unsere jugend
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0342-5258
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/uj2016.art47d
71
2016
687+8
Rezension
71
2016
Wolfgang Müller
Jesper Juul, 2016: Leitwölfe sein: Liebevolle Führung in der Familie Beltz, Weinheim, 216 Seiten, €16,95 Führung in der Erziehung wird wieder aktuell. Erziehung ist seit Langem ein risikoreiches Geschäft: für Erwachsene und für Kinder. Der Beratungsmarkt boomt in diesem Jahr. Beratungstexte in Fachbüchern, Fachzeitschriften und im Netz sind kaum noch zu zählen. Der dänische Familienberater Jesper Juul ist einer der Meinungsführer auf diesem Beratungsmarkt. Sein neuestes, 22. Buch ist gerade erschienen. Es richtet sich vor allem an besorgte Eltern. Seine Botschaften sind aber auch für professionelle Erzieherinnen in Krippen und Kindertagesstätten von Belang.
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348 uj 7+8 | 2016 Rezension Jesper Juul, 2016: Leitwölfe sein: Liebevolle Führung in der Familie Beltz, Weinheim, 216 Seiten, €16,95 Führung in der Erziehung wird wieder aktuell Erziehung ist seit Langem ein risikoreiches Geschäft: für Erwachsene und für Kinder. Der Beratungsmarkt boomt in diesem Jahr. Beratungstexte in Fachbüchern, Fachzeitschriften und im Netz sind kaum noch zu zählen. Der dänische Familienberater Jesper Juul ist einer der Meinungsführer auf diesem Beratungsmarkt. Sein neuestes, 22. Buch ist gerade erschienen. Es richtet sich vor allem an besorgte Eltern. Seine Botschaften sind aber auch für professionelle Erzieherinnen in Krippen und Kindertagesstätten von Belang. Jesper Juul berät seit 40 Jahren besorgte Familien und versucht, ihre teils hochgespannten Erwartungen an die eigene Erziehung ihrer Kinder zu dämpfen und ihnen Hinweise für ein entspanntes, aber gleichzeitig anspruchsvolles Erziehungsverhalten zu geben. Er ist 1948 in einer dänischen Arbeiterfamilie groß geworden, die von sich sagte: „In unserer Familie machen wir, was man macht, und wir machen nicht, was man nicht macht.“ Frühzeitig ist er als Kellner und Koch zur See gefahren, hat dann europäische Kulturgeschichte studiert und in den USA Gestaltpsychologie bei einem Schüler von Fritz Perls. Er arbeitete als Lehrer und Sozialpädagoge mit straffälligen Jugendlichen. Noch heute verbringt er einen Teil des Jahres unbezahlt in der Begleitung von traumatisierten Flüchtlingen und Kriegsveteranen in einem kroatischen Dorf. Bekannt geworden ist er als Familientherapeut mit einer nun vierzigjährigen Praxis im In- und Ausland und mit mehr als 20 Beratungsbüchern, von denen ein halbes Dutzend im Beltz/ Juventa-Verlag erschienen ist. Sein neuestes Buch titelt: „Leitwölfe sein. Liebevolle Führung in der Familie“ (2016). Ich habe es schon wegen des Titels vorsichtig angefasst. Denn wenn ,Führung‘ im Untertitel des Buches steht und mit dem Bild eines ,Leitwolfes‘ illustriert wird, dann dachte ich mir, der neue Ratgeber wäre ein Gegenbild zu dem augenblicklichen Mainstream in der elterlichen Erziehungskultur, der offensichtlich immer noch auf ,Gewähren‘ und ,Machen lassen‘ gerichtet ist. Das aber wäre, so dacht ich mir, eine Reaktion auf die missverstandene Weiterentwicklung der ,antiautoritären Erziehung‘ im Kielwasser der Studenten- und Jugendbewegung der 70er Jahre. Die war zwar ,anti-autoritär‘, aber keineswegs verantwortungslos, sondern lediglich eine kämpferische Gegenthese zu der bürgerlich-autoritären Familienerziehung des alten Kaiserreichs und der militaristisch-autoritären Erziehung Adolf Hitlers, der seinen Untertanen befohlen hatte: „Still stehen - Schnauze halten - Kinder kriegen - Heldentod sterben“. Die Anti-These aber war zu einer lieblosen Beliebigkeit zerronnen; „Nicht mehr hinsehen - machen lassen - Achseln zucken“. Nun war, so dachte ich mir, als ich das Buch zur Hand nahm, wieder einmal ,Führung‘ angesagt. „Wir wissen, wo es langgeht und wir zeigen es Euch“. Vorurteile sind dazu da, widerlegt zu werden - oder sich zumindest zu relativieren. Jesper Juul formuliert nicht etwa eine Gegenbewegung, sondern eine moderate Position ,dazwischen‘. Und die ist nicht nur für Eltern und andere Personensorgeberechtigte interessant, sondern gleichermaßen für Erzieherinnen und Lehrer, die ja dauernd aufgefordert sind, sich mit den elterlichen Erziehungsstilen der von ihnen zu fördernden Kinder und Jugendlichen kritisch, aber auch produktiv zu befassen. uj 7+8 | 2016 349 Rezension Jesper Juul als Familienberater Der Autor geht mit einer dreifachen Sicht- und Arbeits-WeiseanseinThema (,Familienerziehung heute‘) heran. Er fragt als europäischer Gesellschaftsgeschichtler nach den Hintergründen unserer Entwicklung. Er fragt als Kommunikationswissenschaftler nach den überkommenen und den - seiner Meinung nach - notwendigen Kriterien einer aufbauenden Kommunikation zwischen den Generationen (und auch zwischen Müttern und Vätern) und er fragt nach der für Erziehung notwendigen Qualität der Beziehungen zwischen Menschen unterschiedlicher Generationen. Die Qualität dieser Beziehungen macht für ihn ,Führung‘ aus. Sie ist kein ,Machtanspruch‘, sondern ein Qualitätsmerkmal der Kommunikation zwischen entwicklungsgeschichtlichunterschiedlichen Personengruppen: Kindern und ihren Eltern. Juul geht von dem systemischen Konzept aus, dass Familie eine dicht kommunizierende Gruppe von ,gleichwürdigen‘ aber nicht von ,gleichberechtigten‘ Individuen darstellt. Ihre Mitglieder brauchen eine Struktur, die hilfreich, weil orientierend, aber nicht unterdrückend ist. Basisdemokratische Struktur allerdings ist für ihn ein Ärgernis, weil sie kooperative, auf gemeinsame Ziele gerichtete Handlungen erschwert. Darum sind basisdemokratische Handlungsgruppen in der Regel zum Scheitern verurteilt. Sie bleiben in der vorausgesetzten Gleichwertigkeit ihrer unterschiedlichen ,Meinungen‘ entscheidungsgehemmt hängen. Juul unterstellt aufgrund von Beobachtungen in den Rudeln von Wölfen (Block & Badinger 2010), dass ,jede und jeder im Rudel zählt‘ (S. 27), dass aber alle im Rudel gleichwürdig sind. Das bedeutet für den oder die Rudelführer, dass sie Verantwortung für Entscheidungen übernehmen. Für uns Menschen bedeutet es, dass es zur ,Führung‘ gehört, Verantwortung für die Qualität der Beziehungen innerhalb der Gruppe zu übernehmen. Nicht für alles: sondern für die Qualität der Beziehungen. Die muss der Verantwortliche vorgeben, vorleben und einfordern. Nun kommt die eigentliche Botschaft Die Qualität der eigentlichen elterlichen ,Führung‘ besteht darin, gegenseitiges Lehren und Lernen möglich zu machen, das Selbstwertbewusstsein der Kinder ebenso wie der Eltern zu stärken und Empathie als Verständnis für das Gleiche wie für das Andere zu entwickeln. Was heißt das? An dieser Stelle ist mir das Credo von Jesper Juul deutlich geworden. Es besteht aus einer Reihe von einfachen Sätzen: ➤ Jedes Kind ist einmalig und die Eltern sind es auch (39). ➤ Ein Kind muss „darauf vertrauen können, dass Sie wissen, was Sie tun und dass Sie es zum Wohl der Gemeinschaft tun“ (40). Juul plädiert im Folgenden für eine gleichwertige und gleichwürdige Beziehung zwischen Kindern und ihren Eltern, die auf einer gleichgewichtigen Leistung beider beruht: „Jedes Mal, wenn Sie mit Ihrem Kind einen Konflikt haben, oder wenn Sie sich verzweifelt und hilflos fühlen, ist das eine Gelegenheit, das für Ihr ,inneres Kind‘ zu tun, was ihre Eltern nicht tun konnten“ (58). Hinter diesen Sätzen steckt die Überzeugung Juuls, dass wir als Eltern in der Erziehung unserer Kinder unsere eigene Erziehung kritisch bearbeiten können, wenn wir unsere Kinder als gleichwürdige Kommunikationspartner annehmen. Juul verwendet dann eine Menge Energie, um die veränderten Positionen und Funktionen von Frauen und Männern in ihrer Elternschaft anzudeuten und zu fragen, was diese neuen Rollen für die ,neuen Kinder‘ bedeuten. Er notiert befremdet und bestürzt: „Jetzt hat sich das Aufziehen der Kinder zu einem Wettkampf entwickelt, bei dem die Eltern um den Titel ,Mama‘ beziehungsweise ,Papa‘ des Jahres kämpfen“ (S. 65). „Kinder sind zu Statussymbolen geworden“ -, sagt er, ohne auf die Kinder feudaler Fürstenhäuser zu blicken, deren Mädchen benutzt wurden, um als Bräute neue Länder an 350 uj 7+8 | 2016 Rezension Land zu ziehen (= Du, glückliches Österreich, heirate (um Deinen Bestand zu erweitern)“. Früher war die Rollendifferenzierung insofern deutlich, als die Mutter zu Hause das Sagen hatte, während der Vater aushäusig zugange war und dann, wenn er zu Hause war, bestimmen sollte, aber nur das, was die Mutter ihm vorsorglich zugeflüstert hatte. Heute müssen wir uns mit zwei neuen Vorbehalten von Müttern und Vätern befassen: Mütter haben Angst vor dem ,Nein‘-Sagen, weil sie nicht nur geliebt, sondern auch beliebt sein möchten. Väter haben Angst vor dem Grenzen Ziehen, weil sie Angst vor einer patriarchalen Rolle haben, die längst abgemeldet ist. Juuls Ratschlag: Wir müssen die Probleme sehen. Wir müssen aber auch jeder und jedem lehren, auf eine je individuelle Weise produktiv damit umzugehen. Juul ist kein Freund von allgemeinen oder gar von globalen Vorschlägen. Er versucht, den Einzelfall zu sehen und zu verstehen. Macht und Erziehung Was also ist die Botschaft? Juul erinnert daran, dass Eltern gegenüber ihren Kindern ein Machtgefälle darstellen, das nicht durch wohlmeinende Gleichartigkeits- Vorstellungen aus dem Weg geräumt werden kann. Eltern müssen die Führung für ihre Kinder übernehmen. Dieser Führungsanspruch aber wird durch vier Qualitätsanforderungen legitimiert und gebremst: ➤ Eltern und ihre Kinder sind prinzipiell gleichwürdig (wenn auch nicht gleichberechtigt). ➤ Die Integrität jedes Teilnehmers an der familialen Kommunikation muss ausnahmslos beachtet werden: jeder muss respektiert, keiner darf willentlich und langfristig gesehen verletzt oder gedemütigt werden. ➤ Jeder muss die Gelegenheit haben, als der er ist (oder sich sieht) da zu sein und sich darstellen zu können. Keiner soll auf eine Rolle festgelegt werden. ➤ Jeder von uns Erwachsenen ist verantwortlich, für das, was er tut, für das, was er sagt, für das, was er meint. Er ist verantwortlich, weil er und sie Modelle sind für das, was unsere Kinder in der nächsten Generation unserer Gesellschaften tun und lassen werden. Führung in der Erziehung zu übernehmen ist deshalb eine nachhaltige Aufgabe. Sie bedeutet nicht Führung für kommendes Tun zu übernehmen, sondern Verantwortung für die Qualität der Beziehung zwischen uns als Mütter und Väter mit unseren Partnern und Partnerinnen, Verantwortung für uns in unseren Beziehungen zu unseren Kindern und Verantwortung für uns als Mitglieder einer Gesellschaft auf dem Weg in unsere gemeinsame Zukunft oder…? C. Wolfgang Müller Professor für Sozialpädagogik und Erziehungswissenschaften Technische Universität Berlin DOI 10.2378/ uj2016.art47d
