unsere jugend
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Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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Der Berliner Notdienst Kinderschutz (BNK)
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Anna-Lena Iselhorst
Mitte der 70er Jahre wurde in Berlin das Notdienstsystem für den Kinderschutz gegründet. Durch viele Entwicklungen und Veränderungen besteht der heutige Berliner Notdienst Kinderschutz aus sechs Teilbereichen. Gemeinsam mit den Berliner Bezirksjugendämtern ist der BNK rund um die Uhr für Minderjährige in Krisen- und Notsituationen zuständig.
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325 unsere jugend, 68. Jg., S. 325 - 333 (2016) DOI 10.2378/ uj2016.art45d © Ernst Reinhardt Verlag München Basel von Anna-Lena Iselhorst Jg. 1989; Sozialarbeiterin; Mitarbeiterin des Berliner Notdienst Kinderschutz; Ausgebildete Mediatorin Der Berliner Notdienst Kinderschutz (BNK) Krisenintervention rund um die Uhr Mitte der 70er Jahre wurde in Berlin das Notdienstsystem für den Kinderschutz gegründet. Durch viele Entwicklungen und Veränderungen besteht der heutige Berliner Notdienst Kinderschutz aus sechs Teilbereichen. Gemeinsam mit den Berliner Bezirksjugendämtern ist der BNK rund um die Uhr für Minderjährige in Krisen- und Notsituationen zuständig. Da in dem hier vorgestellten Arbeitsbereich überwiegend Sozialpädagoginnen arbeiten, verwende ich ausschließlich die weibliche Form. Dies soll keine Form der Diskriminierung darstellen. Die Sozialarbeiter sind an jeder Stelle ebenfalls mit einbezogen. Struktur des BNK Der BNK ist ein Teilbereich des Bezirkes Friedrichshain-Kreuzberg und nimmt im Auftrag aller Bezirksjugendämter seine Aufgaben wahr. Der Notdienst setzt sich aus sechs Standorten zusammen. Zum BNK gehören die Hotline Kinderschutz (0 - 18 Jahre), der Kindernotdienst (0 - 14 Jahre), der Jugendnotdienst (14 - 18 Jahre), der Mädchennotdienst (12 - 21 Jahre), die Kontakt- und Beratungsstelle für Straßenjugendliche (KuB) und das SleepIn (14 - 20 Jahre). In den Bereichen Hotline Kinderschutz, Kontakt- und Beratungsstelle und Mädchennotdienst finden Kooperationen der öffentlichen und freien Jugendhilfe statt. Hierzu wurden Verträge mit Trägern der freien Jugendhilfe geschlossen, die diese Arbeitsbereiche fachlich und organisatorisch unterstützen. Die Hotline Kinderschutz arbeitet mit dem Träger Lebenswelt e.V., die KuB arbeitet mit dem Berliner Jugendclub e.V. und der MND mit Wildwasser e.V. zusammen. Die Standorte des BNK verfügen über eigenständige Technik- und Verwaltungsbereiche. Die Mitarbeiterinnen dieser Bereiche sichern die Versorgung der Minderjährigen in Krisen ab. Insgesamt sind im BNK über 120 Mitarbeiterinnen tätig. Der BNK ist ein wichtiger Bestandteil vom Netzwerk Kinderschutz in Berlin. Für die Unterbringung im Rahmen der Inobhutnahme von unbegleiteten minderjährigen Ausländern (umA) ist eine separate Einrichtung, die Erstaufnahme- und Clearingeinrichtung (EAC) der Senatsverwaltung Bildung, Jugend, Wissenschaft zuständig. Die Senatsverwaltung übernimmt in Kooperation mit der EAC das Krisenclearing und die abschließende Zuweisung an ein Berliner Jugendamt. 326 uj 7+8 | 2016 Berliner Notdienst Kinderschutz Die Verwaltungsvereinbarung zum BNK wurde Anfang 2016 neu verabschiedet und wird in Kürze veröffentlicht. In dieser Verwaltungsvereinbarung sind die Aufgaben und Ziele des BNK festgelegt. Aufgaben des BNK Der BNK sichert gemeinsam mit den Berliner Jugendämtern die 24-h Präsenzpflicht der Öffentlichen Jugendhilfe ab. Die Berliner Jugendämter sind von montags bis freitags von 8 - 18 Uhr erreichbar. Außerhalb dieser Zeiten nimmt der BNK die hoheitliche Aufgabe der Inobhutnahme von Minderjährigen nach § 42 SGB VIII wahr. Weiterhin obliegt dem JND/ MND rund um die Uhr die Aufgabe der Inobhutnahme von auswärtigen Minderjährigen. Für diese Minderjährigen stellt der BNK das fallzuständige Jugendamt in Berlin dar. Im Jahr 2015 wurden allein im JND/ MND 936 Jugendliche aus anderen Bundesländern und/ oder dem Ausland in Obhut genommen. Die Mitarbeiterinnen im BNK klären die Krisensituation, leiten die Hilfeplanung gemeinsam mit dem Heimatjugendamt ein und organisieren die Rückführung zu den Sorgeberechtigten. Zeichnet sich ab, dass eine Lösung innerhalb von 3 Tagen nicht erarbeitet werden kann, wird die Inobhutnahme an ein Berliner Jugendamt übergeleitet. Durch das Berliner Jugendamt erfolgt dann die Klärung der Situation. Oftmals führt eine unklare Zuständigkeit zu Verzögerungen in der Krisenklärung. Bsp. Die Sorgeberechtigten leben getrennt, in unterschiedlichen Städten. Der Minderjährige war lange Zeit auf Trebe und es ist nicht klar, wo er sich genau aufgehalten hat. Durch den BNK erfolgt die Klärung, welches Jugendamt in Deutschland für den Jugendlichen zuständig ist. Für die Polizei ist der Notdienst der erste Ansprechpartner der Jugendhilfe. Greift die Polizei einen vermisst gemeldeten oder straffällig gewordenen Minderjährigen auf und die Sorgeberechtigten können nicht erreicht werden, erfolgt die Abholung bei der Polizei durch den BNK. Viele Minderjährige wenden sich auch selbstständig an die Polizei, da sie sich in Not befinden. Durch die Polizeidienststelle wird in diesem Fall ebenfalls Kontakt zum BNK hergestellt, welcher dann tätig wird (vgl. AV ZustJug, Nr. 7, 2014). Der BNK berät telefonisch und ambulant Minderjährige in Krisensituationen, nimmt nach §42 SGB VIII Minderjährige in Obhut und sichert eine geeignete Krisenunterbringung. Außerdem übernimmt der BNK die Gefährdungseinschätzung nach § 8 a SGB VIII und die Fachkräfteberatung nach § 8 b SGB VIII. Neben den Minderjährigen selbst lassen sich auch Eltern, Freunde oder Bekannte der Familien sowie pädagogische Fachkräfte beraten. Telefonische und ambulante Krisenberatungen sind ggf. auch anonym möglich. Zwei Drittel der Beratungen und Inobhutnahmen finden abends, nachts sowie an den Wochenenden und Feiertagen statt, also außerhalb der Erreichbarkeiten der Berliner Jugendämter. Gesamt telefonische Beratung ambulante Beratung Inobhutnahme 2010 2011 2012 2013 2014 2015 4241 4012 4517 4179 4305 4402 1812 1404 1940 1764 1872 1471 729 912 770 696 702 748 1700 1696 1807 1719 1731 2183 Tab. 1: Intervention des JND/ MND 327 uj 7+8 | 2016 Berliner Notdienst Kinderschutz Jugendnotdienst/ Mädchennotdienst (JND/ MND) Stellvertretend für die anderen Bereiche des BNK wird hier über die Arbeit im JND/ MND berichtet. Die Leitideen des JND/ MND sind: ➤ Wir begegnen jedem mit Offenheit und Respekt. ➤ Wir betrachten Krisen als Chance zur Veränderung. ➤ Wir richten unsere Aufmerksamkeit auf die Kompetenzen und Ressourcen des Einzelnen und der Familie. ➤ Wir suchen gemeinsam mit den Jugendlichen nach konstruktiven Lösungen und machen Mut, Neues zu probieren. ➤ Unsere oberste Priorität ist der Kinderschutz. Eine Inobhutnahme im JND/ MND könnte wie folgt ablaufen: Zu Beginn steht meist eine telefonische Kontaktaufnahme. Einige Jugendliche rufen zuerst an und lassen sich telefonisch beraten. Im Rahmen dieser telefonischen Beratung werden erste Informationen zur aktuellen Gefährdungsabschätzung gesammelt. Durch das Gespräch kann sich herausstellen, dass eine persönliche Beratung notwendig oder gewünscht ist, dann kommen die Jugendlichen in den JND/ MND. Doch auch ohne vorherige Ankündigung können Jugendliche in den JND/ MND kommen. Es erfolgt eine persönliche Beratung durch eine Sozialarbeiterin. Nach dem Gespräch mit der oder dem Jugendlichen wird Kontakt zu den Sorgeberechtigten hergestellt. Ein gemeinsames Gespräch mit den Sorgeberechtigten im Notdienst stellt eine Option dar, um einen umfassenden Eindruck der Situation zu erhalten. Oft wollen auch die Eltern erst einmal persönlich beraten werden, weil sie sich durch die Probleme verunsichert fühlen. Sollten zur Einschätzung der aktuellen Gefährdungssituation weitere Informationen benötigt werden, erfolgt eine Kontaktaufnahme mit anderen relevanten Personen. Nach der Einschätzung der Gefährdungslage sind mehrere Optionen möglich. Wenn es genügend Ressourcen in der Familie gibt, gelingt oft eine Rückvermittlung. Erfolgt eine Inobhutnahme, muss auch eine geeignete Krisenunterbringung gesichert werden. Diese Unterbringung wurde im Jahr 2001 an die Träger der freien Jugendhilfe abgegeben, die regionale und spezialisierte Kriseneinrichtungen zur Verfügung stellen. Im Bereich der Jugendlichen gibt es 14 regionale Krisengruppen sowie spezialisierte Unterbringungen für suizidgefährdete Jugendliche, für Mädchen und für von Gewalt und Zwangsverheiratung bedrohte Mädchen und junge Frauen. Eine vorläufige Unterbringung im JND/ MND soll eine Ausnahme darstellen. Der gesamte Verlauf wird ausführlich dokumentiert und am folgenden Werktag an das zuständige Jugendamt übermittelt. Bis zu dieser Übermittlung verbleibt die rechtliche Verantwortung im JND/ MND. Dies beinhaltet die Information und Beratung der Sorgeberechtigten und evtl. Verhandlungen mit Krankenhäusern, Polizei und der Justiz. Auch die Krisengruppen erhalten alle notwendigen Informationen. Im Jahr 2015 waren die häufigsten Gründe für die Inobhutnahme eskalierte Ablösekonflikte, Überforderung der Eltern und die unbegleitete Einreise aus dem Ausland. Die meisten Jugendlichen werden jedoch mit einer Vielzahl von Problemlagen in Obhut genommen. Bei einer besonderen Gefährdungslage kann im Rahmen der Inobhutnahme eine Auskunftssperre verhängt werden. Seit fast 30 Jahren besteht eine enge Kooperation zu Papatya, wo eine anonyme Unterbringung für besonders gefährdete Mädchen und junge Frauen möglich ist. Organisation des JND/ MND Der JND verfügt über 10 Notplätze, der MND über 3 Notplätze inklusive einem Mutter-Kind- Platz. Diese sind ausschließlich für auswärtige 328 uj 7+8 | 2016 Berliner Notdienst Kinderschutz Jugendliche vorgesehen. Obwohl der Betreuungsauftrag für Berliner Jugendliche bei freien Trägern liegt, erfolgen nahezu täglich Unterbringungen im JND/ MND. Gründe dafür sind, dass die Kriseneinrichtungen oft voll belegt sind, viele Einrichtungen eine Aufnahme am Abend oder in der Nacht ablehnen oder die Aufnahme von Jugendlichen wegen deren Verhaltensoriginalität abgelehnt wird. Deshalb werden seit 2012 zunehmend oft bis zu 22 Jugendliche pro Nacht im JND/ MND beherbergt. Zum technischen Personal gehören eine Köchin, ein Hausmeister, zwei Verwaltungsmitarbeiterinnen und eine Hauswirtschaftsleiterin, die von montags bis freitags tagsüber arbeiten und die Versorgung organisieren (Einkauf, Essenvorbereitung, Wäsche usw.). Im JND/ MND arbeiten insgesamt 40 Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter, viele auf eigenen Wunsch in Teilzeit. Die Mindestbesetzung während einer Schicht sind 5 Sozialarbeiterinnen, die gemeinsam alle Arbeitsbereiche abdecken: Eine Kollegin arbeitet im MND und die anderen 4 im Bereich des JND. In der Regel arbeiten 2 Mitarbeiterinnen im Beratungsbereich, eine betreut die aufgenommenen Jugendlichen und eine Sozialarbeiterin koordiniert die Arbeit und übernimmt telefonische Beratungen im Basisbereich. Bei Bedarf müssen sich die Kolleginnen jederzeit neu organisieren. Dort, wo sich der Arbeitsanfall ballt, müssen die Mitarbeiterinnen tätig werden. Aktuelle Versorgungsprobleme im JND/ MND Als Zielgruppe des JND werden alle Jugendlichen definiert, die sich in einer Not- oder Krisensituation befinden. Bis 2005 hat das Berliner Krisenversorgungssystem für Jugendliche im Zusammenwirken von öffentlicher und freier Jugendhilfe gut funktioniert. In Verbindung mit marktwirtschaftlichen Prinzipien in der Jugendhilfe wurden in Berlin ab 2006 ca. 40 Krisenplätze für Jugendliche geschlossen und viele weitere in Clearingplätze umgewandelt, um eine hohe Platzauslastung zu erreichen. Deshalb können nicht mehr alle Jugendlichen sofort einen Unterbringungsplatz in Notsituationen finden. Sie verbleiben deshalb oft im JND/ MND, wo dies zu dauerhafter Überbelegung führt und leider auch deutlich öfter zur Eskalation aufgrund der Enge, Zusammenballung von Konfliktlagen und für diese Vielzahl von Jugendlichen ungenügende Personalausstattung. Im März 2014 wurde der Unterbringungsbereich des JND für einige Wochen geschlossen, um wieder Stabilität zu erreichen. Die Versorgung der Minderjährigen konnte in dieser Zeit nur durch ein enges Zusammenwirken im BNK gesichert werden. Seit Bestehen der einzelnen Bereiche versuchen diese, sich immer wieder den neuen Anforderungen zu stellen und auf neue Bedarfe schnell zu reagieren, seit 2008 im nun bestehenden Verbund. Im April 2015 musste die EAC aufgrund eines Brandes schließen. Der JND/ MND übernahm kurzfristig von April bis August 2015 in enger Kooperation mit der Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Wissenschaft die Inobhutnahme und kurzzeitige Betreuung von neu eingereisten unbegleiteten minderjährigen Ausländern in Berlin. Die Statistikzahlen des Jahres 2015 müssen daher vor diesem Hintergrund betrachtet werden. Diese Jugendlichen haben die Arbeit im JND/ MND verändert. Sprachmittler sind für Beratungen zur Regel geworden, ohne unsere Mitarbeiterinnen mit Sprachkenntnissen wäre die Arbeit nicht zu leisten. Die jungen Flüchtlinge haben eine lange Flucht und möglicherweise traumatisierende Erfahrungen gemacht. Zum anderen sind sie auch pubertierende Jugendliche mit allem, was dazu gehört, von Autonomiestreben, Beziehungen, Drogenmissbrauch, Grenzverletzungen, Identitätssuche, Schul- und Ausbildungsfragen bis zu Zukunftsplänen. Für diese Jugendlichen ist die Lebensphase Pubertät durch die Sprachbarriere und die völlig neue Lebenssituation in Deutschland deutlich schwieriger. 329 uj 7+8 | 2016 Berliner Notdienst Kinderschutz Das Clearing ist inzwischen schnell abgeschlossen, trotzdem kommen nach wie vor viele junge Geflüchtete in den JND/ MND, weil sie Probleme in ihrer Einrichtung haben, weil sie lieber in Berlin leben wollen, weil der JND/ MND sich jetzt auch um Familienzusammenführungen mit Angehörigen in anderen Bundesländern kümmert. Die Flucht vor Gewalt in den Sammelunterkünften und vor Zwangsverheiratung ist wieder häufiger als in den letzten Jahren Thema. Zu beobachten ist, dass in den letzten Jahren der Drogenkonsum der aufgenommenen Jugendlichen gestiegen ist (vgl. Tab. 2). Die jungen Flüchtlinge brauchen auch Schutz vor organisierter Kriminalität. Im Unterbringungsbereich des JND/ MND sind Drogen und Alkohol verboten. Kommen Jugendliche alkoholisiert bzw. mit deutlichen Anzeichen auf Drogenkonsum, erfolgt die Kontaktaufnahme zur Feuerwehr. Im Krankenhaus muss festgestellt werden, ob eine Aufnahme im JND/ MND möglich ist oder der Jugendliche im Krankenhaus verbleibt. Trotzdem erfolgen dann eine Inobhutnahme und die weitere Klärung mit den Sorgeberechtigten über den JND/ MND und am Folgetag die weiteren Abstimmungen mit dem zuständigen Jugendamt. Weiterhin ist die Anzahl der psychisch auffälligen Jugendlichen im JND/ MND gestiegen (vgl. Tab. 3). Vermehrt werden Jugendliche aufgenommen, die bereits in der Kinder- und Jugendpsychiatrie (KJP) behandelt wurden. Häufig liegt eine Einnahme von Psychopharmaka vor. In diesen Fällen und bei Anzeichen von Suizidalität wird eng mit der KJP kooperiert. Aufgrund der vielschichtigen Problemlagen der Jugendlichen und der nicht bedarfsgerechten Platzkapazitäten in der Jugendhilfe werden oftmals die als „besonders schwierig“ geltenden Jugendlichen (sog. „Systemsprenger“) an den JND/ MND verwiesen. Besonderheiten des MND Im MND beraten und betreuen ausschließlich weibliche Mitarbeiterinnen. Es gibt eine separate Betreuungsetage, die als Schutzraum für Mädchen definiert ist. Die männlichen Mitarbeiter dürfen die Etage nur nach Absprache betreten. Der Schutz der Mädchen steht an oberster Stelle. Mädchenspezifische Themenfelder im Bereich des MND: ➤ Zwangsverheiratung, Diskriminierung ➤ sexuelle, psychische und physische Gewalt ➤ unbegleitete Mädchen und junge Frauen ➤ Prostitution ➤ Schwangerschaft ➤ Konflikte durch ihre sexuelle Orientierung ➤ Minderjährige und/ oder junge volljährige Mütter mit Kleinkindern Auch im Bereich des MND hat sich die Arbeitssituation durch die verstärkte Ankunft von Flüchtlingen verändert. Allein reisende Mädchen oder junge Frauen kommen vermehrt in den MND, auch sie mit traumatischen Erfahrungen wie z. B. Vergewaltigungen während der Flucht mit folgender Schwangerschaft. Aktuell werden im Gesamt männlich weiblich 2012 2013 2014 2015 403 470 537 719 243 288 397 472 160 182 140 247 Tab. 2: Anzahl der drogenkonsumierenden Jugendlichen im JND/ MND Gesamt männlich weiblich 2012 2013 2014 2015 303 356 375 870 124 147 192 376 179 209 183 494 Tab. 3: Anzahl der psychisch auffälligen Jugendlichen im JND/ MND 330 uj 7+8 | 2016 Berliner Notdienst Kinderschutz MND häufiger Mädchen in Obhut genommen, die mit ihren Eltern in Sammelunterkünften untergebracht sind. Diese Mädchen sind meist von massiver körperlicher und psychischer Gewalt und/ oder von Zwangsheirat betroffen. Zukunftswünsche Dringend müssen ausreichend Krisenplätze für Jugendliche in Berlin geschaffen werden. Die Unterbringung in einer Kriseneinrichtung muss rund um die Uhr und ohne Einschränkungen möglich sein. In den Kriseneinrichtungen sollte es mehr Einzelzimmer geben, damit auch ein Rückzugsort für Jugendliche möglich ist, sowie ausreichend Personal für die am Bedarf orientierte, ggf. individuell ausgestaltete Betreuung der Jugendlichen in der Krise. Die marktwirtschaftliche Organisation der Jugendhilfe führt dazu, dass schwierige Jugendliche abgelehnt und/ oder schnell wieder entlassen werden. Bei der Ausgestaltung der Jugendhilfeangebote muss auf die sich ändernden Bedarfe der Jugendlichen eingegangen werden. Die ausschließliche Forderung nach Anpassung durch die Jugendlichen geht an der Lebensrealität vorbei und berücksichtigt die Gestaltungsmöglichkeiten, insbesondere durch die Jugendlichen selbst, zu wenig. Auch wir wünschen uns eine gesicherte Personalausstattung. Die Sparmaßnahmen in der öffentlichen Jugendhilfe treffen auch den BNK. Stellen bleiben unbesetzt, bis die Einsparung erbracht ist. Dies führt zu unterbesetzten Schichten verbunden mit einer zu hohen Arbeitsdichte für die verbleibenden Mitarbeiterinnen und in der Folge zu einer Gefahr für den Kinderschutz, weil das Vieraugenprinzip nicht mehr gewährleistet werden kann und die Gefahr einer Eskalation erheblich zunimmt. Last but not least muss auch endlich eine angemessene Bezahlung der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in der Jugendhilfe gewährleistet werden. Eine Nacht im JND/ MND 19: 00 Uhr: Dienstantritt Ich bin für die Beratung eingeteilt. In der Nacht werde ich meine Position wechseln, da die Arbeit möglichst auf alle im Dienst verteilt werden soll. 19: 30 Uhr: „Eine Begegnung mit mir“ Im Warteraum sitzt eine 14-jährige junge Dame. Sie möchte nicht nach Hause gehen, da sie Angst vor ihrem Vater hat. Auf meine Frage, was ich für sie tun kann und warum sie in den JND gekommen ist, beginnt sie zaghaft zu erzählen. Sie lebe allein mit ihrem Vater. In letzter Zeit käme es öfter vor, dass er sie beschimpft und ihr gegenüber aggressiv wird. Sie müsse früh zu Hause sein. Dadurch könne sie sich nicht mit ihren Freundinnen treffen, die alle länger wegbleiben dürfen. Sie habe sich entschlossen, nicht mehr nach Hause zu gehen. Im weiteren Verlauf erfahre ich, dass es keinen Kontakt zur Mutter gibt. Der Vater sei alleinerziehend. Die Konflikte zwischen Vater und Tochter seien in den letzten Monaten vermehrt aufgetreten. Sie wirkt entsetzt, als ich sie frage, ob ihr Vater ihr gegenüber handgreiflich geworden ist. „Nein, das ist er nie, aber er schimpft und schreit.“ Ich erkläre ihr, dass ich verpflichtet bin, auch ihren Vater dazu zu hören und ihn hierher zum Gespräch bitten möchte. Sie ist nicht begeistert, dass ich ihren Vater anrufen möchte. Sie fasst aber Mut, als ich ihr erkläre, dass ich ihren Wunsch, nicht nach Hause zu wollen, gehört habe. Sie lässt sich darauf ein, sprechen möchte sie mit ihm nicht. Fünf Minuten später habe ich einen irritierten, aber erleichterten Vater am Telefon. „Jugendnotdienst“, da wäre er nie drauf gekommen. Er hat seine Tochter schon „unter die Räder“ kommen sehen und wollte zur Polizei gehen. Er sei erleichtert und bereit zu kommen. Eine dreiviertel Stunde später sitzt er vor mir. Zunächst allein. Er bestätigt mir, dass die beiden in letzter Zeit häufiger in Streit gerieten. Er arbeite im Schichtdienst und habe oft nur ein klei- 331 uj 7+8 | 2016 Berliner Notdienst Kinderschutz nes Zeitfenster, um seine Tochter zu sehen. Meist zwischen 16: 00 und 18: 00 Uhr. Dann gibt es Zeit, miteinander zu sprechen, gemeinsam zu essen oder einfach nur zusammen zu sein. „Ja, sie ist in letzter Zeit nicht sehr begeistert davon, um die Zeit nach Hause zu kommen. Sie möchte mit ihren Freundinnen etwas unternehmen.“ Das könne er verstehen, aber sonst würden sie sich nicht sehen. Es wird deutlich, dass er besorgt um sie ist. Er hat Angst, dass etwas passieren könnte, wenn sie am Abend allein unterwegs ist. Er möchte seine Tochter nicht beschimpfen und er will auch keinen Streit, aber er könne ihm manchmal nicht aus dem Weg gehen, da er durch den Schichtdienst gereizt und schlecht gelaunt sei. Letztendlich ist er ratlos. Wenn sie nicht nach Hause will, dann fände er es gut, wenn sie hier bleiben könne. Ich merke, dass ich darüber nicht glücklich bin, und entschließe mich, das gemeinsame Gespräch abzuwarten. Für sie steht immer noch der Wunsch im Raum, nicht nach Hause zu gehen. Es wirkt, als wolle sie das Angefangene zum Ende durchziehen. Wir sprechen noch einmal über die Situation zu Hause. Als ich ihr erkläre, welche Hilfen das Jugendamt am kommenden Tag anbieten könnte und eine Unterbringung mit Sicherheit nicht darunter sein wird, knickt sie ein. Es ist zu spüren, dass sie eigentlich nicht weg will von zu Hause. Letztendlich ziehen beide mit Dank um 22: 00 Uhr von dannen. 23: 15 Uhr: Rückkehr zu den Kolleginnen Die Falldokumentation ist erledigt. Nach Besprechung der bei meinen Kolleginnen eingegangenen Fälle übernehme ich das Telefon und den Eingangsbereich (Basisbereich). Mir geht durch den Kopf, dass ich in der letzten Schicht ab ca. 0: 00 Uhr einen hartnäckigen Witzbold in der Leitung hatte. 2 Stunden lang hat er in kurzen Abständen angerufen. Die Nummer unterdrückt. Manchmal hörte ich ihn nur atmen. Ein weiteres Mal richtete er mit verstellter Stimme ein Hilfeersuchen an mich, das bei Fragen mit Auflegen quittiert wurde. Trotzdem noch freundlich zu bleiben, ist nicht einfach. Unterdrückte Telefonnummern sind keine Seltenheit. Manche Jugendliche und Eltern brauchen den Schutz der Anonymität, da es ihnen ansonsten schwer fällt, ihre Belange zu formulieren. 0: 15 Uhr: „Wo soll ich hin mit 19 Jahren? “ Ein junger Mann ist am Telefon. Er sei bei seinen Eltern rausgeflogen und habe keine Ahnung, wo er schlafen soll. Ich kann ihm nur mitteilen, dass er bei uns keine Aufnahme finden wird. Minderjährige können wir im Rahmen der Inobhutnahme unterbringen, aber junge Volljährige, da geht bei uns nichts. Dennoch kann ich ihn mit Telefonnummern und Adressen ausstatten. Es ist nach Mitternacht. Viele Notübernachtungen sind ab 22: 00 Uhr überfüllt. Er bedankt sich und legt auf. In der Nacht stößt es mir häufiger sauer auf, dass ich nicht mehr tun kann. Wer das Internet anschmeißt und Jugendliche/ Notdienst googelt, der kommt ohne Umschweife auf unsere Internetseite. Für ganz Deutschland gilt das. Zudem sind wir immer erreichbar. Nicht nur junge Erwachsene, sondern Jugendliche und überforderte Eltern aus ganz Deutschland rufen an und ersuchen um Hilfe. Allzu oft sitze ich zusammen mit den Anrufern vor dem Internet und suche Adressen/ Telefonnummern der Heimatjugendämter und Beratungsstellen raus, damit sie die nächsten Schritte in Angriff nehmen können. 1: 00 Uhr: „Eine Passantin ist besorgt“ Am Telefon habe ich eine Frau, die fragt, was sie mit einem Mädchen tun soll, die hinter ihr her laufe. Ihre Frage irritiert mich und ich bitte sie, mehr zu erzählen. Es stellt sich heraus, dass die Frau zu ihrem Spätkauf um die Ecke gegangen ist, um sich mit Utensilien für die Nacht zu versorgen. Am Spätkauf sei sie auf eine Jugendliche getroffen, die etwas verloren aussah. Bis zu unserem Telefonat konnte sie herausbekommen, dass das Mädchen 16 Jahre alt ist und sich seit Stunden in den Straßen herumtreibt. Das Mädchen wolle nicht nach Hause und habe begonnen, ihr zu fol- 332 uj 7+8 | 2016 Berliner Notdienst Kinderschutz gen. Sie werde das Mädchen nicht los und fragt, ob ich da etwas tun könnte. Ich frage nach, ob das Mädchen betrunken erscheint oder ggf. unter Drogeneinfluss stehen könnte. Die Frau verneint dies. Ich bitte sie, das Mädchen zu fragen, ob sie mit mir reden möchte. Eine kurze Frage, dann werde ich weitergereicht. Am anderen Ende herrscht Schweigen. Als ich die Frau wieder am Telefon habe, teilt sie mir mit, dass das Mädchen nur mit dem Kopf geschüttelt habe. Auch ich werde langsam ratlos, frage jedoch, ob sie mit ihr zur Polizei gehen könne oder sie zu uns begleiten würde. Die Frau wolle das kurz mit dem Mädchen besprechen und erneut anrufen. In der Zwischenzeit bespreche ich mich mit 2 Kolleginnen. Auch sie finden diese Geschichte kurios. Gemeinsam warten wir ab, bis die Frau zurückruft. Nach einigen Minuten ruft sie an und teilt mit, dass sich das Mädchen darauf einlassen kann, mit ihr zusammen zu uns zu kommen. Da sie am anderen Ende der Stadt seien, vereinbare ich mit der Frau, ihnen ein Taxi zu schicken, mit dem sie dann zu uns gebracht werden können. Eine Stunde später sind sie bei uns. Die Frau ist froh, bei uns angelangt zu sein. Das Mädchen schaut mich mit eisigem Blick an, gibt mir aber irritiert die Hand, als ich ihr meine Hand freundlich entgegenstrecke. Meine Frage, ob sie hungrig ist, scheint für sie ebenfalls irritierend. Es hat kurz den Anschein, als würde sie auftauen, aber nach einem kurzen Moment verfällt sie in ihr eisiges Verhaltensmuster. Sie wolle nichts essen. Meine Kolleginnen gehen mit der Jugendlichen zu zweit in die Beratung. Nach einer halben Stunde kommen sie aus der Beratung zurück. Beide haben das Gefühl, dass etwas mit dem Mädchen nicht stimmt, aber sie können ausschließen, dass sie unter Alkohol- oder Drogeneinfluss steht. Kurz überlegen wir, ob wir sie im Krankenhaus vorstellen. Aber eine Selbst- oder Fremdgefährdung ist nicht erkennbar. Sie schweigt, möchte ihren Namen und ihre Adresse nicht sagen und lässt sich maximal darauf ein, bis zum Morgen bei uns zu bleiben und etwas zu schlafen. Eine Kollegin beginnt sich durch die Polizeiabschnitte zu telefonieren. Sie hat den Namen, die Anschrift und die Telefonnummer der Mutter des Mädchens herausbekommen. Sie hat auch mit ihr telefoniert. Es habe einen Streit zu Hause gegeben, in deren Folge sich das Mädchen von der Wohnung weg begeben habe. Es folgte eine Vermisstenanzeige der Mutter bei der Polizei und die Sorge darum, dass ihr etwas passiert sein könnte. Nun besteht die Chance, dass sich beide am folgenden Tag aussprechen können. 3: 00 Uhr: Es wird ruhiger Die ganze Aktion hat 2 Stunden gedauert. Im Nebenzimmer höre ich die Kollegin auf der Tastatur herumhämmern. Die Verschriftlichung einer Beratung und Inobhutnahme kann Zeit und Papier in Anspruch nehmen. Alles in allem können da bis zu 10 Seiten zusammenkommen. Ein Bogen mit den persönlichen Daten. 7 Seiten des „Berlin einheitlichen Erfassungsbogens“, der bei einer Kindeswohlgefährdung ausgefüllt werden muss, sowie ein ausführlicher Vermerk, der bei einer Erstaufnahme durchaus bis zu 2 Seiten umfassen kann, müssen bearbeitet und geschrieben werden. Wir sind eine Behörde, auch um 3: 00 Uhr nachts. Es ist etwas Zeit, zur Ruhe zu kommen. Das Telefon schweigt. Ich gebe ein paar Statistikbögen im PC ein, hänge ein Paar Akten wieder an ihren Platz im Aktenschrank und vertreibe mir die Zeit. 5: 30 Uhr: „Die Nachbarn werden wachgerüttelt.“ Die Schicht ist noch nicht vorbei. Ich höre, wie ein Auto auf den Hof fährt. Eine telefonische Ankündigung gab es nicht. Dennoch sehe ich ein Polizeiauto vor der Tür. 4 Beamte steigen aus und mit ihnen ein junger Mann, der sich zur Wehr setzt und Beschimpfungen in einer mir unbekannten Sprache über die Beamten ergehen lässt. Er ist in Rage und geht die Beamten an. Eine Beamtin erklärt mir, dass der Jugendliche sauer sei, da sie sein Handy konfisziert haben. Sie gehen davon aus, dass es gestohlen sei. Der junge Mann schreit 333 uj 7+8 | 2016 Berliner Notdienst Kinderschutz immer noch und macht deutlich, dass er sein Handy wieder haben will. Den Beamten ist ihre Hilflosigkeit anzusehen. Mit dem Handy hatten sie nichts zu tun, sie hatten nur den Auftrag, den Jugendlichen in den Notdienst zu bringen. Ihre Idee besteht darin, dass sie wegfahren und sich dann die Situation wieder beruhigen wird. Der junge Mann sei ja nur auf die Polizei sauer, nicht auf mich oder den Jugendnotdienst. Ich bin mir da nicht sicher. Mir kommt eine Situation in den Sinn. Vor 2 Jahren hatte ein Jugendlicher im Beratungsgespräch einen aggressiven Ausbruch bekommen. Er hat den gesamten Beratungsraum zerlegt, mit Stühlen geworfen und unsere Panzerglasscheibe im Eingangsbereich eingeschlagen. Danach ging er seelenruhig zur S-Bahn und verschwand. Gottlob konnte sich der junge Mann auf dem Hof beruhigen. Als der Polizeiwagen weg ist, schnauft er durch und beginnt zu weinen. Ich kann ihn mit ins Haus nehmen. Auf Englisch erklärt er mir, dass er alle Nummern auf seiner SIM-Karte habe. Er bekommt von mir seine Ausweispapiere, die mir von der Polizei übergeben wurden, ausgehändigt. Nachdem er sich kurz gefasst hat, schlägt er mit voller Wucht gegen die Tür eines Büroraumes und verlässt den Jugendnotdienst. Erst jetzt bemerke ich, dass ich den Tätigkeitsbericht der Polizei noch in den Händen halte. Ich schaue ihn durch und erfahre, dass der Junge 17 Jahre alt ist, aus Algerien stammt und sich derzeit ohne seine Eltern in Deutschland aufhält. Seine letzte Wohnanschrift ist nicht aktuell. Um 7: 00 Uhr habe ich aus den dürftigen Informationen einen Vermerk geschrieben. Um 7: 30 Uhr habe ich den Kolleginnen der Frühschicht von der Nacht und den im Haus befindlichen Jugendlichen berichtet und begebe mich auf den Nachhauseweg. Anna-Lena Iselhorst Jugendnotdienst/ Mädchennotdienst Mindenerstr. 14 10589 Berlin Literatur Ausführungsvorschriften über die Zuständigkeit der Jugendämter auf dem Gebiet der Kinder- und Jugendhilfe (AV Zuständigkeit Kinder- und Jugendhilfe - AV ZustJug) vom 21. 12. 01 zuletzt geändert am 9. 10. 2014 Das Achte Buch Sozialgesetzbuch - Kinder- und Jugendhilfe - vom 26. Juni 1990 (BGBI. I S. 1163) i. d. F. der Bekanntmachung vom 11. September 2012 (BGBI. I S. 2022), zuletzt geändert durch Artikel 1 des Gesetzes vom 29. August 2013 (BGBI. I S. 3464) Berliner Notdienst Kinderschutz; Jahresbericht 2015 Berliner Notdienst Kinderschutz. Abgerufen am 2. 4. 2016 von http: / / www.berliner-notdienst-kinderschutz. de/ jugendnotdienst.html
