unsere jugend
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Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/uj2016.art39d
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Zur Diskussion: Normalität leben
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Maria Kurz-Adam
Neben der Schule gehört die Kinder- und Jugendpsychiatrie zu den wichtigsten Kooperationspartnern der Kinder- und Jugendhilfe. In den Erziehungshilfen ist dies an den Gründen für den Bedarf der Hilfe abzulesen. Schulprobleme und psychische Probleme sind seit langer Zeit fester Bestandteil der Liste der Unterbringungsgründe für Kinder und Jugendliche in die stationären Hilfen. Bei Kindern mit seelischer Behinderung, die nach § 35 a des Kinder- und Jugendhilfegesetzes stationär untergebracht werden, ist die Verschränkung von seelischen Problemen und Schulproblemen geradezu die zweite Natur ihrer Lebenslage.
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280 unsere jugend, 68. Jg., S. 280 - 283 (2016) DOI 10.2378/ uj2016.art39d © Ernst Reinhardt Verlag München Basel von Dr. Maria Kurz-Adam derzeit Vertretungsprofessorin Sozialwirtschaft/ Soziale Ökonomie an der Fachhochschule Kiel Zur Diskussion: Normalität leben Anmerkungen zum gegenwärtigen Verhältnis von Jugendhilfe und Psychiatrie Neben der Schule gehört die Kinder- und Jugendpsychiatrie zu den wichtigsten Kooperationspartnern der Kinder- und Jugendhilfe. In den Erziehungshilfen ist dies an den Gründen für den Bedarf der Hilfe abzulesen. Schulprobleme und psychische Probleme sind seit langer Zeit fester Bestandteil der Liste der Unterbringungsgründe für Kinder und Jugendliche in die stationären Hilfen. Bei Kindern mit seelischer Behinderung, die nach § 35 a des Kinder- und Jugendhilfegesetzes stationär untergebracht werden, ist die Verschränkung von seelischen Problemen und Schulproblemen geradezu die zweite Natur ihrer Lebenslage. Aufmerksamkeitshyperaktivitätsstörungen, Essstörungen, suizidale Phasen, Depressionen gehen einher mit Schulproblemen, Schulversagen, Schulverweigerung. Die Schule selbst bewältigt diese Verschränkung nicht allein. Die Eltern wollen individuelle Hilfe für ihr Kind, um dem Scheitern einer Biografie vorzubeugen. Die Psychiatrie sucht nach längerfristiger Hilfe. Die Kinder- und Jugendhilfe ist der Ort, die für diese Problemlagen eintritt, hier ist der Rechtsanspruch auf Eingliederungshilfe festgeschrieben, hier beginnt das Hilfegeschehen im Zusammenwirken mit der Kinder- und Jugendpsychiatrie. Grenzen und Verantwortung Für eine Eingliederungshilfe der Kinder- und Jugendhilfe ist eine psychologische und/ oder kinder- und jugendpsychiatrische Begutachtung erforderlich; sie stellt fest, ob eine „Teilhabebeeinträchtigung“ vorliegt, die dazu führt, dass die seelische Behinderung oder das Drohen einer solchen Behinderung andauert und damit die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist. Diese gesetzliche Vorgabe allein begründet schon die intensive Zusammenarbeit zwischen Jugendhilfe und Psychiatrie. Das Verhältnis zwischen den beiden Hilfesystemen war immer von Fragen der Zuständigkeit, von Definitionsmacht der Professionen, von Fragen des Vorrangs der Sichtweisen oder des professionellen Könnens bestimmt. Verschiebungsszenarien, Zuständigkeitsdebatten und Abgrenzungsdiskurse haben vielfach das Handeln der Systeme geleitet. Im Hintergrund war und ist das Rauschen der ökonomischen Interessen zu hören - die Frage, wer die Hilfe bezahlt, ist oft eng verschränkt mit der Frage der Definitionsmacht der Professionen. 281 uj 6 | 2016 Zur Diskussion: Normalität leben Das Gleichgewicht zwischen psychiatrischer Diagnostik und sozialpädagogischem Können ist auch heute immer wieder fragil. Die Kinder- und Jugendhilfe sucht die Eigenständigkeit ihrer Professionalität zu wahren, die sie im Erziehungsgedanken und seinen lebensweltlichen Bezügen einfasst. Die Kinder- und Jugendpsychiatrie stellt die Diagnose und fordert mit ihren Mitteln die Notwendigkeit der Kinder- und Jugendhilfe, die diese Forderung als unzulässige Bemächtigung ihres Tuns und ihres Könnens zurückweist. Unbestritten aber ist, dass beide Systeme in der Hilfe für seelische behinderte Kinder aufeinander angewiesen sind. Die Jugendhilfe ist auf die Expertise der Psychiatrie angewiesen, um wirkungsvoll helfen zu können, die Psychiatrie ist auf die Jugendhilfe angewiesen, um Kindern eine lebensweltorientierte Hilfe zu ermöglichen. Die Kinder- und Jugendpsychiatrie ist Partner der Jugendhilfe, Möglichkeit und Engstelle im Hilfegeschehen zugleich. Ohne ihre Diagnose ist Eingliederungshilfe nicht zugänglich. Diese untrennbare Verbindung von Ermöglichung und Engstelle gilt gerade für das Handeln der Jugendämter bei der Hilfe für die „Schwierigsten“, die psychisch extrem belasteten Kinder und Jugendlichen. Sie finden erst mit einer ICD-10-Diagnose Zugänge zu den intensiven Maßnahmen der Kinder- und Jugendhilfe, alleine kann die Kinder- und Jugendhilfe hier kaum oder nur als sehr begrenzte Krisenhilfe handeln. Zugleich klagt die Kinder- und Jugendpsychiatrie über eine zunehmende Überlastung in ihren Belegungszahlen; sie fordert mehr Verantwortung der Kinder- und Jugendhilfe, mehr Angebotsvielfalt, offenere Zugänge in deren Hilfen. Dieses Aufeinander-Angewiesen-Sein hat in den letzten Jahren dazu geführt, dass die Kooperation zwischen Jugendhilfe und Psychiatrie zunehmend realistischer geworden ist - statt um Abgrenzungen zu ringen und Fragen des Vorrangs der Sichtweisen bis zur Ermüdung der Beteiligten vorzutragen, herrscht heute zumeist das Paradigma der „Verantwortungsgemeinschaft für das Kind“ vor. Dahinter steht nicht allein die Achtung und - vielleicht auch - eine Versöhnung unterschiedlicher Sichtweisen im Sinne der Verantwortung für das Kind; mehr noch finden sich auch Lösungen, die eine Verschränkung unterschiedlicher Finanzierungssysteme ermöglichen. Mischfinanzierungen, wie etwa die psychiatrischen Leistungen in stationären Hilfen der Jugendhilfe, die im Krankenversicherungssystem abgerechnet werden, sind vielfach schon Standard. Therapeutische Leistungen - etwa in Wohngruppen für Kinder- und Jugendliche mit Essstörungen, die neben den pädagogischen Hilfen weiterer therapeutischer Begleitung bedürfen, gehören zum Profil einer Jugendhilfe, die die Fachlichkeit der Psychiatrie schätzt und in ihre Angebotsstruktur aufnimmt. Doch bleiben Fragen offen. Mit dieser zunehmenden gemeinsamen Verantwortung hat sich in der Kinder- und Jugendhilfe zugleich eine enorme Spezialisierung im Bereich der Angebote für Kinder mit seelischer Behinderung herausgebildet, die das Handeln der Eingliederungshilfen gerade im stationären Bereich wesentlich definiert. Das therapeutisch-heilpädagogische Heim hat die lebensweltorientierte sozialpädagogische Einrichtung, die sich als offener Lebensort für Kinder versteht, weitgehend abgelöst. In den Entgeltverhandlungen der Kinder- und Jugendhilfe gibt es kaum mehr eine Einrichtung, die sich ohne therapeutisches Profil präsentiert. Hochspezialisierte Einrichtungen an der Schnittstelle von Jugendhilfe und Psychiatrie haben heute Hochkonjunktur. Borderline-Gruppen, Spezialeinrichtungen für sexuell auffällige Kinder und Jugendliche, Wohngruppen für junge Care-Leaver mit psychiatrischer Vorgeschichte, traumatherapeutische Einrichtungen kennzeichnen das Tableau dieses Angebotsmarktes. Es scheint so, als habe sich über die Brücke der gemeinsamen Verantwortung der psychotherapeutisch-psychiatrische Blick in der Kinder- und Jugendhilfe allmählich festgesetzt 282 uj 6 | 2016 Zur Diskussion: Normalität leben und eine neue, subtilere Definitionsmacht in ihrem eigenen Handlungsfeld entwickelt. Aus dem sozialpädagogischen Blick wird der Blick der klinischen Sozialarbeit - ein Begriff, mit dem eigentlich schon alles gesagt ist, was diese Übernahme klinischer Sichtweisen in der Sozialpädagogik verändert hat. In der Konzentration, die die Kinder- und Jugendhilfe gerade in den Erziehungshilfen auf den Einzelfall vornimmt, scheint der klinische Blick der psychiatrischen Diagnostik zunehmend das traditionsreiche Land der Sozialen Hilfe zu erobern. Kinder der Moderne Seelisch behinderte Kinder sind die Kinder der Moderne in der Jugendhilfe. Ihre Diagnosen machen sie zu einer eigenen, neuen Gruppe, die die „verwahrlosten“ Kinder von einst abgelöst hat. In der Modernisierung Sozialer Hilfen haben sich die Unterbringungsgründe für Kinder in den stationären Hilfen von der objektiven Gefährdung ihrer Lebenslage zur subjektiven Gefährdung verschoben. Die objektive Gefährdung - Elternlosigkeit, Mangel in der Erfüllung der Grundbedürfnisse, Unterversorgung des Kindes - die einmal Hauptgrund für die Unterbringung in der stationären Hilfe war, ist in der Individualisierung der Moderne der subjektiven Gefährdung gewichen. Die Chance oder auch das Risiko einer Unterbringung in der stationären Hilfe liegt heute im Ich des Kindes - psychische und damit verbundene soziale Auffälligkeiten sind die Hauptgründe der Unterbringung. Diese Verschiebung wird heute umso sichtbarer durch die wachsende Flucht nach Europa. Heute wird deutlich, dass die Lebenslage einer elementaren Unterversorgung, wie sie die jungen Geflüchteten mit sich bringen, in der Heimerziehung fast wie eine neue, unbekannte Herausforderung wirkt, als sei diese Lebenslage in der Geschichte dieser Hilfe nahezu vergessen. Diese Verschiebung in das Innere der Kinder, die die Hilfe auslöst, ist Gewinn und Verlust in der Moderne zugleich. Sie ist Gewinn, weil sie auch der inneren Welt der Kinder eine Stimme verleiht und diese Welt achtet und ernst nimmt. Sie ist Verlust, weil sie der äußeren Welt mittlerweile vielleicht zu wenig Beachtung schenkt. Diese äußere Welt ist der Alltag des Zusammenlebens, die „alltägliche Besorgung“, von der Johann Heinrich Pestalozzi in seinen Schriften geschrieben hat. Nur wenn diese „alltägliche Besorgung“ stattfindet, kann Erziehung möglich sein und eine Quelle für die Zukunft sein. Aber wenn die ICD-10-Diagnose das Geschehen vor allem anderen bestimmt, tritt der Erziehungsgedanke, der sich substanziell an einem gelingenden Alltag orientiert, zurück hinter dem Gedanken einer Reparatur des Ichs. Und solange dieses Ich dieser Reparatur bedarf, muss es geschützt werden, in der Heimerziehung, in der teilstationären Hilfe, in der Eingliederungshilfe. Das ist die andere Seite des „Schutzraums“, der von den Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe als Qualitätsmerkmal beschrieben wird. Die Kinder der Moderne, versehen mit der Diagnose, müssen vor sich selbst geschützt werden, um auf diese Weise wieder in die soziale Welt entlassen, eingegliedert zu werden. Der Alltag entgleitet. Die psychische Störung, die seelische Behinderung, die Drohung der seelischen Behinderung, sind die Sprachformen der Moderne, mit der eine Grenze gezogen wird zwischen denen, die vor der äußeren Welt geschützt werden müssen, und denen, die in der äußeren Welt des Aufwachsens ihren Platz haben, weil sie diese aushalten. Jenseits der Diagnose „Man kann nichts aufzeigen, was in all den Bildern, die wir heute Schizophrenie heißen, als Gemeinsames wiederkehrt.“ Der berühmte Psychiater Kurt Schneider hat diesen Satz in 283 uj 6 | 2016 Zur Diskussion: Normalität leben seinem Lehrbuch zur Klinischen Psychopathologie aufgeschrieben. Es ist ein Satz, der die Macht der Diagnose und ihrer Eindeutigkeit begrenzt. Ganz in der hermeneutischen Tradition trifft Kurt Schneider eine Differenz. Sie besteht zwischen dem Nennen und dem, was ist. In dieser Differenz, die im schönen Wort des „Heißens“ aufscheint, entfaltet sich ein Raum. Das hat die Psychiatrie selbst gesehen, das macht sie zu einer Wissenschaft und einer Profession, der nicht allein die Diagnosefähigkeit, sondern mehr noch die Erkenntnis ihrer Grenzen zu verdanken ist. In diesem Raum findet anderes statt: die Einzigartigkeit dieses Menschen vielleicht, der von der Diagnose nie ganz erfasst wird, die Möglichkeit zu leben, jenseits der Diagnose, die Möglichkeit zu denken, jenseits der Diagnose. In diesem Raum könnte heute die Soziale Arbeit wieder geschehen, wenn sie sich aus dem Sog der Spezialisierung löst und sich dem Menschen zuwendet, der in diesem Raum ist. Dort begegnet sie den Kindern, den Jugendlichen mit einer seelischen Behinderung auf ihre Weise. Denn die Eindeutigkeit der Diagnose ist nur scheinbar, und vor allem ist sie nur ein Heißen, ein Begriff. Daneben gibt es ein Leben außerhalb der Diagnose, tägliches Tun, Essen und Trinken, Schreiben und Lesen, Lernen und Spielen, Schlafen und Wachen, Glück und Unglück, Gelingen und Scheitern. Der Alltag dieses Tuns ist keine Nebensache. Er ist Zeugnis dafür, dass die Diagnose nicht über alles Macht gewinnt, nicht alle Handlungsabläufe professioneller Hilfe definiert, dass die Spezialisierungsmaschine nicht immer weiter läuft. Zwischen dem Nennen, und dem, was ist, ist die Arbeit der Erziehung im Alltag angesiedelt, die alltägliche Besorgnis, damit überhaupt Veränderung und Teilhabe geschehen kann. In diesem Raum ist die Normalität in all ihrer Vielfalt zu finden. Die moderne Psychiatrie ist sich, wenn sie sich an ihre Tradition erinnert, an Kurt Schneider, an Karl Jaspers, dieser Differenz zwischen Sprache und Wirklichkeit bewusst. In dieser Differenz achtet sie den Menschen und seine Einzigartigkeit. Die Wörter der Diagnose sind Bilder von der Welt, nicht die Welt selbst. Und in dieser Welt selbst kann die Soziale Arbeit mit Kindern und Jugendlichen ihr eigenes Geschehen, ihr eigenes Können entfalten. Dort kann sie sich selbstbewusst, als eigene Profession, erfinden. Dort geschieht das, was Martha Nussbaum in der Tradition von Aristoteles als die Möglichkeit des guten Lebens bezeichnet hat. In der großen, vielfältigen Normalität der Welt, wie sie ist, kann die Soziale Arbeit in der Kinder- und Jugendhilfe die Möglichkeit eines guten Lebens auf den Weg bringen, zusammen mit den Kindern und Jugendlichen, die ihr anvertraut sind. In der Normalität leben lernen ist nicht mehr, aber auch nicht weniger, was das gute Leben in der Arbeit in der Kinder- und Jugendhilfe sein könnte, ein Schritt zu einer selbstständigen Lebensführung, ob mit oder ohne Diagnose. Darin können sich Jugendhilfe und Psychiatrie voller Wertschätzung heute treffen, in diesem Verständnis finden sie zueinander. Dr. Maria Kurz-Adam maria.kurz-adam@fh-kiel.de
