unsere jugend
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Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/uj2016.art53d
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Arbeitsbelastung und Wertschätzung im Allgemeinen Sozialen Dienst
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Ulrike Petry
Wie entsteht die Haltung einer Fachkraft im Allgemeinen Sozialen Dienst (ASD) und welche Rolle spielt im Belastungserleben die Wertschätzung? Diese Fragen werden im folgenden Beitrag näher betrachtet. Ein besonderer Fokus wird dabei auf die Unterbezahlung, das Image, die Arbeitsbedingungen, die steigende Belastung und den professionellen Umgang mit Klienten gerichtet.
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389 unsere jugend, 68. Jg., S. 389 - 394 (2016) DOI 10.2378/ uj2016.art53d © Ernst Reinhardt Verlag München Basel von Dr. Ulrike Petry Jg. 1964; Dipl.-Pädagogin, Abteilungsleitung im Jugendamt der Stadt Offenbach a. M. Arbeitsbelastung und Wertschätzung im Allgemeinen Sozialen Dienst Wie entsteht die Haltung einer Fachkraft im Allgemeinen Sozialen Dienst (ASD) und welche Rolle spielt im Belastungserleben die Wertschätzung? Diese Fragen werden im folgenden Beitrag näher betrachtet. Ein besonderer Fokus wird dabei auf die Unterbezahlung, das Image, die Arbeitsbedingungen, die steigende Belastung und den professionellen Umgang mit Klienten gerichtet. Die mangelnde finanzielle Wertschätzung Sozialer Arbeit ist nicht erst seit den Streiks in den Sozialen Diensten und Kitas 2015 Thema in der Öffentlichkeit. Die Dotierung der Stellen in kommunalen Sozialen Diensten und die mit der Arbeit einhergehende Belastung und Verantwortung im Kinderschutz liegen seit Jahren deutlich im Ungleichgewicht. Traditionell unterbezahlt Die Entwicklung hat Tradition: Schon in der Weimarer Republik wurde über die Eingruppierung der Stellen in der professionellen, öffentlichen Jugendhilfe diskutiert. So forderte bereits die Sozialpolitikerin Marie Baum, dass die Bezahlung der damals als FürsorgerInnen bezeichneten Fachkräfte der Dotierung der LehrerInnen gleichgestellt werden müsse. Eine finanzielle Gleichstellung war staatlicherseits angedacht und sogar 1924 ausdrücklich in einem preußischen Ministerialerlass verfügt. Dies hätte sowohl finanziell als auch in Bezug auf das Ansehen für einen anderen Status der Fürsorge gesorgt (Baum 1951, 60). Schlechtes Image Die Unterbezahlung wird von einem schlechten Image begleitet. Die Soziale Arbeit im Allgemeinen und die Sozialarbeit im kommunalen Jugendamt im Speziellen hat in der Öffentlichkeit in den letzten Jahren eine zweifelhafte mediale Aufmerksamkeit erfahren. Tragische Fälle von Kindesmisshandlung und -vernachlässigung bis hin zum Kindstod waren Anlass, die sonst eher im sozialen Abseits stattfindende Arbeit der Fachkräfte des kommunalen Sozialen Dienstes zu thematisieren. Wurde in den Jahren vor dem „Fall Kevin“ in Bremen das Jugendamt eher als Eingriffsbehörde dargestellt (und wahrgenommen), so kam ihm danach auch die Rolle als Schuldiger und Sündenbock zu - eine Behörde, die tatenlos und ohnmächtig Kinder ihrem Schicksal überlässt. 390 uj 9 | 2016 Arbeitsbelastung und Wertschätzung im ASD Das Amt wird immer auch durch seine MitarbeiterInnen repräsentiert, doch wodurch zeichnet sich der im Jugendamt (Un)Tätige aus? Der Sozialarbeiter oder die Sozialarbeiterin im Jugendamt - seine/ ihre Wahrnehmung als AnsprechpartnerIn mit Verständnis und Hilfsangeboten für alle Lebenslagen einerseits und als Kontrollinstanz andererseits wandelt sich: von der/ dem burnout-gefährdeten Case-ManagerIn mit Fallüberhang und Überlastanzeige bis hin zur Projektion eines rund um die Uhr allen Gefahrensituationen gewachsenen Kinder- und Familienprofis. Hinter dem Paradigmenwechsel von der/ dem intensiven BeziehungsarbeiterIn zur/ zum Fall- oder VerwaltungsmanagerIn deutet sich der Generationenwechsel im Sozialen Dienst an: Durch politische Entscheidungen und die daraus folgenden Personalsparmaßnahmen ist das Personal in vielen Sozialen Diensten im Durchschnitt über fünfzig Jahre alt. Das ändert sich aktuell. Schwierige Arbeitsbedingungen Junge KollegInnen werden, aufgrund neuerer Entscheidung der Politik - unter dem öffentlichen und fachlichen Druck gefällt - wieder gesucht und eingestellt. Sie tun sich vielfach schwer, sich in die Teams der Sozialen Dienste und die dort aktuell bestehende Belastung einzufinden. Geprägt durch die eher auf soziales Management und differenzierte Methoden ausgerichtete Lehre an den Hochschulen stoßen sie auf die gewachsene Kultur praktischer Sozialarbeit einerseits und das hohe Fall- und Arbeitsaufkommen andererseits. Meist aufgrund des vergleichsweise jungen Alters ohne viel Erfahrung im Arbeitsleben oder im eigenen Familienleben geht es um Multiproblematiken bei der Klientel und um Umbrüche und Umorganisationen beim Arbeitgeber Sozialverwaltung. Schlechtere Bezahlung jüngerer Fachkräfte und Zeitverträge tun ein Übriges, die Integration der neuen Fachkräfte in bestehende Teams zu erschweren. Fluktuation bei Neuzugängen und Krankheitsausfälle bei altgedienten Kräften verschärfen die Situation ebenso wie die Wirtschaftskrise, die mitverantwortlich für einen Anstieg der Fälle ist. So ist es nicht weiter verwunderlich, dass in diesem Sektor von Fachkräftemangel gesprochen wird. Die fachliche Diskussion um die Zustände in den deutschen Jugendämtern begann schon bevor die Todesfälle bei kleinen Kindern durch die Medien bekannt gemacht wurden. Durch das gestiegene öffentliche Interesse bekam die Debatte jedoch noch mehr Dynamik und Brisanz. Fallanstieg bei leeren Kassen Zahlreiche Organisationsuntersuchungen und Stellenbemessungsversuche gehen der Frage nach, wie sich ein Jugendamt aufstellen muss, um seinen unterschiedlichen Aufträgen gleichzeitig nachkommen zu können - und das in Zeiten meist leerer Kassen bei der Kommune und verschärften Multi-Problemlagen im sozialen Raum. In diesem Kontext stellen sich Fragen bezüglich der Belastbarkeit des Personals: Wie viele MitarbeiterInnen sollen für wie viele Fälle zuständig sein und sie bearbeiten und dies unter dem Aspekt des Kinderschutzes und damit verbundener neuer gesetzlicher Bestimmungen? Und wie sieht es mit der (zumutbaren) Arbeitsbelastung aus, gibt es dafür verbindliche Anhaltspunkte? Ein Weg, die Arbeitsbelastung zu vergleichen, führt immer wieder über den Vergleich der Fallzahlen pro MitarbeiterIn. Eine verbindliche Maximalfallzahl, welche die Belastung der MitarbeiterInnen auf ein tolerables Maß begrenzt, haben die zahlreichen Untersuchungen aufgrund der Heterogenität der Fälle und Arbeitsweisen bis dato nicht hervorgebracht. Wie kann dann Belastung gemessen und Überlast verhindert werden? 391 uj 9 | 2016 Arbeitsbelastung und Wertschätzung im ASD Belastung und Balance Arbeit im ASD bedeutet, innerhalb einer Sozialverwaltung in Zusammenarbeit mit freien Trägern dafür Sorge zu tragen, dass Kinder, Jugendliche und Familien zu ihrem Recht kommen, dass Bedarfslagen in Krise, Not oder Belastung früh erkannt und Lebenssituationen gedeutet werden und dass Bedarfen mit passgenauen Angeboten unter Beteiligung der AdressatInnen begegnet wird. Diese Arbeit bedeutet auch, mit meist knappen finanziellen Ressourcen verantwortungsvoll umzugehen. Hilfen zur Erziehung sind - je nach Form der Hilfe - mehr oder weniger betreuungsintensive und damit kostenintensive Leistungen. Diesen komplexen und teils widersprüchlichen Anforderungen im Spannungsfeld zwischen organisationalen Bedingungen einerseits und den Bedarfen und Spezifika der KlientInnen andererseits nachzukommen, ist originär belastend. Zwischen diesen beiden Polen läuft die Fachkraft Gefahr, sich von einer der beiden Seiten assimilieren zu lassen. Wie kann hier eine Balance gelingen? Diesem Erkenntnisinteresse bin ich in zwei Untersuchungen nachgegangen, die auf folgende Fragestellungen fokussierten: Wovon wird professionelle Haltung zwischen Organisation und KlientInnen geprägt und beeinflusst und wie hängt dies mit dem Belastungserleben zusammen? Welche Rolle spielt dabei die Wertschätzung? Professionelle Haltung zwischen Organisation und KlientInnen In der folgenden Grafik (Abb. 1) ist der Prozess der Entwicklung und Verfestigung der Haltung einer Fachkraft veranschaulicht. Erfahrungen aus Privatleben, Studium, Ehrenamt sowie Vorberufserfahrungen bilden die Basis einer professionellen Haltung, die sich in der Organisation und in der Arbeit mit KlientInnen und freien Trägern ausprägt. Durch Reflexionsschleifen weist dieser Prozess in der Darstellung Ähnlichkeit mit dem hermeneutischen Zirkel auf. Die vielen Einflussfaktoren und deren Unterschiedlichkeit lassen individuelle Haltungen entstehen. Diese können zu Typen zusammenfasst werden. Kennzeichnend für die Typen ist die Position der Haltung innerhalb und zwischen den Polen Organisation und Klientensystem. Dies zeigt das zweite Schaubild (Abb. 2). Der Organisation nah verbunden mit Perspektive in derselben ist das Profil des/ der Verwaltungsmanagers/ Verwaltungsmanagerin. Die Haltung ist verwaltungsorientiert, strukturiertes und organisiertes Arbeiten sind die Hauptmerkmale. Die Wertschätzung wird von Organisationsseite erfahren (Vorgesetzte). ➤ Für den Typus BeraterIn steht die stützende und zentrale Rolle der KollegInnen und des Teams im Vordergrund. Die Haltung ist teamorientiert und Selbstbestimmung ist wichtig. Die Wertschätzung erfolgt hauptsächlich durch die KollegInnen. ➤ Fehlt diese Teamorientierung, erfolgt die Orientierung hin zur Klientel und die Fachkraft arbeitet sich als (ungewollte/ r) EinzelkämpferIn ab. Die Haltung ist vorwiegend klientenorientiert und die Wertschätzung kommt von Klientenseite. ➤ Aus letzterer Position kann die Haltung eines Aussteigers oder einer Aussteigerin entstehen, wenn Wertschätzung nur selten oder gar nicht erlebt wird. ➤ Der Typus RetterIn kann sich am stabilsten alleine und im Team in der Mitte zwischen Organisation und KlientInnen halten und überwiegend selbstwirksam agieren. Die Merkmale sind Selbstverantwortung und Selbstwirksamkeit. Die Wertschätzung wird sowohl von KlientInnen als auch von der Organisation erfahren. 392 uj 9 | 2016 Arbeitsbelastung und Wertschätzung im ASD Organisation Klienten Verwaltungsmanager Retter Einzelkämpfer Berater im Team Aussteiger Abb. 2: Haltung zwischen den Systemen Handlungswirkung Handlungswirkung Reflexion usw. Feedback, Anerkennung Intention Intention Organisation Haltung Haltung Ausgangsbasis Handlungsebene Klienten Abb. 1: Prozess des Haltungserwerbs 393 uj 9 | 2016 Arbeitsbelastung und Wertschätzung im ASD Wertschätzung und Hauptbelastung Erfahren ASD-MitarbeiterInnen aus ihrer Sicht selten oder wenig Wertschätzung von Politik und Öffentlichkeit, was typübergreifend vorkommt, so ist die Wertschätzung und Anerkennung auf den verbliebenen Ebenen umso wichtiger und prägender. Sie kann entweder innerhalb des Organisationssystems oder durch die KlientInnen erfolgen. Für alle Typen gilt, dass die erlebte Belastung und die erfahrene Wertschätzung eng miteinander zusammenhängen: ➤ Der/ die VerwaltungsmanagerIn kann in seiner/ ihrer geordneten Struktur nicht aushalten, dass Verwaltungsakte unbearbeitet liegen bleiben, dass sich durch Aufschub Chaos bildet. An der Organisation ausgerichtet und strukturiert, ist die Fachkraft auch ihrem Druck und ihrer - dann in der Haltung verinnerlichten - Forderung nach Struktur ausgesetzt und empfindet es als Maximalbelastung, wenn sie ihr nicht gerecht werden kann. ➤ Die BeraterInnen fühlen sich durch Schwächen innerhalb der Organisation (zumeist bezüglich der Leitung) oder von außen in ihrer Selbstbestimmung beeinträchtigt (Angreifbarkeit, ihre Allzuständigkeit bei der Multiproblematik der KlientInnen). Ist die Selbstbestimmung im Team haltungsprägend, so ist es maximalbelastend für die Fachkraft, wenn sie durch Überhandnehmen von Fremdbestimmung bedroht wird. Dies kann entweder durch Übergriffe seitens der Leitung oder seitens der Klientel erfolgen, je nachdem, wem gegenüber die Selbstbestimmung in der Haltung Priorität hat. ➤ Der/ die EinzelkämpferIn reibt sich in Alleinstellung den KlientInnen gegenüber auf und wird dabei von der Klientenseite „aufgesogen“. An den KlientInnen ausgerichtet und durch Lob von dieser Seite motiviert, gerät der/ die EinzelkämpferIn ohne Halt im Team in Gefahr, sich absorbieren zu lassen, und die Maximalbelastung besteht in einer Überflutung mit Fällen. ➤ Der/ die AussteigerIn kann die Spannung zwischen den Systemen nicht aushalten, fühlt sich permanent fremdbestimmt und überlastet und verlässt das Arbeitsfeld oder ist auf dem Weg hinaus. ➤ Der/ die RetterIn wird dann in Maximalstress versetzt, wenn die Balance in der Mitte nicht mehr gelingt und er/ sie in Situationen gerät, in denen er/ sie nicht selbstwirksam agieren kann, ihm/ ihr durch die selbstverantwortliche Haltung droht, die Verantwortung für Fälle nicht mehr tragen zu können. Hält er/ sie sich in der Mitte zwischen KlientInnen und Organisation und auf dieser Basis auch handlungsfähig, so stellt die in der Haltung verankerte Handlungsfähigkeit die größte Belastung dar, wenn sie im Einzelfall nicht gegeben ist. Somit bestimmt die erworbene Haltung mit ihrer jeweiligen Orientierung auch die spezifische Belastung. Deshalb kann die gleiche Situation von unterschiedlichen MitarbeiterInnen mehr oder weniger belastend erlebt werden. Professionelle Haltung in Balance - was ist zu tun? Neben der eingangs genannten finanziellen Wertschätzung ist auch die professionelle Haltung in der Bezirkssozialarbeit ein Thema, das immer wieder im Fokus steht und stehen muss. Eine Unterstützung seitens der Organisation für eine Haltung ihrer Fachkräfte, die eine Balance ermöglicht, ist notwendig und deshalb auch einzufordern. Es bedarf ausreichenden Raumes für Reflexion des eigenen Handelns und der Haltung. Deshalb ist Supervision unabdingbar. Leitungsaufgabe ist es, für ein gutes Klima im Team zu sor- 394 uj 9 | 2016 Arbeitsbelastung und Wertschätzung im ASD gen, damit Einzelkämpfertum vermieden wird. Darüber hinaus ist eine höhere Wertschätzung der Leistung der KollegInnen im Sozialen Dienst seitens Politik und Verwaltung, Leitung und der Öffentlichkeit gleichermaßen wünschenswert. Dafür ist es notwendig, das Image dieses Berufes aufzuwerten - das muss von Politik gewollt und von der Organisationsseite gestützt werden. Die Analyse der jeweiligen Situation einer Fachkraft im ASD: woher kommt die Wertschätzung für mich und was macht meine Hauptbelastung aus, kann als Voraussetzung für das Einfordern von Unterstützung an der richtigen Stelle gelten. Dr. Ulrike Petry Abteilungsleiterin Jugendamt der Stadt Offenbach a. M. ulrikebl.petry@web.de Literatur Baum, M. (1951): Familienfürsorge. Folge D. Sozialpädagogische Arbeitshefte, 5 - 56 Petry, U. (2013): Die Last der Arbeit im ASD. Beltz Juventa, Weinheim/ Basel Petry, U. (2015): Das berufliche Selbstverständnis im Kommunalen Sozialen Dienst - ein Beitrag zur Diskussion. Das Jugendamt 88, 11 - 13
