eJournals unsere jugend 69/1

unsere jugend
4
0342-5258
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
11
2017
691

Care Leaver unterstützen

11
2017
Andreas Schulz
Joachim Decker
Keine Kohle in der Tasche. Schwierigkeiten mit Behörden. Stress mit dem Vermieter. Unbeantwortete Fragen. Für Care Leaver ist das Alltag. Doch muss das sein? Fachkräfte in Einrichtungen der Erziehungshilfe und in Behörden können viel für einen gelungenen Übergang von der stationären Erziehungshilfe in die Selbstständigkeit tun!
4_069_2017_001_0020
20 unsere jugend, 69. Jg., S. 20 - 27 (2017) DOI 10.2378/ uj2017.art04d © Ernst Reinhardt Verlag München Basel von Andreas Schulz Jg. 1970; M. A. Sozialmanagement, Mediator, Jugendhilfereferent beim Paritätischen Wohlfahrtsverband Landesverband Berlin e.V. Care Leaver unterstützen Wer was für wen tun muss Keine Kohle in der Tasche. Schwierigkeiten mit Behörden. Stress mit dem Vermieter. Unbeantwortete Fragen. Für Care Leaver ist das Alltag. Doch muss das sein? Fachkräfte in Einrichtungen der Erziehungshilfe und in Behörden können viel für einen gelungenen Übergang von der stationären Erziehungshilfe in die Selbstständigkeit tun! Einleitung Care Leaver, ehemalige Pflege- und Heimkinder, die am Jugendhilfeende - zumeist ab 18 Jahren - vor der Verselbstständigung stehen, sind in der jüngsten Zeit auch in Deutschland in den Blickpunkt fachlicher Diskussionen geraten. Der Paritätische Wohlfahrtsverband Berlin und die Diakonie Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz signalisieren durch das gemeinsame Befassen mit diesem Thema, dass ihnen diese jungen heranwachsenden Menschen und notwendige Unterstützungsformate wichtig sind. Sie setzen sich in ihren Arbeitsbezügen und in der Kommunikation mit ihren Mitgliedsorganisationen dafür ein, dass sich breitere Personengruppen mit dem Thema Care Leaver vertraut machen und sich ebenfalls für diese jungen Menschen stark machen, insbesondere bei gesetzgebenden bzw. ausgestaltenden Prozessen. Die Verbände begrüßen die zahlreichen Initiativen und Projekte, die nicht zuletzt von den jungen Menschen selbst getragen werden, und sagen diesen ihre Unterstützung zu. Manches spricht dafür, dass das Thema aufgegriffen wird: eine „Eigenständige Jugendpolitik“, die Benennungen im 14. Kinder- und Jugendbericht sowie manche Überlegung und Absicht, die im SGB VIII-Reformprozess sichtbar wird. Im Folgenden wollen wir darlegen, wie wir als Verbandsvertreter das Thema anfassen, wie wir kommunizieren und kooperieren mit unseren Mitgliedsorganisationen, aber auch mit externen PartnerInnen. Wir berichten über Herausforderungen, denen wir begegnen, aber auch über die Chancen, die in dem Befassen mit dem Thema stecken. Wir stellen fest: Es wird von unseren Mitgliedsorganisationen sehr begrüßt, dass auch verbandsübergreifend gearbeitet wird. Diese Arbeit an dem Thema geschieht auch aus unserem praktischen Wissen heraus, dass eine Joachim Decker Jg. 1967; Diplom-Sozialpädagoge, Systemischer Therapeut (SG), Referent Hilfen zur Erziehung beim Diakonischen Werk Berlin- Brandenburg-schlesische Oberlausitz e.V. 21 uj 1 | 2017 Care Leaver unterstützen - Wer was für wen tun muss zu frühe oder erzwungene Beendigung einer Hilfe(-maßnahme) neue, weitere Verunsicherungen bei den jungen Menschen zur Folge haben kann und es dieses zu verhindern gilt. Unsere Ausführungen fußen vor allem auf Erfahrungen und Ergebnissen von Arbeitsprozessen in den Jahren 2015 - 2016. Gemeinsam mit dem Care Leaver Kompetenznetz (ein Projekt der Familien für Kinder gGmbH, das durch die Aktion Mensch gefördert und von der Stiftung Universität Hildesheim beraten wird) hatten wir unsere Mitgliedsorganisationen zunächst zu getrennten und dann zu gemeinsamen Workshops eingeladen. Am Ende stand die Verabschiedung eines Positionspapiers und von Handlungsempfehlungen für freie Träger und eine Sammlung von zahlreichen Ideen und auch schon konkret erfolgten Umsetzungen in den Organisationen. Daraus speisen sich die folgenden Ausführungen. Leitung und Organisation: Mitarbeitende unterstützen und Strukturen schaffen Ein erfahrener Kollege, der ein absoluter Fußball- Fan war, plädierte sehr dafür, Zielvereinbarung und -formulierung in regelmäßigem Turnus immer und immer wieder zu üben. Sein Argument: „Sogar Spieler der Fußball-Nationalmannschaft trainieren immer und immer wieder die gleichen Basics wie die Jugendmannschaften. Wie können wir da sagen, dass wir es nicht nötig hätten, unsere Basics immer und immer wieder zu trainieren! ? “ Als besonders erfolgreich stellten sich dabei gemeinsame Weiterbildungstage mit den belegenden ASD-Mitarbeitenden heraus. Beteiligung von Kindern und Jugendlichen in Einrichtungen und Pflegefamilien stärken und Kinderrechte vermitteln: Kinder und Jugendliche sollen frühzeitig lernen, dass sie ihre Jugendhilfemaßnahme mitgestalten können und dass es sich lohnt, sich zu beteiligen. Es ist sichergestellt, dass Kinder und Jugendliche sowohl ihre Rechte als auch die internen und externen Beschwerdemöglichkeiten kennen und sich trauen, diese zu nutzen. Wenn es jedoch um die sogenannte Verselbstständigung geht, werden von der öffentlichen - oder genauer gesagt, der wirtschaftlichen - Jugendhilfe die Grenzen mehr oder weniger klar gezogen. Da heißt es leider immer noch häufig „Mit der Volljährigkeit ist Schluss! “ Dem muss sich dann die Ausgestaltung der Hilfe unterordnen. Sobald die Berufsausbildung in einigermaßen guten Bahnen verläuft oder das Abi in der Tasche ist - was leider eher zu den Ausnahmen gehört - geht es auf Wohnungssuche, die Hilfe wird beendet. Im Schnitt gehen etwa 50 % aller Volljährigen nach der stationären Hilfe in eine eigene Wohnung. (Sievers/ Thomas/ Zeller 2015, 21) Wird die Hilfe beendet, ist das vorherrschende Gefühl dann in der Regel: „Die Erreichung der Ziele wird mit Beendigung bestraft.“ Gut, wenn dann die eigenen Rechte bekannt sind und man sich an eine Ombudsstelle der Jugendhilfe zur Beratung wenden kann, deren Aufbau in vielen Regionen erfreulicherweise zu beobachten ist. Es zeigt sich, wie wichtig es ist, dass die Mitarbeitenden der freien Jugendhilfe über solche Beratungsmöglichkeiten Bescheid wissen und „ihre“ Care Leaver darüber informieren. Durch Fort- und Weiterbildungsangebote für Fachkräfte einen hohen fachlichen Standard beim Verfassen von Trägerberichten/ Entwicklungsberichten/ Stellungnahmen gewährleisten: Die inhaltliche Nachvollziehbarkeit der fachlichen Argumentation - beispielsweise bei der (Weiter-)Beantragung von Hilfen - ist für die MitarbeiterInnen aller Hierarchieebenen, die beim Kostenträger mit der Fallbearbeitung und Hilfegewährung beschäftigt sind, gegeben. Dies setzt voraus, dass Mitarbeitende nicht nur gut in verschiedenen Methoden sozialpädagogischer Diagnose ausgebildet sind, sondern die 22 uj 1 | 2017 Care Leaver unterstützen - Wer was für wen tun muss daraus gewonnenen Erkenntnisse auch schriftlich vermitteln können. Da Jugendämter unterschiedliche Anforderungen an das Berichtswesen stellen, ist dies ein hoher Anspruch an die Mitarbeitenden der freien Jugendhilfe. Da alle Schriftstücke, die die Einrichtung verlassen, als „Visitenkarte“ gelten, wird ohnehin diesem Thema in der Praxis besondere Aufmerksamkeit geschenkt. Wir empfehlen, möglichst einheitliche Standards miteinander zu vereinbaren. Sie dienen den Fachkräften zur Orientierung und können helfen, die Qualität zu sichern. Gute Kontakte zu Wohnungsbaugesellschaften und Hausverwaltungen aufbauen und pflegen: Care Leaver sind bei der Wohnungssuche mit Kontakten und Kooperationsvereinbarungen zu unterstützen, um ihre schlechte bzw. schwierige Position auf dem Wohnungsmarkt zu verbessern. Je besser ein Jugendhilfeträger mit Wohnungsbaugesellschaften und Hausverwaltungen im Kontakt steht, desto eher führt die Wohnungssuche auch zum Erfolg. Der Aufbau eines Netzwerkes kann jedoch schon daran scheitern, dass die richtigen AnsprechpartnerInnen nicht bekannt sind. In Berlin erhielten daher alle Jugendhilfeträger über die zuständige Senatsverwaltung eine Liste mit Kontaktpersonen aller Wohnungsbaugesellschaften. Darüber hinaus gibt es regionale Initiativen gemeinsam mit Hausverwaltungen und Wohnungsbaugesellschaften, die zu einer Verbesserung der Situation geführt haben. Hinweisen möchten wir darüber hinaus auf die Möglichkeit, mit den örtlichen Pfarrgemeinden bzw. Kirchenkreisen Kontakt aufzunehmen. Daraus können sich ebenfalls gelingende Kooperationen ergeben. Das (politische) Problem der Knappheit bezahlbaren Wohnraums benennen und Veränderung einfordern: Alternative Ideen von freien Trägern zur Milderung des Wohnproblems sollen genutzt und unterstützt werden (zum Beispiel Wohnführerschein Jugendhilfe; Forderung der Einführung eines geschützten Marktsegments für Care Leaver), ohne die politische Dimension des Wohnungsproblems zu übersehen. Der Forderung, die Jugendhilfe mit in das geschützte Marktsegment aufzunehmen, konnte in Berlin politisch bisher nicht erreicht werden. Wir sehen darin aber weiterhin eine Möglichkeit, vonseiten der öffentlichen Hand, etwas zur Verbesserung der Situation von Care Leavern zu tun. Ebenso können andere Probleme wie der fehlende Kündigungsschutz gewerblich genutzter Wohnungen (Trägerwohnungen) oder Ähnliches nur über den politischen Weg angegangen werden. Willkommenskultur in Konzepten verankern und leben: Care Leaver, die in Jugendhilfeeinrichtungen und Pflegefamilien gelebt haben, sollten mit der Sicherheit ausziehen können, dass klar ist, an wen sie sich nach dem Jugendhilfeende wenden können, wenn sie Kontakte halten wollen, Gesprächsbedarf haben oder wenn sie in Not sind. Dies erfordert einiges von den freien Trägern: zum einen muss und sollte eine solche Kultur von Personen getragen und gelebt werden. Es muss eine Struktur aufgebaut werden, die aber auch personenunabhängig existieren kann. Nicht selten erleben wir Personalwechsel in dem aufreibenden Job als ErzieherIn oder SozialarbeiterIn in Jugendhilfeeinrichtungen. Betreuung und Beratung: Care Leaver fördern Tom ist im zweiten Ausbildungsjahr als Fahrzeuglackierer. Das erste Jahr war schwierig: Die Arbeit hat ihm zwar Spaß gemacht, aber der Besuch der Berufsschule war eher unregelmäßig. Bei Gesprächen mit seinem Ausbilder und dem Betreuer der Jugendhilfe machte er glaubhaft, dass er fortan regelmäßig die Schule besuchen würde und so behielt er seine Ausbildungsstelle. Im November 23 uj 1 | 2017 Care Leaver unterstützen - Wer was für wen tun muss gab es dann das erste „Weihnachtsgeld“. Wow! Endlich rückte das Ziel, den Führerschein zu machen, in greifbare Nähe. Doch dann die Enttäuschung: Das Geld wurde größtenteils für die Betreuung einbehalten. Mit dem Jugendamt konnte dann doch vereinbart werden, dass das 13. Monatsgehalt bei der Berechnung auf 12 Monate verteilt wurde. Parallel dazu wurde Toms Antrag bewilligt, dass seine Beteiligung an den Kosten für die Betreuung um die Hälfte reduziert wurde, da der Führerschein für die Ausbildung als Fahrzeuglackierer von Vorteil war. So musste zwar in jedem Monat doch etwas abgegeben werden, aber Tom konnte sich trotzdem bei der Fahrschule anmelden und seinen Führerschein machen. Anträge auf die (Weiter-)Bewilligung von Hilfen grundsätzlich schriftlich stellen: Schriftliche Anträge sorgen für erhöhte Rechtssicherheit und juristische Überprüfbarkeit. Ein schriftlicher Antrag ist ein klar erkennbarer Verwaltungsakt, auf den in einem festgelegten Zeitraum mit einem schriftlichen Bescheid reagiert werden muss. Gegen einen Bescheid kann innerhalb einer Frist Widerspruch eingelegt werden. Darauf in der Jugendhilfepraxis zu achten ist ein wertvoller Lernprozess für die Care Leaver. Die jungen Menschen greifen eher mal zum Telefon, als einen schriftlichen Antrag zu formulieren. Nicht selten geben sie sich dann mit mündlichen Aussagen schnell zufrieden und fragen nicht nach, wenn sie einen Sachverhalt nicht oder nicht ganz richtig verstanden haben. Schriftliche Anträge sind in der Regel genauer formuliert und können auch erfolgversprechender beraten werden. Junge Menschen mit eigenem Arbeitseinkommen über die Möglichkeit beraten, dass sie einen Antrag auf Befreiung/ Reduzierung der 75 %-Kostenheranziehung (sogenannte „Heimkostenbeteiligung“) stellen können: Junge Menschen werden zusätzlich zum Arbeiten motiviert. Ihnen wird während der Jugendhilfezeit das Sparen (etwa für Kaution, Führerschein, eigene Wohnung etc.) ermöglicht. Unsere Erfahrung ist, dass es sehr deprimierend für junge Menschen ist, wenn sich ihre Anstrengungen nicht auch monetär auswirken, um sich Wünsche erfüllen zu können. Wird die Ausbildungsvergütung oder der Verdienst aus einem Nebenjob „vom Fiskus geschluckt“, fragen sie sich, wofür sie überhaupt gearbeitet haben. Wenn die erste Erfahrung mit Geldverdienen ist, dass es keinen Unterschied macht, wie viel man sich anstrengt, kann dies fatale Auswirkungen auf die weitere Motivation haben. Es sollten daher alle Anstrengungen unternommen werden, dass die jungen Menschen auch spüren, dass sich Arbeiten persönlich lohnt. In den Hilfeplangesprächen auf realistische Zielvereinbarungen für alle Beteiligten achten: Aufträge sollen daraufhin überprüft werden, ob sie mit den vorhandenen Ressourcen zu erfüllen sind. Die Überforderung von jungen Menschen durch überfrachtete Hilfepläne ist zu vermeiden, ebenso zu viel ehrenamtlich statt finanziert durchgeführte Mehrarbeit von sozialpädagogischen Fachkräften. Die Vorbereitung und Durchführung von Hilfeplangesprächen bzw. -konferenzen ist eine der bedeutendsten Aufgaben der Mitarbeitenden. Schließlich wird nicht nur an den formulierten Zielen bei der Überprüfung das Gelingen der Hilfe - ihre Wirksamkeit - gemessen, ebenso hängen die Motivation und das Durchhaltevermögen der jungen Menschen sowie der Mitarbeitenden von ihnen ab. Daher sollte die Aushandlung und Formulierung von Zielen und Aufträgen stets Bestandteil der Fortbildungsplanung im Rahmen der Personalentwicklung sein. Da die Beteiligung der jungen Menschen an den Hilfeplangesprächen von sehr hoher Bedeutung ist, soll sie auf jeden Fall auch hier zumindest erwähnt werden. Mittlerweile gibt es dazu zahlreiche Untersuchungen, Handlungs- 24 uj 1 | 2017 Care Leaver unterstützen - Wer was für wen tun muss empfehlungen und Leitlinien, die die Mitarbeitenden bei der Beteiligung unterstützen. Sie gelingt umso besser, wenn auch die Mitarbeitenden ihrerseits von ihrem Arbeitgeber an entscheidenden Prozessen beteiligt werden. Care Leavern, die junge Geflüchtete sind, das Jugendhilfesystem und ihre Rechte erklären: Den jungen Geflüchteten ist Integration und gesellschaftliche Teilhabe zu ermöglichen. Eine Entlassung in eine Sammelunterkunft ist für Care Leaver niemals eine gelungene Verselbstständigung. Nicht selten verzweifeln die jungen Menschen bei der Ankündigung, dass sie wieder in eine Sammelunterkunft ziehen sollen. Die bis dahin durch die Jugendhilfe erreichten Ziele sind dann in der Regel hinfällig. Bereits investierte Leistungen waren vergebens. Es bedarf dringender Absprachen zwischen den Jugend- und Sozialbehörden, wie die Unterbringungen in einer Sammelunterkunft im Anschluss an eine Jugendhilfemaßnahme vermieden werden kann. Hier sind Lösungen gefragt, die in erster Linie die Integration und die gesellschaftliche Teilhabe ermöglichen. Mitarbeitende der freien Jugendhilfe können Care Leaver unterstützen, indem sie dem zuständigen Jugendamt ihre fachliche Expertise zur Verfügung stellen und die Bedarfe der jungen Menschen gut begründet darstellen. Zum Auszug mit dem jungen Menschen einen Ordner mit den wichtigsten Unterlagen, Kontaktdaten und Anlaufstellen erstellen: Care Leavern ist in der oft unübersichtlichen Situation des Übergangs Sicherheit und Struktur mit auf den Weg geben. Diese Sicherheit und Struktur haben im besten Fall in der jüngeren Zeit die zuständigen BetreuerInnen gegeben, damit dies nachhaltig wirkt, ist darauf zu achten, dass sich dies auch in informativen Materialien, die beim nächsten Lebensabschnitt unterstützend wirken können, niederschlägt. Care Leaver-Netzwerke unterstützen und nutzen und/ oder aufbauen: Information und Beratung zum Themenbereich Leaving Care und zu gelingenden Übergängen als Care Leaver, Fachkraft oder Pflegemutter/ -vater sollen genutzt werden und gemeinsam kann man an der Verbesserung der Übergänge aus der Jugendhilfe in die Verselbstständigung arbeiten. Care Leaver-Netzwerktreffen bieten Care Leavern die Möglichkeit, andere Care Leaver kennenzulernen, sich auszutauschen, zu vernetzen und sich zu engagieren. Sie werden somit Ansprechpartner für Politik und Verwaltung. Es geht um Präsenz in entsprechenden Gremien ob beratend oder mit Stimmrecht - es geht um Platzierung im öffentlichen Raum. Und es ist schon eine Menge entstanden: „Seit 2014 gibt es den Care Leaver e.V. (www. careleaver.de) als Selbstorganisation von Care LeaverInnen. […] Beim Care Leaver Kompetenznetz (www.careleaver-kompetenznetz.de), dass seit 2015 besteht, handelt es sich um ein Team aus Fachkräften unterschiedlicher Professionen, die Erfahrungen in der Zusammenarbeit mit Care Leavern haben. […] Zudem haben sich ehemalige Care Leaver als „Fachleute in eigener Sache“ zusammengefunden.“ (Gravelmann 2016, 51) Auch gibt es zwischenzeitlich regionale Care Leaver Netzwerke. In Kontakt bleiben: Care Leaver und aktuelle/ ehemalige Mitarbeitende zu Festen und anderen Veranstaltungen einladen: Gewachsene Beziehungen dürfen nicht abrupt abbrechen, wenn die Jugendhilfe endet. Nicht nur Care Leaver, aktuelle und ehemalige sozialpädagogische Fachkräfte sind einzuladen, sondern z. B. auch Hauswirtschaftskräfte, die für Jugendliche auch wichtige Bezugspersonen geworden sein können, gehören zu einem Adressatenkreis, wenn es darum geht, der Geschichte und den Menschen in einer Einrichtung gerecht zu werden. 25 uj 1 | 2017 Care Leaver unterstützen - Wer was für wen tun muss Care Leaver-Expertise wertschätzen und einbinden: Jugendhilfeleistungen sind nicht über die Köpfe der AdressatInnen hinweg weiterzuentwickeln, sondern Care Leaver als „Erfahrungs- ExpertInnen“ wichtig zu nehmen und Care Leaver in die Entwicklung neuer Konzepte einzubeziehen. Es ist für uns selbstverständlich, dass diese Expertise nicht pro bono sein sollte. Schnittstellen: Kooperationen verbessern Sehr gut gefällt uns die Verbindung mit Mentoringprojekten in Eins-zu-eins-Betreuungssettings. Wenn MentorIn und Mentee schon im regulären Hilfeverlauf Kontakt zueinander bekommen und dieser dann die Übergänge mit regeln und durchführen kann, ist eine Menge gewonnen. „Ein solches Beziehungsangebot eröffnet die Chance für Care Leaver, Vorbilder zu erleben und Menschen kennenzulernen, die offen ihnen gegenüber sind und sie bestärken, ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen.“ (Sievers/ Thomas 2014, 150) Wir begrüßen es sehr, dass die Anerkennung solcher Mentoringprojekte zwischenzeitlich (endlich! ) auch in der Politik angekommen ist und wir mehrere aus verschiedenen Politikfeldern heraus initiierte Projekte erleben, deren materielle Ausstattung allerdings noch sehr zu wünschen übrig lässt. Ein Anfang ist aber gemacht. „Diese Bestandteile der Hilfe werden bisher in der öffentlichen Hilfestruktur nicht hinlänglich wahrgenommen und wären zukünftig aufgrund ihrer Schlüsselfunktion auch finanziell als grundständige Unterstützungsinfrastruktur für Care Leaver auszustatten.“ (Sievers/ Thomas 2014, 150) Zum Jugendhilfeende klare Vereinbarungen mit den künftigen Kostenträgern treffen: Für Care Leaver dürfen an den Schnittstellen keine Finanzierungslücken entstehen. Die Nachhaltigkeit der vorher geleisteten Hilfe darf nicht durch einen unsicheren Übergang gefährdet werden. „Konstatiert werden muss […], dass hinsichtlich der Leistungen für die Zielgruppe der jungen Erwachsenen, wie sie innerhalb der Rechtskreise ,Arbeitsförderung‘, ,Grundsicherung‘, ,Jugendhilfe‘ und ,Sozialhilfe‘ vorzufinden sind, immanente Unstimmigkeiten und Engführungen die Leistungskonzepte und die Leistungspraxis prägen und teilweise erschweren.“ (Nüsken 2014, 64) Die Aufgabe, gelingende Übergänge zu schaffen, ist somit immens. Care Leaver und ihre Unterstützer sehen sich einem Übergangsdschungel gegenüber. Der Umgang damit kostet im ungünstigen Fall Zeit und Nerven, Nerven die schon oft aus anderen Gründen angespannt sind. Mit Interesse wird zu verfolgen sein, wie sich die Arbeit der Jugendberufsagenturen entwickelt und ob diese Arbeit der Hoffnung vieler in Politik gerecht wird, den o. g. Missständen Abhilfe zu schaffen. Formalisierte Nachsorge gewährleisten: Schon vor dem Jugendhilfeende soll vereinbart werden, ob und in welcher Weise der Kontakt fortbestehen soll bzw. ob und mit welchen Kontaktdaten Care Leaver vom Jugendhilfeträger einbezogen und/ oder eingeladen werden wollen. Freie und öffentliche Jugendhilfeträger entwickeln gemeinsam innovative Konzepte, wie diese Nachsorge finanziert werden kann, damit den Fachkräften tatsächlich Zeit und Mittel für Care-Leaver-Arbeit zur Verfügung stehen, ohne dass diese den gegenwärtig betreuten Jugendlichen entzogen werden müssen. Neben der formalisierten Nachsorge sehen wir auch die Bemühungen der Träger, den Care Leavern die Tür zu zukünftigen Aktivitäten der Einrichtung offen zu lassen. Das geht über die Einladung zu jährlichen Festen oder zu Sonderaktionen bis hin zur Gründung eines Ehemaligenrats, Ombudschaft oder die Ar- 26 uj 1 | 2017 Care Leaver unterstützen - Wer was für wen tun muss beit als BeschwerdemanagerIn oder Vertrauensperson für aktuelle EinrichtungsbewohnerInnen. Pflegeeltern nach dem Jugendhilfeende nicht im Regen stehen lassen: Pflegeeltern, die sich nach dem Ende des Pflegeverhältnisses weiterhin oder erneut um das ehemalige Pflegekind kümmern, tun dies nicht ehrenamtlich, sondern haben einen formal abgesicherten Anspruch auf Beratung und finanzielle Hilfe und sind somit weiter verlässliche Ansprechpartner und Unterstützer für die jungen Menschen. Die Bedeutung von belastbaren Beziehungen ist wissenschaftlich in zahlreichen Studien belegt und muss auch für diesen Bereich gelten bzw. herangezogen werden. Fazit Wir hoffen, dass unsere Ausführungen andere ermutigen, sich offensiv mit dem Thema Leaving Care auseinanderzusetzen, und sind überzeugt davon, dass sich die Mühe lohnen wird. Die Hilfen zur Erziehung - entgeltfinanzierte Leistungen grundsätzlich - stehen unter einem immensen Rechtfertigungsdruck, die Gelder gut einzusetzen. Die Frage nach dem Wert und der Wirkung der Arbeit verstummt nicht, wir finden: zu recht! Die freie Jugendhilfe ist aufgefordert, aktiv zu werden und zu zeigen, was sie leisten und bewirken kann. Was können wir der Politik, der Verwaltung, den Medien und der Öffentlichkeit anbieten? Die Lebensgeschichten ehemaliger EinrichtungsbewohnerInnen. Lebensgeschichten, die von Mühen im Alltag erzählen, aber auch davon, dass sich die Arbeit mit den (jungen) Menschen immer wieder lohnt und selbstbewusste eigenständige Lebensläufe entstehen können. (Hinweisen möchten wir auf das schöne Beispiel der Klückskinder mit dem Mutmacher-Kalender: www.kluekskinder.de) Um diese Lebensgeschichten aber zu hören, zu lesen oder berichtet zu bekommen, braucht es einen fairen Umgang mit dieser Personengruppe, dann haben alle etwas davon: die Care Leaver selbst, die freien und öffentlichen Organisationen in diesem Bereich und die zahllosen Menschen, die in diesen Organisationen wirken, sowie Staat und Zivilgesellschaft im Allgemeinen. Machen wir uns auf, verankern das Thema weiter in den Köpfen der Menschen und lassen zum Schluss eine Care Leaverin zu Wort kommen: „Es gibt unglaublich viel zum Übergang zu sagen, aber das Wichtigste ist wohl, dass für jeden der für ihn individuell richtige Weg in die Verselbstständigung gefunden wird. Das Alter sollte nicht ausschlaggebend sein, um zu begründen, dass jemand keine Unterstützung mehr benötigt. Die meisten haben so schlimme Erfahrungen in ihrem Leben gemacht, dass sie noch zwei/ drei Jahre länger auf intensivere Hilfen angewiesen sind, um danach genauso erfolgreich ihr Leben zu meistern. Sicherlich ist § 41 Auslegungssache und man kann über Kann-/ Soll-Gesetze diskutieren. Aber so lange jemand gut begründet, wieso er sich noch nicht reif genug fühlt und bereits diesen sehr reifen und reflektierenden Schritt machen kann, sollte es Wege und Lösungen geben.“ (Familien für Kinder gGmbH 2016, 47) Andreas Schulz Paritätischer Wohlfahrtsverband Landesverband Berlin e.V. Brandenburgische Straße 80 10713 Berlin Tel.: (0 30) 8 60 01-1 62 E-Mail: schulz@paritaet-berlin.de Joachim Decker Diakonisches Werk Berlin-Brandenburgschlesische Oberlausitz e.V. Paulsenstraße 55/ 56 12163 Berlin Tel.: (0 30) 8 20 97-2 67 E-Mail: decker.j@dwbo.de 27 uj 1 | 2017 Care Leaver unterstützen - Wer was für wen tun muss Literatur Eurostat Pressestelle (2009): Jugend in Europa. Ein statistisches Portrait des Lebensstils junger Menschen. Pressemitteilung 177/ 2009, 10. Dezember 2009 Familien für Kinder gGmbH (2016): Interview mit der Care-Leaverin Roxan. Pflegekinder 1/ 2016 Familien für Kinder gGmbH, Care-Leaver Kompetenznetz (2016): Für einen gelingenden Übergang aus der Jugendhilfe in ein selbständiges Leben: 16 Handlungsempfehlungen für Jugendhilfeträger. In: www. Care-Leaver-kompetenznetz.de/ index.php? article_ id=43, 14. 9. 2016 Gravelmann, R. (2016): Care Leaver und Care Leaverinnen aus Einrichtungen der Erziehungshilfe. Dialog Erziehungshilfe 2 Nüsken, Dirk (2014): Care Leaver, Kritisches Glossar Hilfen zur Erziehung Paritätischer Wohlfahrtsverband Landesverband Berlin e.V., Diakonisches Werk Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz e.V. (2016): Positionspapier Unterstützung für Care-Leaver. In: www.paritaet-berlin.de/ fileadmin/ user_upload/ Dokumente/ 2016/ Juni/ 2016_06_20_ Positionspapier_Care-Leaver.pdf und www.diakonieportal.de/ system/ files/ positionspapier_CareLeaver_ 160617.pdf, 14. 9. 2016 Reißig, B., Mögling, T.; Tillmann, F. (2015): Entkoppelt vom System - Jugendliche am Übergang ins junge Erwachsenenalter und Herausforderungen für Jugendhilfestrukturen. In: Nachrichtendienst Deutscher Verein, Juni 2015 Sievers, B., Thomas, S. (2014): Übergangsbegleitung aus stationären Erziehungshilfen - ein Blick in die Praxis. In: Forum Erziehungshilfen 3 Sievers, B., Thomas, S., Zeller, M. (2014): IGFH, Uni Hildesheim (Hrsg.): Nach der stationären Erziehungshilfe. Care Leaver in Deutschland. Internationales Monitoring und Entwicklung von Modellen guter Praxis zur sozialen Unterstützung für Care Leaver beim Übergang ins Erwachsenenalter. Abschlussbericht für die Stiftung Deutsche Jugendmarke. In: https: / / www. uni-hildesheim.de/ media/ fb1/ sozialpaedagogik/ Forschung/ care_leaver/ Abschlussbericht_final_03- 2014.pdf, 14. 9. 2016 Sievers, T., Zeller, M. (2015): Jugendhilfe - Und dann? Zur Gestaltung der Übergänge junger Erwachsener aus stationären Erziehungshilfen. Ein Arbeitsbuch. IGFH Strahl, B.; Thomas, S. (2014): (Er)wachsen ohne Wurzeln? Der Weg aus den stationären Erziehungshilfen. In: Forum Erziehungshilfen 3