhältnisse zu fokussieren und sich um eine verhältnisorientierte Verbesserung auf sozialstruktureller Ebene einzusetzen. Doch sind das sozialpolitische Aufgaben, worauf hier nicht näher eingegangen werden kann. Ausführungen zum Lebensweisenansatz im Rahmen einer „sozialpädagogischen Gesundheitsförderung“ finden sich bei Raithel (2005a). Auf der Verhaltensebene können 3 Zielbereiche benannt werden: ➤ Lebens- und Risikokompetenzförderung, ➤ Förderung des Gesundheits-/ Risikobewusstseins und ➤ Motivation zum gesundheitsförderlichen resp. risikosensiblen Verhalten. Bei der Lebens- und Risikokompetenzförderung geht es um die Befähigung zu einer selbstbestimmten Lebensweise. Die Kompetenz zum „Nein-Sagen“ ist als eine Aufgabe anzusehen. Allerdings ist die häufige pauschale Forderung nach „Selbstwirksamkeitstrainings“ als nicht unproblematisch zu sehen, wie weiter vorne ausgeführt wurde. Hier ist eine differenzierende Arbeit dringlich nötig. Somit bedarf die Propagierung eines Selbstwirksamkeitstrainings besonderer Vorsicht und entsprechende Trainings müssen den Aspekt der Risikobereitschaft im besonderen Maße berücksichtigen. Zur Kompetenzförderung gehört auch, dass der Jugendliche die Fähigkeit zur Kompensation von Enttäuschungen und subjektiven Schwächen entwickelt. Hier ist die Gefahr, dass beispielsweise der Substanz- oder Tabakkonsum oft zur Integration „(miss)braucht“ wird. Hier muss dem Jugendlichen das entsprechende Bewusstsein vermittelt werden und zur Umsetzung dieses Bewusstseins bedarf es der entsprechenden Kompetenz. Damit das aber überhaupt für den Jugendlichen reizvoll wird, muss eine entsprechende Motivation grundgelegt sein bzw. werden. Es gilt Angebote funktionaler Äquivalente zu offerieren, wodurch Jugendliche animiert werden, sich mit Risikokompetenz bzw. Substanzmittel- Kompetenz (vgl. Franzkowiak 1996; 1998) auseinanderzusetzen und auf der entwicklungsfunktionalen Seite des Risikoverhaltens zu bleiben (vgl. Raithel 2007). Wenn der Suchtmittelkonsum die Funktion zur schulischen und familiären Belastungskompensation übernimmt, besteht die Gefahr der Entwicklung eines missbräuchlichen Konsumverhaltens. Wenn das Substanzmittel alle anderen Kompensations- 250 uj 6 | 2016 Risikoverhalten von Jugendlichen strategien verdrängt und die Überhand gewinnt, ist die Grenze vom riskanten Konsum zum Abusus überschritten. Durch frühzeitige Angebote, die entwicklungs-, kompetenz- und ressourcenfördernd ausgerichtet sind, kann diese Grenze als Barriere von pädagogischer Seite gestärkt werden. Prof. Dr. Dr. Jürgen Raithel Zentrum für Kindheits- und Jugendforschung an der Universität Bielefeld Psychologischer Gutachter und Therapeut in eigener Praxis E-Mail: info@psygut.org Literatur Baur, J./ Miethling, W.-D. (1991): Die Körperkarriere im Lebenslauf. Zur Entwicklung des Körperverständnisses im Jugendalter. Zeitschrift für Sozialisationsforschung und Erziehungssoziologie, 11, 165 - 188 Bilden, H. (1991): Geschlechtsspezifische Sozialisation. In: Hurrelmann, K./ Ullich, D. (Hrsg.): Neues Handbuch der Sozialisationsforschung. Beltz, Weinheim, 279 - 301 Dreher, E./ Dreher, M. 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