eJournals unsere jugend 69/1

unsere jugend
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0342-5258
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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2017
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„Ich fand das schlimm, wo es darum ging, ob ich noch weiter Hilfe kriege oder nicht!“

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2017
Severine Thomas
Die Teilhabechancen von jungen Erwachsenen, die die Heimerziehung / Vollzeitpflege verlassen (sog. Care Leaver), haben sich auch seit der Einführung des Kinder- und Jugendhilfegesetzes nicht gravierend geändert. Im vorliegenden Beitrag werden Ergebnisse des Projekts „Rechte im Übergang“ vorgestellt, das die Übergangspraxis aus Sicht der jungen Erwachsenen in den Blick nimmt.
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2 unsere jugend, 69. Jg., S. 2 - 9 (2017) DOI 10.2378/ uj2017.art02d © Ernst Reinhardt Verlag München Basel „Ich fand das schlimm, wo es darum ging, ob ich noch weiter Hilfe kriege oder nicht! “ Unsichere Übergänge von Care Leavern aus stationären Erziehungshilfen in ein eigenverantwortliches Leben Die Teilhabechancen von jungen Erwachsenen, die die Heimerziehung/ Vollzeitpflege verlassen (sog. Care Leaver), haben sich auch seit der Einführung des Kinder- und Jugendhilfegesetzes nicht gravierend geändert. Im vorliegenden Beitrag werden Ergebnisse des Projekts „Rechte im Übergang“ vorgestellt, das die Übergangspraxis aus Sicht der jungen Erwachsenen in den Blick nimmt. von Dr. Severine Thomas Jg. 1972; Dipl.-Sozialpädagogin/ Sozialarbeiterin, Dipl.-Sozialwirtin f. Führungskräfte im Sozialwesen; wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Hildesheim, Forschungsschwerpunkte: Kinder- und Jugendhilfe, Übergänge, Beteiligung, Familienbildung, Praxisentwicklung Care Leaver in Deutschland - Ausgangsbedingungen In Deutschland leben etwa 150.000 Kinder und Jugendliche in Wohngruppen, Erziehungsstellen, Pflegefamilien oder anderen Betreuungssettings innerhalb der stationären Erziehungshilfen. Im Jahr 2014 wurden etwa 40.000 Hilfen neu begonnen, von denen etwa die Hälfte auf Jugendliche/ junge Erwachsene zwischen 15 und 21 Jahren entfielen (vgl. Statistisches Bundesamt 2016) - wobei sich spätestens mit 19 kaum noch junge Menschen in stationären Hilfeformen befinden (vgl. Fendrich/ Pothmann/ Tabel 2012/ 2014). Wie eine deutsche Studie zeigt, wird in Hilfeplangesprächen das Anliegen eines beschleunigten Übergangs von Care Leavern aus den Hilfen zur Erziehung in ein eigenverantwortliches Leben deutlich. Eine Deklientifizierung wird zum Teil explizit sozial hergestellt, in dem Hilfeziele als erreicht definiert werden, ohne dass dafür im Gespräch mit den jungen Menschen selbst eindeutige Belege ausgemacht werden können (vgl. Messmer/ Hitzler 2008). Die hohen Anforderungen an die Lebenskompetenzen junger Care Leaver stehen in einem starken Kontrast zu den biografischen Vorerfahrungen und prekären Lebensverhältnissen, denen viele von ihnen entstammen (vgl. Strahl/ Thomas 2013). Das durchschnittliche Auszugs- 3 uj 1 | 2017 Unsichere Übergänge in ein eigenverantwortliches Leben alter aus dem elterlichen Haushalt in Deutschland hingegen, welches bei Frauen etwa bei 23,9 Jahren und bei Männern etwa bei 25,1 Jahren liegt (vgl. Eurostat 2009), verweist auf eine gänzlich andere Lebenspraxis unter den Peers, die bei ihren Familien aufwachsen und spätere und fließende Übergänge in ein eigenständiges Leben erfahren. Damit schafft das System der stationären Erziehungshilfen selbst Entwicklungsvoraussetzungen für junge Erwachsene, die den Anforderungen einer verlängerten Jugendphase kaum entsprechen (vgl. Stauber/ Walther 2013) und somit soziale Ungleichheiten verschärfen. In nachgehenden Hilfesystemen außerhalb der Kinder- und Jugendhilfe werden Care Leaver nicht mehr als eigenständige Bedarfsgruppe, die weitgehend ohne familiären Rückhalt auskommen muss, wahrgenommen. Es wird kaum eine altersgerechte nachgehende Hilfe gewährleistet. Da zum Zeitpunkt des Übergangs Care Leaver in der Regel noch keine Ausbildungsabschlüsse erreicht haben oder die Einmündung in den Arbeitsmarkt noch nicht vollzogen, eine materielle Unterstützung aus dem familiären Umfeld aber unwahrscheinlich ist, ist das Angewiesensein auf Transferleistungen auch nach der Erziehungshilfe häufig strukturell angelegt. Junge Menschen, die im Anschluss an stationäre Erziehungshilfen ein selbstständiges Leben beginnen, sind somit vielen sozialen und ökonomischen Risiken ausgesetzt (vgl. Köngeter/ Schröer/ Zeller 2012). Care Leaver - ein heterogener Personenkreis Mit dem Begriff Care Leaver werden junge Menschen fokussiert, die in öffentlicher Erziehungshilfe im Wesentlichen auf der Grundlage der Hilfen nach § 27 i. V. m. mit §§ 33, 34 SGB VIII aufwachsen. Das kennzeichnet sie als junge Menschen, die längerfristig außerhalb ihrer Herkunftsfamilie leben und von dort aus ein eigenverantwortliches Leben beginnen oder in andere nachgehende Hilfen überwechseln. Internationale Untersuchungen der vergangenen 30 Jahre zu Übergängen junger Erwachsener aus stationären Erziehungshilfen in ein eigenständiges Leben haben gezeigt, dass Care Leaver besonders vulnerabel im Hinblick auf ihre psycho-soziale Entwicklung, die materielle Ausstattung und soziale Unterstützung sind. Gleichermaßen sind sie stärker von gesundheitlichen Einschränkungen, darunter insbesondere auch psychische Belastungen betroffen (vgl. Stein 2006). Sie sind deutlich früher auf ein eigenständiges Leben verwiesen und die fehlenden Rückkehroptionen in betreute Settings tragen dazu bei, dass Krisen sich existenzieller auswirken und Care Leaver somit z. B. besonders von Wohnungslosigkeit betroffen sind (vgl. Dixon/ Stein 2005). Die Gefahr einer exkludierten gesellschaftlichen Position ist auch durch schlechtere Bildungschancen von Care Leavern bedingt (vgl. Köngeter/ Mangold/ Strahl 2016). So erwerben deutlich weniger Care Leaver einen Schulabschluss als ihre Peers, die in ihren Herkunftsfamilien aufwachsen (vgl. Mangold/ Rein 2014). Der Übergang in Ausbildung und Arbeit ist dadurch erschwert. Wird der Übergang als Überforderung erlebt, werden gleichzeitig bestehende Ausbildungsverhältnisse und Bildungsperspektiven gefährdet. Care Leaver, das belegen internationale Studien eindrücklich, zählen zu den am meisten von sozialer Ausgrenzung bedrohten Personenkreisen (vgl. Stein 2006; Wade 2008). Care Leaver - kaum Mitbestimmung im Übergangsprozess Jugendliche fühlen sich unter den anwesenden erwachsenen Akteuren in der Hilfe oft nicht beteiligt und erleben, dass ihre Interessen nicht im Zentrum der Planung stehen (vgl. Erhardt/ Seyboldt 2014). Die rechtlichen Spielräume für eine länger währende Hilfe sind insbesondere 4 uj 1 | 2017 Unsichere Übergänge in ein eigenverantwortliches Leben bei Pflegeeltern oft nicht bekannt oder werden nicht ausgeschöpft. Eine sukzessive Ablösung aus der Hilfe- und Sorgebeziehung ist für sie manchmal nur möglich, wenn sie sich inkompetenter und hilfebedürftiger darstellen, als es vielleicht der Realität entspricht, um das Hilfeende noch etwas hinauszuzögern. Das ist kein geeignetes Signal an Care Leaver. Der Begriff Hilfeende unterstreicht die Logik, wonach Care Leaver nicht von einem prozesshaft und partizipativ angelegten Weg in ein eigenständiges Leben ausgehen können. Der Begriff der Corporate Parentship, wie er in Großbritannien verwendet wird, bietet diesbezüglich eine interessante alternative Denkfigur, die von einem elternähnlichen Erziehungs- und Unterstützungsauftrag innerhalb der Erziehungshilfe und auch danach ausgeht. Das Kernstück des Modells bildet die gesetzlich geregelte Übergangsplanung (Pathway Planning), die eine über die Erziehungshilfe/ Hilfeplanung hinausgehende Begleitung vorsieht. Es bedarf auch einer gezielten Weiterentwicklung der Übergangsbegleitung aus stationären Erziehungshilfen in Deuschland, welche nicht mit dem Auszug aus der Pflegefamilie oder Wohngruppe, der Erziehungsstelle oder dem Kinderdorf enden kann (vgl. Sievers/ Thomas/ Zeller 2015). Übergänge aus der Sicht von Care Leavern In dem Projekt „Rechte im Übergang“, das zwischen 2014 und 2016 gemeinsam von der Internationalen Gesellschaft für erzieherische Hilfen und der Universität Hildesheim durchgeführt wurde, wurden junge Menschen in unterschiedlichen Settings in 30 Einzelinterviews zu ihren Erfahrungen in stationären Hilfen und hinsichtlich der Vorbereitung des Übergangs befragt. Dabei wird deutlich, dass es übereinstimmende Erlebnisse von Care Leavern gibt, die auf die strukturellen Barrieren am Hilfeende verweisen. In dem Projekt wurden von Care Leavern individuelle Erfahrungen in Erziehungshilfen und das Gefühl des „Andersseins“ als ihre Peers rekonstruiert. Es wird deutlich, dass die Erfahrungen in der Hilfe auch den Übergang ebnen. Diejenigen, die während der Hilfe positive Beziehungen erlebt und die Wohngruppe oder Pflegefamilie als einen verbindlichen Ort erlebt haben, den Übergang mit weniger Brüchen und Risiken bewältigen. Zwei Beispiele aus dem Datenmaterial illustrieren dies: Also ich finde auch, ich wurde richtig gut begleitet und das Coole ist…, bei uns in der Einrichtung war das so, das nennt sich Kaleidoskop, und da hatten wir so eine Schriftsammlung halt, mein Umzug, was mache ich, und da wurde halt erst so, ja, dann halt Wohnung suchen und dann Haushaltsplan erstellen und all sowas, und da war ganz viel drin, halt.… Und deshalb war das total einfach, weil auf viele Sachen hätte ich jetzt auch nicht geachtet. … Ja, das ist auf jeden Fall total schön, also das ist, kann man eigentlich nur empfehlen, dass man das in allen Einrichtungen macht, weil man halt wirklich die Schritte hat und man kann nichts vergessen. … [Meine Sachen] hat dann die Betreuerin gefahren und hat mich echt gut begleitet, also die war am Anfang glaube ich zwei, drei Tage fast jeden Tag da, halt wegen des Umzugs, hat ein bisschen mitgeholfen und dann, ich glaube, alle zwei Wochen war das, alle zwei Wochen, dass sie halt vorbeikommt, und sie kam auch zwischendurch mal, und da, das war auch total, das war ganz locker das Verhältnis bei uns beiden, war cool. Care Leaverin, 20 Jahre Diese junge Frau beschreibt den Zeitpunkt des Auszugs aus der Wohngruppe nicht als Angstdatum und erlebt den Weg in ein eigenständiges Leben eingebettet in soziale Bezüge und auch eine aus ihrer Sicht angemessene Vorbereitung. Andere junge Menschen erfahren nicht erst im Übergang aus der Erziehungshilfe Barrieren, sondern fühlen sich schon während der Hilfe nicht gut begleitet und vorbereitet: 5 uj 1 | 2017 Unsichere Übergänge in ein eigenverantwortliches Leben So diese ganzen Sachen, die man nicht lernt, sind viel, viel schwieriger zu erlernen, wenn man dann älter ist, finde ich. Das war ja auch im Kinderheim nicht so, wie geht man mit Stresssituationen um. Wenn ich jetzt zum Beispiel, so das ist mir dann wiederum unangenehm, ich bin 22 und wenn ich jetzt zum Beispiel einen Partner habe, dann muss ich dem Partner ganz ehrlich sagen, du, ich kann mich nicht streiten, weil zu Hause war das so, und auch im Kinderheim ist das so, wenn es Theater gibt, geh auf dein Zimmer. … Da wird (…) einem nicht viel beigebracht, aber andererseits ist das im Kinderheim auch so, da wo ich war, … wir hatten dann den ganzen Tag auch immer einen Betreuer da, und ein Betreuer, wir waren zehn Jugendliche in einem Haus, kann sich ja nicht um zehn Jugendliche da kümmern, ist dann auch ein bisschen viel. Care Leaverin, 22 Jahre Die stationäre Erziehungshilfe ist nicht nur ein Lebensort, an dem Kinder- und Jugendliche Schutz und Fürsorge erfahren sollen. Es ist auch ein Lern- und Entwicklungsort. Dafür braucht es Bezugspersonen und Vorbilder in den Hilfen, um - manchmal vielleicht für die Pflegeeltern oder BetreuerInnen gar nicht sichtbare - positive Impulse zu geben. Gespräche mit Care Leavern geben zahlreiche Hinweise, wie bedeutungsvoll die soziale Beziehung zu Sorgepersonen für sie war - auch wenn diese ihre Erwartungen nicht erfüllt haben. Die Einbindung von Care Leavern in die Reflexion über stationäre Hilfen und Übergänge ist wichtig, das zeigt die Beteiligung von Care Leavern in Fachveranstaltungen in den letzten Jahren. Eine fachliche Weiterentwicklung dieses Felds ist ohne die AdressatInnenperspektive nicht denkbar. In Beteiligungsworkshops mit Care Leavern im Rahmen des Projekts wurden ihre Sichtweisen auf die Heimerziehung, Vollzeitpflege und die Übergangserfahrung auch in Gruppendiskussionen zusammengetragen. Dies hat in allen Workshops ein besonderes Zugehörigkeitsgefühl erzeugt - die Erkenntnis, dass andere Menschen ähnliche Erfahrungen gemacht haben, hat die Sichtweise auf den Hilfekontext verändert. In den Treffen war spürbar, dass in der gemeinsamen Auseinandersetzung über die Erlebnisse in der stationären Erziehungshilfe auch Chancen für Lebensbewältigung und Empowerment lagen. So wurde z. B. die Situation in Hilfeplangesprächen intensiv diskutiert oder auch die Auseinandersetzung mit Regeln in den Einrichtungen oder die ablehnende Haltung, die sie bisweilen in Behörden erfahren haben. In den Gesprächen war eine gemeinsame Bearbeitung und Distanzierung möglich, sobald erkennbar wurde, dass es sich um institutionelle und strukturelle Barrieren handelte. Gleichzeitig ging aus diesen Erkenntnissen der Wunsch nach mehr Zusammenschlüssen und Lobbyarbeit von Care Leavern für Care Leaver hervor. Beteiligung als ein Schlüssel für gelingende Übergänge In vielen Darstellungen von Care Leavern zeichnet sich ab, dass sie es als besonders gravierend empfinden, Entscheidungen, die sie selbst und ihren Lebensweg betreffen, nicht hinreichend mitgestalten können. Sie finden für ihre Belange oft keine Fürsprecher und erfahren Widerstände, denen sie als EinzelkämpferInnen begegnen. In anderen Ländern hingegen sind Selbstorganisationsformen von Care Leavern zu finden, die die Interessen der Gruppe öffentlich vertreten und damit auch für eine gesellschaftliche Präsenz und Anerkennung von Menschen mit Erziehungshilfehintergrund sorgen. In Anlehnung an internationale Erfahrungen z. B. aus Irland, Großbritannien oder Kanada wurden vor diesem Hintergrund Care Leaver in dem Projekt „Rechte im Übergang“ ermutigt, sich an dem Diskurs über bessere Übergangsbedingungen zu beteiligen, ihre eigene Position öffentlich zu vertreten und Forderungen gegenüber Politik und Fachpraxis zu formulieren. Diese Form der Selbstorganisation und die Kultur des Empowerments von Care Leavern 6 uj 1 | 2017 Unsichere Übergänge in ein eigenverantwortliches Leben können als eine Stärkung der AdressatInnenperspektive verstanden und genutzt werden. Ausgehend von dieser Idee fand im Rahmen des Projekts als Höhepunkt ein Hearing im Bundesministerium für Familien, Senioren, Frauen und Jugend statt, bei dem Care Leaver die für sie wichtigsten Themen und Vorschläge vor PolitikvertreterInnen, Verbänden und Fachpraxis vorbringen und mit den Anwesenden diskutieren konnten. Beteiligung hat sich in diesem Format als eine Schlüsselkategorie gezeigt. Dabei wird offenkundig, wie sehr die jungen Menschen sowohl ExpertInnen ihrer eigenen Lebensgeschichte, aber auch ExpertInnen im System der Kinder- und Jugendhilfe sind. Sie haben ein gutes Gespür für Spielräume, Barrieren und Machtverhältnisse in stationären Hilfen. Dabei wird nicht nur eine Beschwerdehaltung demonstriert, sondern es werden reflektiert und realistisch Vorschläge vorgestellt. Dabei wird unmissverständlich deutlich, dass auch eine Wohngruppe oder Pflegefamilie ein Zuhause für Kinder und Jugendliche ist. Dies kann mit dem Hilfeende nicht einfach aufgekündigt werden. Die Kinder- und Jugendhilfe muss in erster Linie zuständig bleiben! Das setzt schließlich auch eine konsequente Beteiligungskultur im Hilfeprozess voraus (Care Leaver als Co-Produzenten verstehen! ). Die Haltung aller Beteiligten ist dafür eine entscheidende Voraussetzung. Um die Rechte im Bedarfsfall auch durchsetzen zu können, bedarf es mehr Ombudsstellen in Deutschland. Denn die Gewährung von Hilfen für junge Volljährige unterliegt zu sehr fiskalischen Erwägungen. Im Hinblick auf die eigene wirtschaftliche Situation der Care Leaver ist wiederum sicherzustellen, dass die 75 %-Anrechnungsregel entschärft wird, um das Ansparen während der Hilfe für die Zeit danach zu ermöglichen. Auch sollte eine verbindliche Vorleistungspflicht der Jugendämter eingeführt werden, bis alle nachgehenden finanziellen Leistungen auch wirklich fließen. Es bestätigt sich in vielen Bereichen, dass ohne das Ernstnehmen dieser Vorschläge keine positive Zukunftsperspektive für Care Leaver besteht. Voraussetzungen für gelingende Übergänge und soziale Teilhabe von Care Leavern Es gibt verschiedene Themenfelder, an denen eine Verbesserung der Begleitung für Care Leaver ansetzen müsste. Diese setzen eine längerfristige und inklusive Übergangsplanung voraus. Bildungssituation von Care Leavern Bildungsprozesse spielen für Care Leaver eine wichtige Rolle bei der Bearbeitung belastender biografischer Erlebnisse im familiären Umfeld und schließlich auch der Erfahrung, in öffentlicher Erziehung aufgewachsen zu sein (vgl. Köngeter/ Mangold/ Strahl 2016). Studien zeigen, dass positive Erfahrungen im Bildungssystem das Wohlbefinden und die Resilienz junger Menschen in Erziehungshilfen begünstigen (vgl. Berridge 2012). Obwohl jedoch auch formale Bildungsabschlüsse einen wichtigen Beitrag zur sozialen Integration von Care Leavern leisten könnten (vgl. Gharabaghi 2011), wird in der Ausgestaltung der Erziehungshilfe die Bildungsförderung von vielen Trägern nicht als besonderer Schwerpunkt formuliert. Care Leaver geraten mitunter in die Situation, dass sie den angestrebten (höheren) Schulabschluss nicht erreichen können, wenn die Kinder- und Jugendhilfe vorzeitig endet. In diesem Fall muss die Existenzgrundlage mit anderen Kostenträgern neu ausgehandelt werden. Zudem kann die neue Lebenssituation nach der Hilfe ohne eine gesicherte Unterstützung die Bildungschancen erheblich gefährden. Die unterdurchschnittlichen Bildungserfolge von Care Leavern sind auch der Hilfe- und Übergangspraxis in den Erziehungshilfen zuzuschreiben. Damit reproduziert sich das Armutsrisiko bzw. die Armutserfahrung, die viele Care Leaver bereits in ihrem familiären Umfeld erlebt haben. Aber auch für diejenigen, die eine Ausbildung auf- 7 uj 1 | 2017 Unsichere Übergänge in ein eigenverantwortliches Leben nehmen möchten, werden im Übergang aus der stationären Erziehungshilfe die Möglichkeiten der Berufsausbildung und Fördermaßnahmen nicht immer gut ausgelotet. In jedem Fall bleiben die meisten Care Leaver im Übergang auf Transferleistungen angewiesen. Diejenigen, die dennoch Erfolg in der Schule haben und einen höheren Bildungsabschluss erreichen, brauchen dafür aufgrund ihres sozialen Hintergrunds in vielen Fällen länger als ihre Peers (slow track) (vgl. Courtney et al. 2011). Dieses Ergebnis unterstreicht, dass für Care Leaver im Interesse einer guten sozialen Integration längere Unterstützungs- und Beratungsangebote vorgehalten werden müssen, um ihre Bildungsziele nicht durch existenzielle Nöte zu gefährden. Soziale Beziehungen und wichtige Wegbegleiter Der Übergang, so zeigen Untersuchungen, verläuft dann besonders positiv, wenn Care Leaver Stabilität und Kontinuität im Hilfesystem und in ihren sozialen Beziehungen vorfinden und die Gelegenheit erhalten, während des Übergangsprozesses auf für sie wichtige Wegbegleiterinnen zurückgreifen zu können (vgl. Stein/ Wade 2000). Wichtige Wegbegleiter können dabei ehemalige Pflegeeltern bzw. Professionelle der Heimerziehung, Gleichaltrige, aber auch Personen aus der Herkunftsfamilie sein. Junge Erwachsene fühlen sich auf die Situation der Eigenständigkeit besser vorbereitet, wenn sie auch nach dem Hilfeende weiterhin auf eine Unterstützung durch ihre (ehemaligen) Pflegeeltern oder durch andere, für sie wichtige Erwachsene vertrauen können. Wohnsituation In etlichen Ländern liegen Studien zur Wohnsituation von Care Leaver vor. Eine schottische Studie belegt beispielsweise die Gefahr, nach dem Übergang aus stationären Erziehungshilfen in Wohnungslosigkeit zu geraten (Stein/ Dixon 2006). Studien aus Australien bzw. den USA zeigen darüber hinaus auf, dass eine stabile und zufriedenstellende Wohnsituation sogar als hauptsächliche Schlüsselkategorie für einen gelingenden Übergang gesehen werden kann (vgl. Johnson/ Mendes 2014). Diese Befunde unterstreichen, dass auch die Zuständigkeiten für Care Leaver nicht mit dem Umzug in eine eigene Wohnung enden kann, denn viele Herausforderungen entstehen erst mit diesem Schritt und dem daran gekoppelten Ende der Erziehungshilfe. Psychische und physische Gesundheit Die psychische und physische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen stellt ebenfalls einen Schlüsselfaktor für deren Aufwachsen dar. Die gesundheitliche Situation von Care Leavern kann deutlich verbessert werden, wenn es im Übergangsprozess eine fortlaufende Unterstützung durch eine persönliche Bezugsperson gibt. Für Care Leaver ist es im Übergang ins Erwachsenenleben zudem sehr wichtig, dass für sie Zugänge zu einer geeigneten Gesundheitsversorgung geebnet werden. Bisher gibt es aber in Deutschland z. B. kaum adäquate psychiatrische Angebote für junge Erwachsene. Alltagspraktische Kompetenzen Dem Erwerb von alltagspraktischen Kompetenzen, wie z. B. Kochen, dem Umgang mit dem eigenen Budget etc., wird in der Praxis der Erziehungshilfen sowohl von den Professionellen als auch von den Adressaten eine (manchmal zu) hohe Bedeutung beigemessen. Ein Dilemma besteht hier jedoch darin, dass es für die Adressatinnen in aller Regel kaum Möglichkeit gibt, um sich mit den erworbenen Kompetenzen in der neuen Lebenssituation der Eigenständigkeit auszuprobieren. Studien zeigen, dass sich Care Leaver, auch wenn während der Vorbereitung des Übergangs ein starkes Augenmerk auf der Einübung alltagspraktischer Fä- 8 uj 1 | 2017 Unsichere Übergänge in ein eigenverantwortliches Leben higkeiten lag, oft überfordert fühlten, sobald sie einen Haushalt eigenverantwortlich führen und Entscheidungen treffen müssen (vgl. Johnson et al. 2010). Die Vorbereitung auf ein eigenständiges Leben kann somit nicht nur an praktischen„Skills“ orientiert sein, sondern muss die gesamte persönliche Entwicklung in den Blick nehmen und den Übergang auch sozial stabil einbetten. Fazit Die Fremdunterbringung haftet wie ein Makel an diesen jungen Menschen und erfordert lebenslang Biografiearbeit zur Integration dieser Erfahrungen in das Selbstkonzept und die eigene Lebensgestaltung. Oft handelt es sich nicht nur um eine, sondern um mehrere Fremdplatzierungen, sodass es wiederkehrende Abschiede und Neuorientierungen gibt. Über die Abbrüche und gescheiterten Hilfen wissen wir bisher nur sehr wenig (vgl. Tornow 2012). Das Thema Leaving Care braucht vor diesem Hintergrund einen festen Platz in der Fachdiskussion der Kinder- und Jugendhilfe und in der konzeptionellen Entwicklung von Übergangsmodellen. Bleibt zu hoffen, dass die Reformierung des SGB VIII diesen Erfordernissen Rechnung trägt. Diese dargestellten Erkenntnisse liefern eine Reihe Anhaltspunkte, wie zu einem guten Übergang von Care Leavern ins Erwachsenenleben beigetragen werden kann. Dr. Severine Thomas Universität Hildesheim Institut für Sozial- und Organisationspädagogik Universitätsplatz 1 31141 Hildesheim Literatur Berridge, D. (2012): Education young people in care. What have we learned? In: Children and Youth Services Review 34. 1171 - 1175, http: / / dx.doi.org/ 10.10 16/ j.childyouth.2012.01.032 Courtney, M. E., Dworsky, A., Brown, A., Cary, C., Love, K., Vorhies, V. (2011): Midwest evaluation of the adult functioning of former foster youth: Outcomes at age 26. Chicago, IL: Chapin Hall Center for Children at the University of Chicago. http: / / www.chapinhall.org/ research/ report/ midwest-evaluation-adult-functio ning-former-foster-youth, 20. 10. 2016 Dixon, J., Stein, M. (2005): Leaving Care, Throughcare and Aftercare in Scotland. Jessica Kingsley Publiscers, London Erhard, A., Seyboldt, R. 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(2014): Ambivalente Bildung: Prekäre Bewältigungslagen in der Lebenslage StudentIn. Das Beispiel„Studierende mit Erziehungshilfeerfahrung“. Diskurs Kindheits- und Jugendforschung 9 (4), 435 - 449 Messmer, H., Hitzler, S. (2008): Die Hilfe wird beendet werden hier - Prozesse der Deklientifizierung im Hilfeplangespräch aus gesprächsanalytischer Sicht. Neue Praxis 38 (2), 170 - 187 Sievers, B., Thomas, S., Zeller, M. (2015): Jugendhilfe und dann? Zur Gestaltung der Übergänge junger Erwachsener aus stationären Erziehungshilfen. Ein Arbeitsbuch. IGfH Eigenverlag, Frankfurt Statistisches Bundesamt (2016): Statistiken der Kinder- und Jugendhilfe. Erzieherische Hilfe, Eingliederungshilfe für seelisch behinderte junge Menschen, Hilfe für junge Volljährige - Heimerziehung, sonstige betreute Wohnform. Wiesbaden Stauber, B., Walther, A. (2013): Junge Erwachsene - Eine Lebenslage des Übergangs? In: Schröer, W., Stauber, B., Walther, A., Böhnisch, L., Lenz, K. (Hrsg.): Handbuch Übergänge, 270 - 290. Beltz, Weinheim und Basel Stein, M. (2006): Young people aging out of care: The poverty of theory. Child and youth services Review 28, 422 - 434, http: / / dx.doi.org/ 10.1016/ j.childyouth. 2005.05.005 Stein, M., Dixon, J. (2006): Young people leaving care in Scotland. European Journal of Social Work 4, 407 - 423, http: / / dx.doi.org/ 10.1080/ 13691450600958460 Stein, M., Wade J. (2000): Helping Care Leavers: Problems and Strategic Responses. Social Work Research and Development Unit. University of York, York Strahl, B., Thomas, S. (2013): Care Leavers. Aus stationären Erziehungshilfen in die „Selbstständigkeit”. In: Unsere Jugend 65, 2 - 11 Tornow, H. (2012): Abbrüche in stationären Erziehungshilfen (ABiE). Praxisforschungs- und Praxisentwicklungsprojekt. Analysen und Empfehlungen. Schöneworth, Hannover Wade, J. (2008): The Ties that Bind: Support from Birth Families and Substitute Families for Young People Leaving Care. 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