unsere jugend
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0342-5258
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/uj2016.art41d
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2016
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Kindeswohlgefährdung im Spiegel der amtlichen Statistik
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Barbara Seidenstücker
Markus Weymann
In Fällen von Kindeswohlgefährdung sind die Fachkräfte an den Jugendämtern sowie die RichterInnen an den Familiengerichten die zentralen Akteure, welche den Schutz von Kindern und Jugendlichen sicherzustellen haben. Das im Beitrag dargestellte Projekt beschäftigt sich mit Fragen des Kindeswohls in diesem Spannungsfeld und legt erste Ergebnisse aus der sekundärstatistischen Analyse vor.
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290 unsere jugend, 68. Jg., S. 290 - 301 (2016) DOI 10.2378/ uj2016.art41d © Ernst Reinhardt Verlag München Basel Kindeswohlgefährdung im Spiegel der amtlichen Statistik Entwicklungen und regionale Vergleiche In Fällen von Kindeswohlgefährdung sind die Fachkräfte an den Jugendämtern sowie die RichterInnen an den Familiengerichten die zentralen Akteure, welche den Schutz von Kindern und Jugendlichen sicherzustellen haben. Das im Beitrag dargestellte Projekt beschäftigt sich mit Fragen des Kindeswohls in diesem Spannungsfeld und legt erste Ergebnisse aus der sekundärstatistischen Analyse vor. von Prof. Dr. phil. Barbara Seidenstücker Diplom-Pädagogin, Professorin für Soziale Arbeit an der Ostbayerischen Technischen Hochschule Regensburg Das vom BMFSFJ geförderte Forschungsprojekt „Kindeswohl zwischen Jugendhilfe und Justiz“ der TU Berlin, der FH Münster und der Hochschule Regensburg ist im Spannungsfeld der Zusammenarbeit von Jugendhilfe und Justiz angesiedelt und knüpft als interdisziplinäres Projekt thematisch an zwei ältere Projekte zum gleichen Thema an (Simitis et al. 1979; Münder/ Mutke/ Schone 2000). Seitdem haben sich bekanntermaßen die gesetzlichen Grundlagen zum Kinderschutz sowohl im Familienals auch im Kinder- und Jugendhilferecht erheblich weiterentwickelt und spezifiziert und damit auch das fachliche Handeln sowie Art, Inhalt und Intensität der Zusammenarbeit von Jugendämtern und Familiengerichten. Vor diesem Hintergrund nimmt das Projekt eine erneute Bestandsaufnahme über sozialpädagogische und juristische Verfahren zur Sicherung des Kindeswohls zwischen Jugendämtern und Familiengerichten vor. Untersucht wird ➤ das jeweilige fachliche Handeln der Institutionen Jugendamt und Familiengericht unter den neuen gesetzlichen Voraussetzungen, ➤ das Kooperationsverständnis beider Institutionen ➤ sowie die Frage, ob sich Hinweise darauf finden, dass die gesetzlichen Neuerungen einen Beitrag dazu leisten, Verfahren nach § 1666 BGB für Kinder, Jugendliche und Eltern transparenter und effektiver zu gestalten als vor 15 bzw. 35 Jahren. Markus Weymann Student der Sozialen Arbeit an der Ostbayerischen Technischen Hochschule Regensburg, Studentische Hilfskraft im Forschungsprojekt „Kindeswohl zwischen Jugendhilfe und Justiz“ 291 uj 7+8 | 2016 Kindeswohlgefährdung im Spiegel der amtlichen Statistik Forschungsmethodisch werden dazu in bundesweit 20 Kommunen an Jugendämtern und Familiengerichten sowie mit Verfahrensbeiständen qualitative Interviews geführt, eine statistische Einzelfallauswertung vorgenommen, qualitative Interviews mit betroffenen Eltern und Jugendlichen sowie eine Analyse der amtlichen Statistik durchgeführt. In die sekundäranalytische statistische Analyse, über deren Befunde in diesem Beitrag berichtet wird, gingen folgende Datenquellen ein: ➤ Statistiken der Kinder- und Jugendhilfe: Pflegschaften, Vormundschaften, Beistandschaften, Pflegeerlaubnis, Sorgerechtsentzug, Sorgeerklärungen (2014) ➤ Statistiken der Kinder- und Jugendhilfe: Vorläufige Schutzmaßnahmen (2014) ➤ Statistiken der Kinder- und Jugendhilfe: Gefährdungseinschätzungen nach § 8 a Absatz 1 SGB VIII (2014) ➤ Daten der statistischen Landesämter zu Pflegschaften, Vormundschaften, Beistandschaften, Pflegeerlaubnis, Sorgerechtsentzug, Sorgeerklärungen (2014) Was die Daten der Kinder- und Jugendhilfestatistik betrifft, muss zunächst angemerkt werden, dass sich seit dem Berichtsjahr 2012 teils gravierende Änderungen ergeben haben und sich einige Daten seitdem nicht mehr in Zeitreihen weiterführen lassen. So werden seit dem Berichtsjahr 2012 in der Statistik zu Pflegschaften, Vormundschaften etc. nicht mehr die Anrufungen des Familiengerichts zum vollständigen oder teilweisen Entzug der elterlichen Sorge erfasst. Stattdessen werden dort seit 2012 die Maßnahmen des Familiengerichts aufgrund einer Gefährdung des Kindeswohls gem. § 1666 BGB Abs. 3 aufgeführt. Anrufungen des Familiengerichts sind seit 2012 ausschließlich in der Statistik zum § 8 a SGB VIII zu finden, lassen sich aber nicht mit den zuvor erfassten Anrufungen vergleichen, da in der § 8 a-Statistik nur Anrufungen des Familiengerichts durch das Jugendamt erfasst werden, die unmittelbar auf eine Gefährdungseinschätzung erfolgen. Andererseits stehen seit 2012 besonders im Bereich des Kinderschutzes deutlich ausführlichere Daten zur Verfügung, die künftig eine sehr viel bessere Interpretationsgrundlage bieten als vor 2012. Zum Handeln der Jugendhilfe in Kindeswohlgefährdungsfällen - Inobhutnahmen im Spiegel der Statistik Im Bereich des Kinderschutzes spielt die Möglichkeit der Inobhutnahme eine zentrale Rolle: Es ist die einzige Interventionsform, die es der Kinder- und Jugendhilfe ermöglicht, Kinder oder Jugendliche (auch) gegen den Willen ihrer Eltern in Schutz zu nehmen bzw. (vorübergehend) andernorts unterzubringen. Dies ist dann möglich, • wenn entweder ein Kind oder ein/ e Jugendliche/ r um Obhut bittet • oder wenn eine dringende Gefahr für das Wohl des Kindes oder des Jugendlichen die Inobhutnahme erfordert und die Personensorgeberechtigten nicht widersprechen oder eine familiengerichtliche Entscheidung nicht rechtzeitig eingeholt werden kann, • oder ein ausländisches Kind oder ein ausländischer Jugendlicher unbegleitet nach Deutschland kommt und sich weder Personensorgenoch Erziehungsberechtigte im Inland aufhalten (§ 42 SGB VIII). In Deutschland wurden im Jahr 2014 48.059 junge Menschen in Obhut genommen, davon waren 57 % Jungen und 43 % Mädchen. Die überwiegende Mehrzahl der Minderjährigen waren zum Zeitpunkt der Inobhutnahme jugendlich: Rund 3/ 4 aller in Obhut genommenen jungen Menschen waren bereits 12 Jahre und älter, rund 38 % sogar älter als 16 Jahre (vgl. Abb. 1). 292 uj 7+8 | 2016 Kindeswohlgefährdung im Spiegel der amtlichen Statistik Angeregt wurde die Maßnahme in fast jedem vierten Fall (23,8 %) von dem jungen Menschen selbst, in 8,3 % von den Eltern und in 18,7 % von der Polizei. In den weitaus meisten Fällen, nämlich in 44,3 %, wurden Inobhutnahmen aber vom Jugendamt bzw. anderen Sozialen Diensten, nur äußerst selten (in je unter 1 % der Fälle) von LehrerInnen/ ErzieherInnen, ÄrztInnen oder NachbarInnen angeregt. Die Anzahl der Inobhutnahmen ist seit 1995 deutlich angestiegen (vgl. Abb. 2). Auffällig ist allerdings, dass bezogen auf die Gesamtzahl der Schutzmaßnahmen bis 1997 ein recht deutlicher Anstieg zu verzeichnen ist, die Werte bis 2001 etwa konstant bleiben, in den Folgejahren sogar fallen, um ab 2006 kontinuierlich zu steigen und nun im Jahr 2014 auf einem (vorläufigen) Höchststand zu verweilen. Zumindest seit 40 % 30 % 20 % 10 % 0 % 8,9 % 5,2 % 4,8 % 6,4 % 11,2 % 25,9 % 37,6 % 0 - 3 Jahre 3 - 6 Jahre 6 - 9 Jahre 9 - 12 Jahre 12 - 14 Jahre 14 - 16 Jahre 16 - 18Jahre Abb. 1: Alter der Minderjährigen zum Zeitpunkt der Inobhutnahme (2014) Quelle: Eigene Darstellung nach Daten des Statistischen Bundesamtes (2015): Statistiken der Kinder- und Jugendhilfe. Vorläufige Schutzmaßnahmen 2014, Tab. 1 40 35 30 25 20 15 10 5 0 14,7 36,7 20,2 5,4 1995 1996 1997 1998 1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014 vorläufige Schutzmaßnahmen je 10.000 Mj. vorläufige Schutzmaßnahmen je 10.000 unter 3-Jährige Abb. 2: Vorläufige Schutzmaßnahmen je 10.000 Minderjährige im Zeitraum 1995 bis 2014 Quelle: Eigene Darstellung nach Daten des Statistischen Bundesamtes (2015): Statistiken der Kinder- und Jugendhilfe. Vorläufige Schutzmaßnahmen 2014, ZR1. 293 uj 7+8 | 2016 Kindeswohlgefährdung im Spiegel der amtlichen Statistik dem Jahr 1995 wurden in Deutschland niemals so viele Minderjährige in Obhut genommen wie im letzten Veröffentlichungsjahr 2014. Von den Gesamtzahlen her haben sich die Inobhutnahmen zwischen 1995 und 2014 etwa verdoppelt, bezogen auf die Anzahl der Minderjährigen ist sogar eine 2 ½fache Steigerung erkennbar. Auffällig ist, dass sich die Schutzmaßnahmen für unter 3-Jährige, die ja quantitativ nur etwa 9 % aller Fälle ausmachen, besonders deutlich erhöht haben. Insbesondere seit dem Jahr 2005 ist hier ein auffälliger Anstieg zu verzeichnen. Insgesamt haben sich die vorläufigen Schutzmaßnahmen für Kleinkinder seit 1995 damit vervierfacht. Diese kontinuierliche Zunahme der Schutzmaßnahmen beruht sicher zum einen auf einem Anstieg von Kindeswohlgefährdungsfällen (insbesondere was die Entwicklungen bei den unter 3-Jährigen betrifft), zugleich ist aber bereits im Jahr 2014 eine deutliche Steigerung der Zahlen der Inobhutnahmen von unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen zu erkennen. Im Berichtsjahr 2014 wurde für beinahe jede vierte Inobhutnahme (24,2 %) eine unbegleitete Einreise als Grund für die Inobhutnahme angegeben. Zum Vergleich: vor 10 Jahren, im Berichtsjahr 2004, waren dies noch 3,5 %. In Anbetracht der aktuellen Entwicklungen sind hier selbstredend noch eklatante Steigerungen zu erwarten. Quantitative Entwicklungen der Sorgerechtsentzüge im Spiegel des letzten Jahrhunderts Den aktuellen Veröffentlichungen des Statistischen Bundesamtes sind darüber hinaus Daten zu Anzeigen zum Entzug der elterlichen Sorge sowie zu gerichtlichen Maßnahmen zum vollständigen oder teilweisen Entzug der elterlichen Sorge seit dem Berichtsjahr 1991 zu entnehmen (vgl. Abb. 3). Zwischen den Jahren 1991 und 2004 schwanken sowohl die Anrufungen des Familiengerichts als auch die gerichtlichen Maßnahmen zum Entzug der elterlichen Sorge in einem relativ geringen Maße. In dieser Zeit ist sowohl bei den absoluten Zahlen der Entzüge als auch bei den Sorgerechtsentzügen pro 100.000 Min- 17000 15000 13000 11000 9000 7000 5000 8759 6998 9129 8477 9518 8413 7505 8985 8888 8104 8817 8686 9724 9572 10769 12752 12164 14906 16252 15924 12771 14370 15067 17029 1991 1992 1993 1994 1995 1996 1997 1998 1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014 Anzeigen zum Entzug der elterlichen Sorge Gerichtliche Maßnahmen zum Entzug der elterlichen Sorge Abb. 3: Anzeigen zum Entzug der elterlichen Sorge und gerichtliche Maßnahmen zum vollständigen oder teilweisen Entzug der elterlichen Sorge (1991 - 2014) Quelle: Eigene Darstellung nach Daten des Statistischen Bundesamtes (2015 a) 294 uj 7+8 | 2016 Kindeswohlgefährdung im Spiegel der amtlichen Statistik derjähriger zwar ein Anstieg zu verzeichnen, der jedoch verhältnismäßig gering ausfällt: Während im Jahr 1991 45 von 100.000 Minderjährigen von einem Sorgerechtsentzug betroffen waren, betraf dies im Jahr 2004 54 Minderjährige. Ab dem Jahr 2005 ist ein deutlicher und kontinuierlicher Anstieg sowohl der Anrufungen des Familiengerichts als auch der Maßnahmen zum vollständigen oder teilweisen Entzug der elterlichen Sorge zu verzeichnen. Dieser Trend setzt sich auch in den Berichtsjahren 2012 - 2014 fort. Lag die absolute Zahl von Sorgerechtsentzügen im Jahr 2004 noch bei 8.060, steigt sie bis 2014 auf insgesamt 17.029, hat sich also innerhalb eines Zeitraumes von 10 Jahren mehr als verdoppelt. Eine noch deutlichere Entwicklung zeigt sich bei der Betrachtung der relativen Zahlen: Waren im Jahr 2004 von 100.000 Minderjährigen 54 junge Menschen von sorgerechtlichen Maßnahmen betroffen, so waren dies 10 Jahre später mit 130 jungen Menschen etwa zweieinhalb Mal so viele. Familiengerichtliche Maßnahmen in den Jahren 2012 - 2014 Mit der Einführung des Gesetzes zur Erleichterung familiengerichtlicher Maßnahmen wurde im Jahr 2008 in erster Linie der § 1666 BGB geändert. Zum einen beschränkte sich die Neufassung aufseiten der tatbestandlichen Voraussetzungen nun darauf, dass die Eltern nicht gewillt oder nicht in der Lage sind, die Gefährdung abzuwenden, zum anderen wurde aufseiten der Rechtsfolgen ein umfassender Katalog eingefügt, der nunmehr mögliche familiengerichtliche Maßnahmen auflistet (z. B. Auferlegung der Inanspruchnahme von Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe, Aussprache von Geboten oder Verboten, Ersetzungen von Erklärungen …). Ziel dieser Neuregelung war es insbesondere, richterliche Interventionen vorzuverlagern: Das Gericht kann bzw. soll bereits angerufen werden, wenn gerichtliche Interventionen jenseits von Eingriffen ins elterliche Sorgerecht notwendig sind; es soll nicht so lange gewartet werden, bis nur noch ein Eingriff ins Sorgerecht in Betracht kommt. 2012 2013 2014 Auferlegung der Inanspruchnahme von Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe (§ 1666 Abs. 3 Nr. 1 BGB) 8.970 8.360 8.446 Aussprache von anderen Geboten oder Verboten gegenüber Personensorgeberechtigten oder Dritten (§ 1666 Abs. 3 Nr. 2 - 4 BGB) 3.355 3.337 3.678 Ersetzung von Erklärungen des/ der Personensorgeberechtigten (§ 1666 Abs. 3 Nr. 5 BGB) 2.102 1.534 1.598 Übertragung der elterlichen Sorge auf das Jugendamt oder einen Dritten als Vormund oder Pfleger (§ 1666 Abs. 3 Nr. 6 BGB) 14.370 15.067 17.029 davon: Vollständige Übertragung der elterlichen Sorge auf das Jugendamt oder einen Dritten als Vormund oder Pfleger (§ 1666 Abs. 3 Nr. 6 BGB) 6.795 7.071 8.497 Teilweise Übertragung der elterlichen Sorge auf das Jugendamt oder einen Dritten als Vormund oder Pfleger (§ 1666 Abs. 3 Nr. 6 BGB) 7.605 7.996 8.532 Maßnahmen des Familiengerichts (gesamt) 28.797 28.298 30.751 Tab. 1: Maßnahmen des Familiengerichts bei Gefährdungen des Kindeswohls (2012 - 2014) Quelle: Eigene Darstellung nach Daten des Statistischen Bundesamtes (2015 a) 295 uj 7+8 | 2016 Kindeswohlgefährdung im Spiegel der amtlichen Statistik 2014 beschlossen die Familiengerichte insgesamt30.751Maßnahmenwegen Kindeswohlgefährdungen (235,1 pro 100.000 Minderjähriger). Dabei fielen 17.029 Beschlüsse zum vollständigen oder teilweisen Entzug der elterlichen Sorge, wobei sie sich etwa gleich auf beide Alternativen aufteilen. Weitere 13.722 Entscheidungen fielen auf die 2008 neu in das BGB eingeführten Möglichkeiten, wobei die Auferlegung der Inanspruchnahme von Leistungen der Jugendhilfe mit Abstand am häufigsten genutzt wurde. So wird deutlich, dass neben den gerichtlichen Maßnahmen zum Entzug von Sorgerechten auch die Gesamtheit der gerichtlichen Maßnahmen der Familiengerichte in den letzten Jahren merklich steigt (2012 - 2014: 6,8 %). Überraschenderweise ergibt sich diese Steigerung aber nicht dadurch, dass etwa insbesondere die 2008 neu im § 1666 BGB aufgelisteten Maßnahmen in nennenswertem Umfang steigen würden. Ganz im Gegenteil bleibt ihr Anteil konstant bzw. sinkt zwischen 2012 und 2014 sogar. Deutlich steigen, wie Abb. 1 bereits im Längsschnitt darstellt, demgegenüber auch in den letzten Berichtsjahren weiterhin die Maßnahmen zum Entzug der elterlichen Sorge um beachtliche 18,5 %. Sie machten im Jahr 2014 55,4 % aller familiengerichtlichen Maßnahmen aus. Hier bleibt in den kommenden Jahren abzuwarten, wie sich die gerichtliche Entscheidungspraxis künftig entwickeln wird. Um diese Entwicklungen zu erklären, lohnt sich ein Blick auf die gesellschaftspolitischen, fachlichen wie auch gesetzgeberischen Entwicklungen der letzten Jahre. Die Entwicklungen sind mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht damit zu erklären, dass sich heute Gefährdungslagen von Kindern und Jugendlichen in ihren Familien eklatant von denen des Jahres 2004 unterscheiden, also deutlich ausgeprägter wären. Die statistischen Entwicklungen legen vielmehr nahe, dass sich im fachlichen Handeln der mit Kinderschutz befassten Professionen deutliche Änderungen ergeben haben. So sind in den letzten Jahren zahlreiche gesetzliche Änderungen auf Bundes- (hier insbesondere der 8 a SGB VIII) und Länderebene erfolgt, die allesamt zum Ziel hatten, den Schutz von Kindern zu verbessern, die diesbezüglichen Verfahren an Jugendämtern und an den Gerichten zu optimieren und insbesondere Personengruppen, die mit Minderjährigen von Berufs wegen zu tun haben (z. B. ErzieherInnen, SchulsozialarbeiterInnen, LehrerInnen, KinderärztInnen, Hebammen) für kindliche Gefährdungslagen zu sensibilisieren und deren Handlungssicherheit zu erhöhen. Zum anderen wurde in den letzten 10 Jahren in den Medien sehr ausführlich über mehrere tragische Fälle von in Obhut der Eltern getöteten Kindern berichtet, was, spätestens nach dem in Bremen getöteten Kevin, die Kanzlerin dazu veranlasste, Kinderschutz zur„Chefinnensache“ zu erklären und die Öffentlichkeit zu mehr Aufmerksamkeit gegenüber gefährdeten Kindern aufzurufen. Die erhöhte Meldebereitschaft, stringentere behördliche Verfahren und eine erhöhte Sensibilisierung der Fachkräfte - in deren Folge mitunter frühzeitiger Interventionen durch die Fachkräfte der Jugendämter eingeleitet werden -, könnten die Gründe dafür sein, dass sowohl die Anrufungen der Familiengerichte wie auch die gerichtlichen Maßnahmen in den letzten Jahren so deutliche Steigerungen erfuhren. Familiengerichtliche Maßnahmen auf Landes- und Kreisebene (Regionale Disparitäten) Die Bundesländer Ein Blick in die Ländertabellen der Kinder- und Jugendhilfestatistik des Statistischen Bundesamtes lässt - wenn auch erst nach einer Um- 296 uj 7+8 | 2016 Kindeswohlgefährdung im Spiegel der amtlichen Statistik rechnung auf die minderjährige Wohnbevölkerung der Bundesländer - durchaus Fragen offen. Es zeigt sich, dass sowohl bezogen auf die Anzahl der familiengerichtlichen Maßnahmen im Gesamten, wie auch bezogen auf die Zahl der erfolgten Eingriffe in elterliche Sorgerechte, zwischen den Bundesländern gravierende Disparitäten festzustellen sind: Im Durchschnitt waren im Jahr 2014 von 100.000 Minderjährigen 235 junge Menschen von einer familiengerichtlichen Maßnahme betroffen, davon 130 junge Menschen von einem Sorgerechtsentzug. Im Jahr 1994 betrug dieser Wert noch 49, was einer Zunahme von 165 % entspricht (Münder/ Mutke/ Schone 2000, 73). Besonders auffällig ist jedoch die Streuung, die sich innerhalb der einzelnen Bundesländer ergibt: Diese erstreckt sich von 113,8 gerichtlichen Maßnahmen in Mecklenburg-Vorpommern bis zu 519,3 Maßnahmen pro 100.000 Minderjährige in Bremen. In Bremen erfolgen in Relation zur Bevölkerung demzufolge etwa 4 ½-mal so viele gerichtliche Maßnahmen wie in Mecklenburg-Vorpommern. „Spitzenreiter“ bei den familiengerichtlichen Maßnahmen sind neben Bremen Berlin (490,5) und das Saarland (466,6). Am unteren Ende der Verteilung befinden sich Mecklenburg- Vorpommern, Baden-Württemberg (123,1) und Hessen (131,2). Vergleichbare Ergebnisse zeigen sich bei den vollständigen und teilweisen Sorgerechtsentzügen: Die Spannweite ist hier sogar noch höher als bei der Gesamtheit der Maßnahmen und beträgt das 6 ½-fache. Eine hohe Zahl an Bremen Berlin Saarland Hamburg Sachsen Nordrhein-Westfalen Thüringen Sachsen-Anhalt Rheinland-Pfalz Brandenburg Deutschland Schleswig-Holstein Bayern Niedersachsen Hessen Baden-Württemberg Mecklenburg-Vorpommern 0 100 200 300 400 500 600 243,7 519,3 490,5 274,1 466,6 343,1 366,3 195,9 344,6 169,1 292,1 159,0 281,1 157,1 280,5 167,7 251,5 134,9 238,9 119,4 235,1 130,2 206,3 89,5 197,7 125,0 174,4 100,1131,2 69,8 123,1 66,6 113,8 52,3 Maßnahmen gesamt Sorgerechtsentzüge Abb. 4: Familiengerichtliche Maßnahmen und Sorgerechtsentzüge pro 100.000 Minderjähriger (2014) nach Bundesländern Quelle: Eigene Darstellung nach Daten des Statistischen Bundesamtes (2015 a) 297 uj 7+8 | 2016 Kindeswohlgefährdung im Spiegel der amtlichen Statistik Sorgerechtsentzügen ist neben dem Saarland in Berlin und in Bremen zu verzeichnen, besonders geringe Werte weisen neben Mecklenburg-Vorpommern Baden-Württemberg und Hessen aus. Der Anteil von Übertragungen des Sorgerechts an allen Maßnahmen der Familiengerichte bei Gefährdung des Kindeswohls lag bundesweit bei 55,4 %. Die meisten Bundesländer liegen, bis auf wenige Ausnahmen, nur knapp über oder unter diesem Schnitt. Unter dem Durchschnitt liegen insbesondere Bremen (46,9 %), Mecklenburg-Vorpommern (46,0 %) und Schleswig-Holstein (43,4 %). Deutlich über dem Schnitt liegt neben Bayern (63,2 %) vor allem das Saarland mit einem Anteil von 73,5 % an allen familiengerichtlichen Maßnahmen. Die Kommunen Die Ergebnisse auf Länderebene deuten bereits auf große regionale Unterschiede im Handeln der Familiengerichte und Jugendämter hin. Mit dem Ziel, die Analyse zu vertiefen, wurden im Folgenden statistische Ergebnisse zu familiengerichtlichen Maßnahmen auf Kreisebene betrachtet. Dahinter liegt die Vermutung, dass die Anzahl der familiengerichtlichen Maßnahmen mit dem Ausmaß der soziostrukturellen Belastung der jeweiligen Kommune korrespondiert und demzufolge Städte/ Landkreise mit ausgeprägter soziostruktureller Belastung höhere Ausprägungen bei den familiengerichtlichen Maßnahmen haben müssten als weniger belastete. Gleichermaßen wäre zu erwarten, dass Kommunen mit vergleichbarer Soziostruktur auch vergleichbare Werte bei den familiengerichtlichen Maßnahmen aufweisen. Insofern wurden Städte und Landkreise betrachtet, die sich, bezogen auf die jeweilige Soziostruktur, möglichst ähnlich sind. Herange- Stadt/ Landkreis Einwohnerzahl (2014) ALG-II-Empfänger (2014) Anteil der Menschen mit Migrationshintergrund* Bevölkerungsentwicklung (2013) Maßnahmen des Familiengerichts pro 100.000 MJ Sorgerechtsentzüge pro 100.000 MJ Straubing Amberg 46.027 41.535 4,7 % 4,2 % 23,2 % 24,5 % +1,4 % +0,5 % 706,5 371,2 552,9 226,0 LK Höxter LK Olpe 142.770 134.759 3,4 % 3,0 % 17,5 % 17,7 % -0,2 % -0,1 % 146,1 303,9 138,0 168,8 LK Bamberg LK Neumarkt 144.695 128.975 1,2 % 1,1 % 8,1 % 10,7 % +0,6 % +0,7 % 119,6 178,0 35,9 106,8 Tab. 2: Beispielhafte Darstellung sozialstrukturell vergleichbarer Regionen und Maßnahmen des Familiengerichts (2014); Anteil der Menschen mit Migrationshintergrund*: Erhoben durch den Zensus 2011. Quelle: Eigene Darstellung nach Daten der statistischen Landesämter aus der Kinder- und Jugendhilfestatistik. 298 uj 7+8 | 2016 Kindeswohlgefährdung im Spiegel der amtlichen Statistik zogen wurden die Indikatoren Einwohnerzahl, Stadt/ Kreis, Anteil von ALG-II-EmpfängerInnen, Anteil von Menschen mit Migrationshintergrund an der Gesamtbevölkerung (Basis ist der Zensus 2011) und die Bevölkerungsentwicklung (2013). Exemplarisch wurde am Beispiel jeweils ähnlich strukturierter Kommunen daraufhin der Anteil der familiengerichtlichen Maßnahmen verglichen. Betrachtet man beispielsweise die Städte Straubing und Amberg (Bayern), so sind diese sozialstrukturell in Hinblick auf Einwohnerzahlen, den Anteil der ALG-II-EmpfängerInnen und dem Anteil von Menschen mit Migrationshintergrund (abgesehen von Unterschieden in der Bevölkerungsentwicklung) als weitgehend ähnlich zu bezeichnen. Deutlich wird aber, dass es gravierende Unterschiede gibt, was die Quote der familiengerichtlichen Maßnahmen angeht. Während in der Stadt Amberg im Jahr 2014 von 100.0000 Minderjährigen für 371 junge Menschen eine Maßnahme des Familiengerichts erfolgte, betraf dies in der Stadt Straubing 707 junge Menschen. Bezogen auf die im Jahr 2014 erfolgten Sorgerechtsentzüge erweist sich die Differenz noch deutlicher: In Amberg waren von 100.000 jungen Menschen 226 von einem Sorgerechtsentzug betroffen, in Straubing dagegen mehr als doppelt so viele: 553. Ähnliche Unterschiede lassen sich auch für andere - durchaus vergleichbare - Städte und Landkreise feststellen: In ähnlicher Weise zeigt sich dies für die Landkreise Bamberg und Neumarkt ebenso wie für die Landkreise Höxter und Olpe (NRW). Verfahren zur Einschätzung einer Kindeswohlgefährdung nach § 8 a SGB VIII Bundesweit wurden im Jahr 2014 124.213 Verfahren zur Einschätzung einer Kindeswohlgefährdung durchgeführt. Dabei ergab sich in 15 % der Fälle das Ergebnis „Akute Kindeswohlgefährdung“ und in 18 % der Fälle„Latente Kindeswohlgefährdung“ (vgl. Abb. 5). Für weitere 33 % der Gefährdungseinschätzungen ergab sich zwar keine Gefährdung, aber ein Hilfebedarf für die Kinder oder Jugendlichen. In 34 % der Fälle beinhaltete das Ergebnis der Gefährdungseinschätzung weder eine Gefährdung noch einen Hilfebedarf. Insgesamt besteht also für das Jugendamt durchschnittlich bei 2/ 3 aller Meldungen einer Kindeswohlgefährdung Handlungsbedarf. Die Verteilung der Gefährdungseinschätzungsergebnisse (1/ 3 Gefährdung, 1/ 3 keine Gefährdung aber Hilfebedarf, 1/ 3 keine Gefährdung und kein Hilfebedarf ) ist seit dem ersten Berichtsjahr (2012) in etwa gleich geblieben. Deutlich angestiegen sind jedoch die absoluten Fallzahlen (2012: 106.623; 2014: 124.213) sowie die Gefährdungseinschätzungen pro 100.000 Min- 34 % 15 % 18 % 33 % Akute Kindeswohlgefährdung Keine Gefährdung, aber Hilfebedarf Latente Kindeswohlgefährdung Keine Gefährdung, kein Hilfebedarf Abb. 5: Gefährdungseinschätzungen nach § 8 a SGB VIII nach Ergebnis der Einschätzung (2014) Quelle: Eigene Darstellung nach Daten des Statistischen Bundesamtes. Statistisches Bundesamt (2014): Statistiken der Kinder- und Jugendhilfe. Gefährdungseinschätzungen nach § 8 a Absatz 1 SGB VIII 2013, T1. Wiesbaden. 299 uj 7+8 | 2016 Kindeswohlgefährdung im Spiegel der amtlichen Statistik derjähriger (2012: 816,7; 2014: 949,6). Die Entwicklung der jüngeren Jahre geht hier also in eine ähnliche Richtung, wie sie bei den familiengerichtlichen Maßnahmen zu beobachten ist. Deutschlandweit wurden 2014 im Schnitt 949,6 Verfahren zur Einschätzung einer Kindeswohlgefährdung nach § 8 a SGB VIII pro 100.000 Minderjähriger durchgeführt. Zwischen den einzelnen Bundesländern schwankt auch dieser relative Wert erheblich. Während die Zahl in Baden-Württemberg (557,8), Hamburg (640,4) und Niedersachsen (688,4) vergleichsweise gering ist, kommen in Bremen auf 100.000 Minderjährige 2.336,7 „§ 8 a-Verfahren“, in Berlin 2.188,9 und in Mecklenburg-Vorpommern 1834,1. Ein erkennbarer Zusammenhang zwischen der Anzahl der Gefährdungseinschätzungen und der Anzahl der gerichtlichen Maßnahmen in den einzelnen Bundesländern lässt sich nicht erkennen. Überraschenderweise sind hier die Werte zum Teil sogar dezidiert gegenläufig: Mecklenburg-Vorpommern beispielsweise weist bundesweit die niedrigsten Werte bei den gerichtlichen Maßnahmen aus, hatte im Berichtsjahr 2014 aber deutlich überdurchschnittlich viele Gefährdungsmeldungen. In Hamburg hingegen stellt sich das Verhältnis Gefährdungsmeldungen und Anzahl der gerichtlichen Meldungen genau andersherum dar. Die Ergebnisseder Gefährdungseinschätzungen sind je nach Bundesland ebenfalls deutlich ungleich verteilt (vgl. Abb. 6). Der Anteil tatsächlicher Gefährdungen an den durchgeführten Einschätzungen variiert zwischen 19,6 % im Saarland und 55,6 % in Hamburg. Auch die Anteile der Meldungen, aus denen sich kein Hilfebedarf ableiten lässt, an allen Gefährdungseinschätzungen reichen von 20,9 % (Berlin) und 22,4 % (Hamburg) bis hin zu 42,1 % in Sachsen-Anhalt und 44,9 % im Saarland. Die erheblichen regionalen Differenzen in der Statistik lassen sich kaum monokausal erklären. Möglich wären tatsächlich unterschiedliche Gefährdungslagen in den einzelnen Bundesländern, denkbar wären eben- Hamburg: 1.801 Berlin: 11.772 Sachsen: 5.658 Bayern: 15.122 Schleswig-Holstein: 4.016 Rheinland-Pfalz: 6.433 Brandenburg: 6.258 Deutschland: 124.213 Baden-Württemberg: 10.136 Mecklenburg-Vorpommern: 4.207 Hessen: 8.262 Sachsen-Anhalt: 2.725 Thüringen: 3.296 Niedersachsen: 9.001 Nordrhein-Westfalen: 31.612 Bremen: 2.349 Saarland: 1.565 0 % 10 % 20 % 30 % 40 % 50 % 60 % 70 % 80 % 90 % 100 % 29,0 % 26,6 % 22,0 % 22,4 % 20,1 % 31,1 % 27,9 % 20,9 % 18,2 % 24,4 % 27,5 % 29,9 % 17,3 % 19,9 % 34,1 % 28,7 % 16,6 % 11,9 % 30,3 % 41,2 % 15,5 % 21,2 % 36,1 % 27,1 % 15,4 % 18,3 % 27,5 % 38,8 % 15,0 % 18,0 % 33,4 % 33,5 % 14,4 % 18,6 % 36,6 % 30,4 % 14,4 % 13,4 % 40,8 % 31,5 % 14,1 % 12,6 % 37,0 % 36,3 % 13,7 % 11,6 % 32,7 % 42,1 % 13,0 % 15,2 % 46,7 % 25,1 % 12,7 % 15,6 % 34,0 % 37,7 % 12,3 % 14,3 % 33,1 % 40,2 % 10,5 % 20,9 % 37,8 % 30,9 % 8,8 % 10,8 % 35,5 % 44,9 % Akute Gefährdung (in %) Latente Gefährdung (in %) Hilfebedarf (in %) kein Hilfebedarf (in %) Abb. 6: Ergebnisse der Gefährdungseinschätzungen nach § 8 a SGB VIII im Ländervergleich (2014) Quelle: Eigene Darstellung nach Daten des Statistischen Bundesamtes (2015 b) 300 uj 7+8 | 2016 Kindeswohlgefährdung im Spiegel der amtlichen Statistik falls Unterschiede im Meldeverhalten oder der Meldestruktur im Umfeld der Jugendämter in den jeweiligen Ländern. Zudem ist es wahrscheinlich, dass die relativ neu eingeführte Statistik noch mit Unsicherheiten behaftet und deshalb nur teilweise aussagekräftig ist (vgl. auch. Kaufhold/ Pothmann 2015, 10). Zusammenfassung und Ausblick Der Blick in die Statistiken der Kinder- und Jugendhilfe, der als erster Zugang zum Forschungsgegenstand dienen sollte, zeigt auch im Jahr 2014 (ähnlich wie vor 20 Jahren) gravierende Unterschiede zwischen Bundesländern und Kommunen bezogen auf die Anzahl der familiengerichtlichen Maßnahmen und die Anzahl der Gefährdungsmeldungen und -einschätzungen. Sozio-strukturell lassen sich die Unterschiede innerhalb der Bundesländer und zwischen den Kommunen schwerlich - zumindest nicht erschöpfend - erklären. Zwar rangieren die Stadtstaaten Bremen, Berlin und Hamburg mit ihren spezifischen großstädtischen Problemlagen, die sich von denen der Flächenländer deutlich unterscheiden, auf den vorderen Rängen der gerichtlichen Maßnahmen. Die sehr hohen Werte des ländlich strukturierten Saarlandes lassen sich demgegenüber aber ebenso wenig erklären, wie die äußerst niedrigen Werte aus Mecklenburg-Vorpommern, welches zwar ländlich strukturiert ist, aber sozialstrukturell durchaus stark belastet ist. Die extremen Schwankungsbreiten können vermutlich eher als Hinweis gedeutet werden, dass sich sowohl in der Praxis der einzelnen Jugendämter in ihrem Anzeigeverhalten als auch in der Entscheidungspraxis der Familiengerichte unterschiedliche Erledigungsstrategien abzeichnen, die eher lokalen - und offenbar durchaus unterschiedlichen - Kulturen wie auch verschiedenstem individuell-fachlichen Handeln und/ oder „Sicherheits“bedürfnissen geschuldet sind. Auch Pothmann (2015, 10) stellte im letzten Jahr fest: „Die sich hier nur andeutenden Differenzen familiengerichtlicher Praxis scheinen das schon beachtliche Ausmaß an Heterogenität in der Kinder- und Jugendhilfe im Allgemeinen und im Kinderschutz im Besonderen noch zu übertreffen.“ Bemerkenswerterweise haben sich die Unterschiede zwischen den einzelnen Bundesländern, was die Anzahl der gerichtlichen Maßnahmen betrifft, im Vergleich zum Jahr 1994 nicht etwa verringert, sie haben sich - ganz im Gegenteil - sogar noch deutlich vergrößert. Dies erstaunt insbesondere deshalb, weil in den letzten 20 Jahren zahlreiche gesetzliche Neuregelungen (mit teils sehr konkreten Handlungsaufträgen an Jugendhilfe und Justiz) eingeführt wurden, die durchaus dazu beitragen könnten, im Bereich des Kinderschutzes in den Institutionen einheitlichere Standards zu entwickeln - statistisch zeigt sich eine solche Annäherung allerdings bisher nicht. Insgesamt ist durchweg ein deutlicher quantitativer Anstieg zu beobachten, sowohl was die Anzahl der Inobhutnahmen, die Anzahl der Gefährdungseinschätzungen, die Anrufungen der Jugendämter und auch die gerichtlichen Maßnahmen betrifft. Seit 1991 stiegen die Sorgerechtsentzüge kontinuierlich an und waren noch nie so hoch wie heute - und das, obwohl die Familiengerichte durchaus auch andere Maßnahmen - jenseits des Eingriffs in Sorgerechte - verfügen. Die fachpolitische Intention und das Ziel des Gesetzgebers, mittels Stärkung der präventiven Angebote und durch einen frühzeitigeren Einbezug des Gerichts Sorgerechtsentzüge zu vermeiden, spiegelt sich gleichfalls zumindest derzeit in der Statistik nicht wider. 301 uj 7+8 | 2016 Kindeswohlgefährdung im Spiegel der amtlichen Statistik Zu den Fragen, wie sich das fachliche Handeln sowohl an den Jugendämtern als auch an den Familiengerichten im Zuge der zahlreichen Gesetzesänderungen seit Ende der 90er Jahre weiterentwickelt hat, sollen die eingangs benannten Untersuchungsschritte des Forschungsprojektes detailliertere Auskunft ermöglichen. Die Ergebnisse der Fachkräfte- und Betroffeneninterviews sowie der Einzelfallerhebung werden in zwei Fachtagungen im Herbst dieses Jahres präsentiert und mit der Fachöffentlichkeit diskutiert. Prof. Dr. Barbara Seidenstücker Markus Weymann Ostbayerische Technische Hochschule Regensburg Fakultät Angewandte Sozial- und Gesundheitswissenschaften Seybothstr. 2 93053 Regensburg barbara.seidenstuecker@oth-regensburg.de markus.weymann@st.oth-regensburg.de Literatur Kaufhold, G., Pothmann, J. (2015): Gefährdungseinschätzungen - und was dann? Ergebnisse zu den abgeschlossenen „8 a-Verfahren“ der Jugendämter 2014. Kommentierte Daten der Kinder- & Jugendhilfe 18 (2), 8 - 12 Münder, J., Mutke, B., Schone, R. (2000): Kindeswohl zwischen Jugendhilfe und Justiz. Votum, Münster Pothmann, J. (2015): Maßnahmen der Familiengerichte bei Gefährdungen des Kindeswohls - eine bunte Landschaft. Kommentierte Daten der Kinder- & Jugendhilfe 18 (1), 8 - 10 Simitis, S. u. a. (1979): Kindeswohl. Eine interdisziplinäre Untersuchung über seine Verwirklichung in der vormundschaftsgerichtlichen Praxis. Frankfurt/ M. Statistische Ämter des Bundes und der Länder (2015 a): Sozialberichterstattung in der amtlichen Statistik. Leistungsberechtigte - Stichtag 31. 12. Düsseldorf Statistische Ämter des Bundes und der Länder (2015 b): Zensus 2011, Bevölkerung nach Nationalität, Migrationshintergrund und Altersjahren. Düsseldorf Statistische Ämter des Bundes und der Länder (2015 c): Zu- und Fortzüge nach Geschlecht (über Gemeindegrenzen) - Jahressumme - regionale Tiefe: Kreise und kreisfreie Städte. Düsseldorf Statistische Ämter des Bundes und der Länder (2015 d): Arbeitslose nach ausgewählten Personengruppen sowie Arbeitslosenquoten - Jahresdurchschnitt. Düsseldorf Statistisches Bundesamt (2015): Statistiken der Kinder- und Jugendhilfe. Vorläufige Schutzmaßnahmen 2014. Wiesbaden Statistisches Bundesamt (2008): Lange Reihen: Bevölkerung. www.destatis.de, 25. 5. 2008 Statistisches Bundesamt (2014 - 2015 a): Statistiken der Kinder- und Jugendhilfe. Gefährdungseinschätzungen nach § 8a, Abs. 1 SGB VIII. 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