unsere jugend
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0342-5258
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/uj2016.art44d
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2016
687+8
„Ist die Mutter kooperationsbereit?“
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Ulrike von Wölfel
Der „Kooperationsbereitschaft von Eltern“ in Hilfeprozessen mit jungen Kindern wird von Fachkräften in Jugendämtern eine hohe Bedeutung zugeschrieben, wenn es um eine mögliche Fremdunterbringung geht. Anhand des Blicks auf Hilfeplanverfahren mit jungen Müttern wird gezeigt, welche Widersprüchlichkeiten sich in der konkreten Fallarbeitung mit diesem Begriff verbinden.
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316 unsere jugend, 68. Jg., S. 316 - 324 (2016) DOI 10.2378/ uj2016.art44d © Ernst Reinhardt Verlag München Basel „Ist die Mutter kooperationsbereit? “ Entscheidungsprozesse im Jugendamt bei der Fremdunterbringung junger Kinder Der „Kooperationsbereitschaft von Eltern“ in Hilfeprozessen mit jungen Kindern wird von Fachkräften in Jugendämtern eine hohe Bedeutung zugeschrieben, wenn es um eine mögliche Fremdunterbringung geht. Anhand des Blicks auf Hilfeplanverfahren mit jungen Müttern wird gezeigt, welche Widersprüchlichkeiten sich in der konkreten Fallarbeitung mit diesem Begriff verbinden. von Ulrike von Wölfel Jg. 1980; Dipl.-Sozialpädagogin; promoviert an der Evangelischen Hochschule Dresden und der TU Dresden zu der Entwicklung des Kinderschutz-Diskurses und des Begriffes der Kindeswohlgefährdung Junge Kinder in den Hilfen zur Erziehung Die zunehmende Zahl junger Kinder unter sechs Jahren in allen Hilfen zur Erziehung und bei den vorläufigen Schutzmaßnahmen ist seit einigen Jahren ein häufig diskutiertes Thema in der Kinder- und Jugendhilfe. Mit Besorgnis wahrgenommen wird vor allem der stetig wachsende Anteil unter sechsjähriger Kinder, die für eine längere Zeit in Heimeinrichtungen gem. § 34 SGB VIII untergebracht werden. Der massive Anstieg zwischen 2005 und 2009 wurde in den Jahren danach zwar nicht mehr erreicht, dennoch halten sich die Zahlen seitdem auf einem konstant hohen Niveau (vgl. Statistisches Bundesamt 2016; BvKE 2011). Vor dem Hintergrund der besonderen Schutzbedürfnisse junger Kinder sind diese Entwicklungen in der Kinder- und Jugendhilfe besonders besorgniserregend. Eine Begründung nennt unter anderem die gestiegene Armut von Familien, deren negative Auswirkung auf die Selbstregulierungskräfte und Ressourcen und damit auf die Versorgung und Erziehung (nicht nur) junger Kinder in Familien häufig diskutiert wird (vgl. Deutscher Paritätischer Gesamtverband 2016, 23). Auch die Kinder- und Jugendhilfepraxis selbst hat sich in die Ursachenforschung für den Anstieg junger Kinder in den Hilfen zur Erziehung einbezogen. Münder (2009) bewertete schon vor einigen Jahren den allgemeinen Anstieg der Hilfen zur Erziehung und der Kriseninterventionen als Fokussierung der Kinder- und Jugendhilfe auf Gefährdungslagen. Die angesprochenen Steigerungsraten wiesen auf eine zunehmende „Herstellung von Gefahren“ und einen damit verbundenen stärkeren Eingriffscharakter der Jugendhilfe und ihrer professionellen Akteure hin (Münder 2009, 12f ). Interessant ist hier auch ein aktueller Befund, auf den die Dortmunder Arbeitsstelle für Kinder- und Jugendhilfestatistik kürzlich hinwies. „Im dritten Jahr der Erhebung zu den Gefährdungseinschätzungen nach § 8 a Absatz 1 SGB VIII wur- 317 uj 7+8 | 2016 Entscheidungsprozesse bei Fremdunterbringung den 2014 insgesamt 124.213 Verfahren erfasst. Dies entspricht gegenüber dem Vorjahr einer Zunahme um 8.526 Fällen oder auch rund 7 %. Von diesen wurden etwa jeweils ein Drittel als Kindeswohlgefährdung gewertet […]“ (Kom- Dat 2015, 8). Frappierend an diesen aktuellen Zahlen ist die darin erkennbare Bandbreite der Reaktionen auf Gefährdungslagen. Diese Reaktionen reichen von intensiven Eingriffen und Fremdunterbringungen über niedrigschwellige Beratungsangebote und unterschiedliche Hilfemaßnahmen im ambulanten Bereich bis hin zu gar keiner Reaktion oder der Beibehaltung der bisherigen Hilfe (vgl. ebd., 9). Ein weiterer irritierender Befund ist der, dass sich sowohl 2013 als auch 2014 jeweils etwa ein Drittel der durchgeführten, „in der Regel aufwändigen und ressourcenintensiven Verfahren“ als falscher Alarm herausstellten (KomDat, 2014, 17). Es bleibt dabei: das Handeln im Hilfeprozess ist entscheidend Ohne von gesellschaftlichen Ursachen gestiegener Belastungssituationen und in der Folge unbestreitbar erhöhten Gefährdungslagen gerade für junge Kinder ablenken zu wollen - vor allem die Befunde aus Dortmund zeigen, dass es die konkrete Praxis von Fallverstehen und Fallbearbeitung ist, die sich als entscheidend für den Verlauf von Hilfeprozessen herausstellt. Damit geraten die fallbearbeitenden und fallverantwortlichen Fachkräfte und Teams in den Allgemeinen Sozialen Diensten (ASD) der Jugendämter und ihr einzelfallbezogenes Handeln in den Blick. Studie zu Entscheidungsprozessen in Jugendämtern Am Zentrum für Forschung, Weiterbildung und Beratung wurde zwischen 2011 und 2013 die Studie „Entscheidungsprozesse im Jugendamt bei der Fremdunterbringung kleiner Kinder“ durchgeführt. Sie beschäftigte sich ausgehend von den oben dargestellten Befunden mit den Entscheidungsprozessen von ASD-Fachkräften und ASD-Teams bei der Fremdunterbringung junger Kinder (vgl. Drößler/ Minet/ Ulrich/ Wölfel 2013). Die Studie nahm damit das konkrete Handeln von Fachkräften in Hilfeprozessen mit Familien in den Blick, in denen junge Kinder unter sechs Jahren leben. Die qualitativ ausgerichtete Untersuchung wurde in Zusammenarbeit mit den ASD von drei Jugendämtern durchgeführt. Die leitenden Forschungsfragen waren: ➤ An welchen Punkten innerhalb eines Hilfeprozesses kommt es zur Fremdunterbringung eines jungen Kindes? ➤ Auf welche Wahrnehmungs- und Deutungsmuster greifen Fachkräfte im ASD zurück, wenn sie für ein junges Kind zu der Entscheidung für eine Fremdunterbringung kommen? Die Studie bediente sich drei verschiedener methodischer Zugangsweisen zur Beantwortung der Fragestellungen. Konkret wurden Fallakten der betreffenden Jugendämter analysiert, Interviews mit Fachkräften aus den ASD geführt sowie kollegiale Fallberatungen mithilfe von Fallvignetten simuliert. Die Interviews zielten darauf ab, die subjektiven Einschätzungen der Fachkräfte zu Hilfeverläufen mit betroffenen Familien und zu den Hintergründen der Unterbringungsentscheidung zu erfassen. Die Analyse der Fallakten diente der Rekonstruktion von Hilfeprozessen, in deren Verlauf es zur Fremdunterbringung eines oder mehrerer junger Kinder gekommen war. Ziel der Analysearbeit war es, insbesondere die Zuspitzung(en) im Fallverlauf zu verstehen, in deren Zusammenhang die Fremdunterbringung der betroffenen jungen Kinder vollzogen wird. Fallvignetten sind Fallgeschichten, die als Stimulus für kollegiale Fallberatungen von ASD-Teams genutzt wurden. Sie enthalten die Darstellung einer bestimmten Familienkonstellation zusammen mit Informationen zur 318 uj 7+8 | 2016 Entscheidungsprozesse bei Fremdunterbringung Vorgeschichte und zur aktuellen Situation. Mithilfe von je drei Fallvignetten wurden in der Studie insgesamt 11 simulierte kollegiale Beratungen durchgeführt. Das Augenmerk der Analyse lag hier auf der Wahrnehmung und Beurteilung der Situation durch die Fachkräfte und auf dem Sichtbarmachen der Bezugsfolien, auf die ASD-Teams für ihre Entscheidungen zurückgreifen. Hier hatte die Studie einen anderen Schwerpunkt als die Untersuchung von Pothmann/ Willk, die vor allem die Unterschiede der Fallinterpretation und -entscheidung in den Blick nimmt (vgl. Pothmann/ Willk 2009). Alleinerziehende junge Mütter im Fokus - Einblick in die Studienergebnisse Die Gruppe der alleinerziehenden jungen Mütter mit jungen Kindern war in der Studie stark vertreten. Allein bei 5 von 13 vollständig ausgewerteten Fallakten waren die Mütter alleinerziehend und zwischen 20 und 24 Jahre alt. Sie lebten in drei Fällen mit einem, in zwei Fällen mit zwei Kindern unter vier Jahren zusammen. In den Interviews wurde deutlich, dass die ASD-Fachkräfte bezogen auf diese Zielgruppe deutlich unter Handlungsdruck stehen. Aus diesem Grund fokussiert der vorliegende Beitrag das Handeln von ASD-Fachkräften in Hilfeprozessen mit alleinerziehenden jungen Müttern mit kleinen Kindern. Er befasst sich mit der widersprüchlichen Bedeutung, die dem Thema „Kooperationsbereitschaft der Mütter“ von JA-Fachkräften in Hilfeprozessen beigemessen wird. Kooperationsbereitschaft als Schlüssel im Hilfeprozess - aber was genau ist Kooperationsbereitschaft? In den Interviews mit den ASD-Fachkräften aller drei Standorte finden sich, zunächst unabhängig von der Gruppe der jungen Mütter betrachtet, übereinstimmend drei Befunde: Auf welche Wahrnehmungs- und Deutungsmuster greifen Fachkräfte im ASD zurück, wenn sie für ein kleines Kind zu der Entscheidung für eine Fremdunterbringung kommen? An welchen Punkten innerhalb eines Hilfeprozesses kommt es zur Fremdunterbringung eines kleinen Kindes? Forschungsfragen 16 Aktenanalysen 11 Interviews mit ASD-Fachkräften 4 kollegiale Beratungen mittels Fallvignetten Abb. 1: Forschungsdesign der Studie zu Entscheidungsprozessen von ASD-Fachkräften 319 uj 7+8 | 2016 Entscheidungsprozesse bei Fremdunterbringung 1. Die Fachkräfte betonen die Notwendigkeit einer Zusammenarbeit mit den Familien, in denen hohe Belastungen und damit verbunden häufig latente Gefährdungslagen für die jungen Kinder vorliegen. 2. Die Fremdunterbringung eines jungen Kindes wird durch die Fachkräfte als ultima ratio bezeichnet, die nach erfolglos erachteter Intervention mittels ambulanter Maßnahmen in Anschlag gebracht wird. 3. Dem Verhalten der Mütter wird eine zentrale Rolle zugeschrieben. Dieser Befund gilt auch dann, wenn in der Familie zwei Elternteile als Bezugspersonen für das Kind verfügbar sind. Bei der Einschätzung der familiären Situation und vor allem der Lebenslage des Kindes stellen die Fachkräfte das Verhalten der Mütter als entscheidend heraus. Wenn Mütter nicht als kooperativ wahrgenommen werden, sehen Fachkräfte wenig Chancen, mit der Familie gemeinsam Entscheidungen zu erarbeiten. Eine Unterbringungsentscheidung zur Sicherheit des jungen Kindes wird dann als wahrscheinlich eingeschätzt. Von den ASD-Fachkräften wird also übereinstimmend die Bedeutung der Kooperationsbereitschaft der Mütter betont. Sie ist offenbar ausschlaggebend, wenn es um die Frage geht, ob eine ambulante Hilfe für die jungen Kinder (weiterhin) ausreicht. Die Fachkräfte sprechen damit in den Einzelinterviews das an, was Oevermann als „Arbeitsbündnis zum Zwecke stellvertretender Krisenbewältigung“ bezeichnet hat (vgl. Oevermann 2009, 120). Dass Fachkräfte dem Arbeitsbündnis eine wesentliche Bedeutung für den Verlauf eines Hilfeprozesses beimessen, kann wohl als sozialpädagogische Binsenweisheit bezeichnet werden. Dieser Befund ist damit für sich genommen plakativ. Er legt jedoch zwei wesentliche Fragen offen: ➤ Wie versuchen Fachkräfte Kooperationsbereitschaft herzustellen? ➤ Wann wird, vor dem Hintergrund des Falles, Kooperationsbereitschaft (noch) als gegeben angesehen und wann ist der Punkt erreicht, an dem dies nicht (mehr) der Fall ist und in der Folge zu eingreifenden Maßnahmen gegriffen wird? Zu diesen Fragen werden im Folgenden durch den Blick auf die simulierten kollegialen Fallberatungen Antworten formuliert. Exemplarisch wird der Diskussionsverlauf der kollegialen Beratung zweier ASD-Teams zu einer der drei genutzten Fallvignetten vorgestellt. Fallvignette „Familie Schuppan“ Die Fallvignette findet sich hier in stark gekürzter Version wieder, ebenso die Darstellung der Diskussionsverläufe in den Teams. Kind: Tom (1 3/ 4 Jahre) Kindesmutter: 20 Jahre, alleinerziehend, besucht berufsvorbereitenden Lehrgang Kindesvater: 19 Jahre, wahrscheinlich Lehre zum Koch, hilft ab und zu im Alltag Familienstatus: getrennt lebend Weitere Personen (die aus familiärem Umfeld Kontakt zu den Eltern haben): Mutter der Kindesmutter Sorgerecht: Mutter hat alleiniges Sorgerecht Die Familie ist dem Jugendamt bereits bekannt. Vorgeschichte aus den Akten Die junge Mutter ist dem Sozialen Dienst seit ihrem 13. Lebensjahr bekannt. Sie ist aufgrund massiver Konflikte mit ihrer eigenen Mutter von zu Hause weggelaufen. Frau Schuppan hat in dieser Zeit therapeutische Begleitung. Sie lebt teilweise auf der Straße, später in einer Wohngruppe und kehrt dann in den Haushalt der Mutter zurück. Die Konflikte mit der Mutter spitzen sich wieder zu, sodass mit Unterstützung des Sozialen Dienstes kurz nach Toms Geburt eine eigene Wohnung gesucht wird. Eine Familienhebamme und auf ihren Wunsch hin später auch eine sozialpädagogische 320 uj 7+8 | 2016 Entscheidungsprozesse bei Fremdunterbringung Familienhelferin (SPFH gem. § 31 SGB VIII) unterstützen sie. Als Tom ein reichliches Jahr alt ist, beginnt Frau Schuppan einen berufsvorbereitenden Lehrgang. Der Junge hat einen Krippenplatz und wird mehrmals in der Woche von der Oma abgeholt und betreut, bis die Kindesmutter nach Hause kommt. Die Situation wird als stabil eingeschätzt und die ambulante Begleitung im gegenseitigen Einvernehmen beendet. Aktuelle Situation Ein halbes Jahr nach Beendigung der ambulanten Hilfe meldet sich die Oma bei der zuständigen Fachkraft des ASD. Sie ist sehr aufgebracht und berichtet, dass Tom akut gefährdet sei. Ihre Tochter würde ihren Lehrgang schwänzen. Außerdem würde sie oft feiern gehen, Tom dabei auch allein lassen und ihn zudem nicht immer ausreichend mit Nahrung versorgen. Angeblich würde der Kindesvater abends auf Tom aufpassen. Die Oma bezweifelt die Glaubwürdigkeit ihrer Tochter und äußert sich sehr negativ über sie und den aus ihrer Sicht aggressiven und alkoholabhängigen Kindesvater. Von der Kita kommt die Information, dass Frau Schuppan immer bemüht sei, Tom zu bringen, dies in letzter Zeit jedoch häufiger nicht getan habe. Zurzeit sei er krankgemeldet. Bei einem unangekündigten Hausbesuch durch den ASD bestreitet Frau Schuppan die Vorwürfe. Sie verweist auf einen heftigen Streit mit ihrer Mutter, bei dem es um ihren Kontakt zum Kindesvater gegangen sei. In der Schule habe sie einige Tage gefehlt. Das sei aber wieder geklärt. Der Junge war während des Besuches anwesend. Er sei nicht in der Kita, da er sich zu Hause wohler fühle. Die Wohnung befindet sich in einem sehr unaufgeräumten, teilweise desolaten Zustand. Frau Schuppan lehnt Hilfeangebote ab. Team 1 reagiert mit dem Aufbau von Druck Im Team 1 wird der Hausbesuch als deutlich beunruhigend gewertet und Toms Situation als akut gefährdend eingeschätzt. Die Information aus der Kita steigert in Verbindung mit der wahrgenommenen Abwehrhaltung gegenüber den Fachkräften die Gewissheit einer Gefährdung, was im Team als erste Reaktion den Vorschlag einer Inobhutnahme auslöst. Das Team sieht zunächst davon ab. Das Team erkennt eine Überforderungssituation von Frau Schuppan, deren Ursache schnell und übereinstimmend in ihrer psychischen Verfassung gesehen wird. Da Frau Schuppan diese Überforderung und damit aus Sicht des Teams auch ihre psychischen Probleme abstreitet, knüpfen die Fachkräfte eine weitere ambulante Zusammenarbeit mit Frau Schuppan an die Bedingung, dass diese ihre Problematik erkennt und einsieht, dass Hilfe geboten ist. Das Team beschließt zunächst ein weiteres Gespräch mit der Mutter zu führen, an welchem der Sozialpsy- Interventionen Ziel Team 1 Erste Reaktion Inobhutnahme, dann Einigung: keine Fremdunterbringung, steht aber im Raum ➤ Gespräch: Mutter muss verstehen, dass sie Hilfe annehmen muss ➤ sofortiger Einsatz Sozialpädagogischer Familienhilfe (SPFH), bei Weigerung Inobhutnahme Herstellung der Kooperationsbereitschaft Team 2 Keine Fremdunterbringung, steht aber im Raum ➤ Gespräch: Mutter soll wieder Kontrolle über ihre Situation erlangen ➤ Erwägung verschiedener Unterstützungsmöglichkeiten, u. a. SPFH Herstellung der Kooperationsbereitschaft Tab. 1: Überblick über die Diskussionsverläufe in zwei ASD-Teams zur Fallvignette „Familie Schuppan“ 321 uj 7+8 | 2016 Entscheidungsprozesse bei Fremdunterbringung chiatrische Dienst teilnehmen soll. Von Frau Schuppan wird verlangt, eine sofort einzusetzende SPFH als Hilfeform zu beantragen. Das Team ist sich einig, dass bei einer Weigerung gegen diese Hilfeform eine Inobhutnahme Toms der nächste Schritt wäre. Team 2 möchte den Handlungsdruck reduzieren Auch in Team 2 wird Toms aktuelle Situation als gefährdend eingeschätzt und der Eindruck vom Hausbesuch von den Fachkräften als nicht mehr tragbar bewertet. Eine Fremdunterbringung wird auch hier erwogen. Es werden hier jedoch mehrere Möglichkeiten durchgesprochen, die als Ursache für die Verweigerungshaltung von Frau Schuppan infrage kommen, darunter auch ein mögliches Auftreten einer depressiven Phase. Das Team nimmt jedoch explizit auch das jugendliche Alter von Frau Schuppan in den Blick. Es wird betont, dass Bedürfnisse wie Ausgehen oder sich mit Freunden treffen in dieser Phase des Lebens von großer Bedeutung sind und Frau Schuppan hier nicht nur als Mutter wahrgenommen werden sollte. Die Annahme einer SPFH wird auch hier in die engere Wahl gezogen, daneben werden andere Unterstützungsformen erwogen, etwa eine außerfamiliäre Tagespflegeperson mit Übernachtungsmöglichkeit für Tom. Dabei wird explizit der Mutter-Tochter-Konflikt in Rechnung gestellt. Auch Team 2 sieht Frau Schuppan als überfordert, allerdings gleichzeitig als unter intensivem Druck stehend an. Ihre Abwehrhaltung wird als für die Adoleszensphase normales Verhalten verstanden. Aufgrund der als gefährdend eingeschätzten Situation von Tom soll Frau Schuppan einerseits verdeutlicht werden, dass eine stabile Versorgung von Tom unerlässlich ist und durch das Jugendamt auch kontrolliert werden muss. Gleichzeitig wird im Team sehr intensiv darüber diskutiert, wie man den Druck der Situation reduzieren und damit Frau Schuppan Handlungsmacht zurückgeben kann. Man ist sich einig, dass eine stabile Zusammenarbeit im Sinne des Kindes nur dann zu erreichen ist, wenn Frau Schuppan aus der aktuellen Ohnmachtssituation herauskommt. Fazit aus den kollegialen Beratungen Als Priorität gilt beiden Teams die Überwindung der Abwehrhaltung und die Herstellung der Kooperationsbereitschaft von Frau Schuppan. Anhand der gegenüber gestellten Teamdiskussionen kann gezeigt werden, dass die Auffassungen davon, wie diese Kooperationsbereitschaft hergestellt werden sollte, allerdings deutlich voneinander abweichen. Die Teams ziehen unterschiedliche Bezugsfolien für die Deutung der aktuellen Situation heran, aus denen sich verschiedene Leitorientierungen für den Fall etablieren. Der Ausgangspunkt der Situationsdeutung im Team 1 liegt bei Toms Wohl und der psychischen Instabilität der Mutter. Durch die Fokussierung darauf wird Intervention im Sinne einer Fremdunterbringung zur Leitorientierung im Fall. Frau Schuppan kommt als Person hier nicht mehr vor. Sie kann nur noch in eine Richtung reagieren, nämlich mit der von ihr erwarteten Einsicht in die bereits festgelegte Deutung ihrer Situation. Das Team erklärt die Kooperationsbereitschaft zur Voraussetzung, die erst gegeben sein muss, bevor eine weitere ambulante Zusammenarbeit mit Frau Schuppan möglich ist. Wie sie die Kooperation gewährleisten soll, wird nicht thematisiert. Kooperation im Sinne eines Arbeitsbündnisses gerät hier, so paradox dies klingt, letztendlich weitestgehend in den Hintergrund. In Team 2 gelingt es, die aktuelle Situation von Frau Schuppan differenzierter zu betrachten. Das Team entwickelt mehrere Thesen hinsichtlich der Ursachen und Hintergründe der aktuellen Krise. Anders als in Team 1 richten diese sich auf beide, Tom und seine Mutter. Keine dieser Thesen etabliert sich zunächst, wodurch eine Offenheit in der Fallbearbeitung erhalten 322 uj 7+8 | 2016 Entscheidungsprozesse bei Fremdunterbringung bleibt. Im Diskussionsprozess ist erkennbar, dass die notwendige Kooperationsbereitschaft der Mutter als wesentliches Ziel aufgefasst wird, das es mit verschiedenen Interventionen und Versuchen der Kontaktaufnahme mit Frau Schuppan zu erreichen gilt. Kooperation bleibt im Mittelpunkt des Fallhandelns, erscheint als Bestandteil der Intervention. Schnell gefundene und nicht mehr hinterfragte Deutungen von kritischen Situation begünstigen es, dass ASD-Fachkräfte sich aus dem gegenseitigen Prozess mit den jungen Klientinnen herausnehmen und damit kein Gegenüber mehr für die Herstellung bzw. Aufrechterhaltung eines Arbeitsbündnisses darstellen. Eine Fremdunterbringung zum Schutz der jungen Kinder wird dann wahrscheinlich. Schlussfolgerungen für die Praxis Für die Praxis der Hilfeplanung und Hilfeprozesse in ASD erscheinen aus den eben herausgearbeiteten Erkenntnissen drei Schlussfolgerungen wesentlich: Hilfeprozesse mit jungen alleinerziehenden Müttern verdienen besondere Aufmerksamkeit Es wurde eingangs bereits erwähnt, dass Fachkräfte sich gerade bei jungen alleinerziehenden Müttern mit Kindern unter sechs Jahren unter erheblichem Druck sehen. In den kollegialen Fallberatungen konnte gezeigt werden, dass dieser Handlungsdruck sich erhöht, wenn es nicht gelingt, die jungen Mütter auch als Jugendliche mit jugendlichen Bedürfnissen wahrzunehmen, sondern sie isoliert in ihren Verantwortlichkeiten als Mütter angesprochen und auf diese verpflichtet werden. Als weiterer Aspekt kommt hinzu, dass, bedingt durch die Zusammensetzung der ASD-Teams an den drei Standorten, die Hilfeprozesse mit jungen Müttern fast ausschließlich von weiblichen Fachkräften bearbeitet werden, welche oft die Generation der Mütter der Klientinnen repräsentieren. Innerhalb der Studie gab es - über die Interviews und kollegialen Fallberatungen - direkten Kontakt zu insgesamt 21 ASD-Fachkräften. Zwei davon waren männlich, das Durchschnittsalter der Fachkräfte lag bei 47 Jahren. Hier kann aus den Fallakten mit jungen Müttern ergänzt werden, dass sich dort jeweils Hinweise auf ein problematisches Verhältnis zwischen bearbeitender ASD-Fachkraft und junger Klientin finden. Diese könnten als Hinweise auf Konflikte gewertet werden, die junge Mütter mit ihren eigenen Müttern haben und welche dann stellvertretend mit der zuständigen Fachkraft (oder auch anderen Helferinnen) ausagiert bzw. weitergeführt werden. Hilfeangebote und Unterstützungsprozesse junger Mütter bedürfen daher einer Fallbearbeitung, die in der Lage ist, auf die besondere Lebenssituation dieser Klientinnen einzugehen, damit Abwehrhaltungen sich nicht verfestigen und Hilfeprozesse dadurch ungünstig beeinflusst werden. In der kollegialen Fallberatung von Team 2 wird eine außerhalb direkter familiärer Netzwerke stehende Tagespflegeperson für die Freistellung der jungen Mutter zu „abendlichem Ausgehen“ in Erwägung gezogen. Diese Unterstützungsform ist sicher ungewöhnlich - vielleicht aber nicht zu ungewöhnlich, um darüber nachzudenken, ob solche flexibilisierten Hilfeangebote realisierbar sind. Nach einer Unterbringungsentscheidung - wie kann Elternarbeit fortgesetzt werden? Ebenfalls aus den Fallrekonstruktionen der Akten ist erkennbar, dass die jungen Mütter sich in drei der fünf Fälle nach einer vollzogenen Fremdunterbringung zeitweise oder gänzlich aus dem Hilfeprozess zurückziehen, obwohl eine Rückführung im Hilfeplan vorgesehen war und als Ziel verfolgt werden sollte. Die einzigen Kontakte zwischen dem ASD und den jungen Müttern sind dann über Monate hinweg die Hilfeplangespräche, zu denen die Mütter teil- 323 uj 7+8 | 2016 Entscheidungsprozesse bei Fremdunterbringung weise nicht erscheinen. In diesen Phasen sind dann die einzigen Quellen, die zum Verhalten der Mütter Auskunft geben, die stationären Einrichtungen oder Pflegefamilien. Sie dokumentieren, dass die Mütter die Besuchskontakte zunehmend unzuverlässig wahrnehmen und sich als Bezugspersonen ihrer Kinder zurückziehen. Die jungen Kinder blieben dadurch teilweise über Monate in einer unklaren Beziehungssituation untergebracht. Vor allem im Sinne der betroffenen Kinder ist es essenziell, dass im Falle einer Fremdunterbringung die darauffolgende Hilfeplanung zeitnah eine Perspektive für die Familie nicht nur plant, sondern auch umsetzt. Wenn eine Rückführung als realistisch eingeschätzt wird, braucht es zum einen spezielle stationäre Settings, die in der Lage sind, sich einerseits an den Bedürfnissen junger Kinder zu orientieren und andererseits eine Rückführungsperspektive über eine intensive Elternarbeit auch tatsächlich zu ermöglichen. Dies stellt einerseits hohe Anforderungen an die Einrichtungen. Andererseits sollte Elternarbeit nicht nur den stationären Einrichtungen oder Pflegestellen überlassen bleiben. Hier wurde erst kürzlich darauf hingewiesen, dass es in Jugendämtern offenbar an erprobten Konzepten für Hilfeverfahren mit jungen Kindern mangelt (vgl. Kaufhold/ Pothmann/ Schilling 2015). Empfehlenswert sind eigene konzeptionelle Überlegungen dazu in den ASD. Offenheit in der Deutungspraxis von ASD-Teams Biesel weist in seiner Studie zum Umgang von Jugendämtern mit Fehlern im Kinderschutz auf „fehlertabuisierende Teamkontexte“ hin, „die dazu führen, dass Fälle nicht gemeinsam konsistent reflexiv beraten und verstanden werden können (Biesel 2011, 291). Das Gegenmodell dazu ist eine Kultur der Deutungsoffenheit, die letztlich immer auch eine Offenheit hin zum Unvollkommenen sein muss, geprägt durch die Erkenntnis, dass in der Sozialen Arbeit professionelle Fehler unvermeidlich sind. Ohne die Offenheit der Organisation insgesamt kann eine solche Kultur jedoch auf der Ebene des einzelnen ASD-Teams nicht begründet werden. Hierzu gehören für Biesel die Schaffung und Aufrechterhaltung hierarchieüberwindender Kommunikationsorte in Jugendämtern, in denen sowohl Einzelfälle als auch organisatorische Abläufe kritisch thematisiert werden können (vgl. ebd., 285, 303) Schlussbemerkung Die Praxis der Kinder- und Jugendhilfe zeigte in den letzten Jahren intensive Normierungs- und Standardisierungstendenzen, die sich sehr eindrücklich an den Diskursen zum Kinderschutz und zu Kindeswohlgefährdung verdeutlichen. In dieser Entwicklung drückt sich der Wunsch danach aus, Ambivalenz zu überwinden und einen Zustand zu erreichen, in dem Situationen exakt gedeutet und Entscheidungen in ihren Folgen abschätzbar werden können. Diese Sehnsucht nach Eindeutigkeit lässt bisweilen außer Acht, dass es nach wie vor einzelne Fachkräfte und Teams sind, die Sachverhalte bewerten, Informationen einholen, Gespräche führen und auf Grundlage dieser Arbeit - ob nun sozialpädagogisches Fallverstehen oder Diagnostik genannt - Fallbearbeitungswege einschlagen und Entscheidungen treffen. Der vorliegende Blick in die Ergebnisse empirischer Arbeit spricht sich dafür aus, diese Realität sozialpädagogischer Arbeit anzuerkennen und darin für Fachlichkeit und Menschlichkeit einzutreten. Ulrike von Wölfel woelfel.ehsdresden@posteo.net 324 uj 7+8 | 2016 Entscheidungsprozesse bei Fremdunterbringung Literatur Biesel, K. (2011): Wenn Jugendämter scheitern. Zum Umgang mit Fehlern im Kinderschutz. Transcript, Bielefeld BvKE (Bundesverband katholischer Einrichtungen und Dienste der Erziehungshilfen e.V.) (2011): Positionspapier. In: https: / / www.lwl.org/ @@afiles/ 28782097/ bv ke-diskussionspapier_kleine-kinder-in-der-erziehungs hilfe-1.pdf, 20. 4. 2016 Deutscher Paritätischer Gesamtverband (2016): Zeit zu handeln. Bericht zur Armutsentwicklung in Deutschland 2016. In: http: / / www.der-paritaetische.de/ ar mutsbericht/ download-armutsbericht/ , 20. 4. 2016 Drößler, T., Minet, C., Ulrich, A., von Wölfel, U. (2013): Entscheidungsprozesse im Jugendamt bei der Fremdunterbringung kleiner Kinder. Abschlussbericht der Studie„Kinder zwischen null und sechs Jahren in stationären Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe“. Zentrum für Forschung, Weiterbildung und Beratung an der ehs Dresden gGmbH. In: http: / / www.ehs-dres den.de/ fileadmin/ forschung/ download/ Abschluss bericht_Kinder_nov2013_fertig.pdf, 20. 4. 2016 Kaufhold G., Pothmann J., Schilling, C. (2015): Junge Kinder in Einrichtungen der stationären Erziehungshilfe/ Institutionenbefragung Jugendämter. Eine Studie des Forschungsverbundes Technische Universität Dortmund & Deutsches Jugendinstitut. Vortrag zur Abschlussveranstaltung des Forschungsprojektes über: gkaufhold@fk12.tu‐dortmund.de KomDat Jugendhilfe (2014): Kommentierte Daten der Kinder- und Jugendhilfe. 2014 (3). Dortmunder Arbeitsstelle Kinder- & Jugendhilfestatistik, Technische Universität Dortmund. In: http: / / www.akjstat.tu-dort mund.de/ index.php? id=634, 20. 4. 2016 KomDat Jugendhilfe (2015): Kommentierte Daten der Kinder- und Jugendhilfe. 2015 (2). Dortmunder Arbeitsstelle Kinder- & Jugendhilfestatistik, Technische Universität Dortmund. In: http: / / www.akjstat.tu-dort mund.de/ index.php? id=677, 20. 4. 2016 Münder, J. (2009): Das Kinderförderungsgesetz - Änderungen, Fragen, Probleme. Neue Praxis, (1), 3 - 16 Pothmann, J., Wilk, A. (2009): Wie entscheiden Teams im ASD über Hilfebedarf? Untersuchung zur Gegenüberstellung von Strukturen, Prozessen und Ergebnissen des Fallmanagements kommunaler sozialer Dienste und sich daraus ergebende Konsequenzen für Praxisentwicklung. Abschlussbericht: http: / / www. forschungsverbund.tu-dortmund.de/ fileadmin/ Files/ Hilfen_zur_Erziehung/ Abschlussbericht_Team entscheidung_im_ASD.pdf, 15. 4. 2016 Oevermann, U. (2009): Die Problematik der Strukturlogik des Arbeitsbündnisses und der Dynamik von Übertragung und Gegenübertragung in einer professionalisierten Praxis von Sozialarbeit. In Becker-Lenz, R., Busse; S., Ehlert, G., Müller, S. (Hrsg.): Professionalität in der Sozialen Arbeit. Standpunkte, Kontroversen, Perspektiven, 113 - 142, VS, Wiesbaden Statistisches Bundesamt (2016): https: / / www.destatis. de/ DE/ Publikationen/ Thematisch/ Soziales/ Kinder Jugendhilfe/ VorlaeufigeSchutzmassnahmen52252 03147004.pdf? __blob=publicationFile, 5. 1. 2016
