eJournals unsere jugend 69/1

unsere jugend
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0342-5258
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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2017
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Ausbildung, eigene Wohnung, neues Umfeld - und dann ist da noch ... ja, was eigentlich?

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2017
Ulrike Amann
Christina Kieslinger
Für junge Menschen, die einen Teil ihres Lebens in der stationären Erziehungshilfe verbracht haben, scheint die Aussicht auf die eigene Wohnung und Tagesplanung, Internet rund um die Uhr, keine Ausgangsbeschränkungen und Heimregeln sehr verlockend und befreiend. Heute wissen wir von Care Leavern, wie schwer der Übergang ins Erwachsenenleben aber auch sein kann.
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28 unsere jugend, 69. Jg., S. 28 - 32 (2017) DOI 10.2378/ uj2017.art05d © Ernst Reinhardt Verlag München Basel von Ulrike Amann Jg. 1974; Diplompädagogin; Projektleitung „Care Leaver - Wege in die Selbstständigkeit: Lokale Peer-Netzwerke für Care Leaver - Übergangsbegleitung aus stationären Erziehungshilfen weiterdenken“, Koordinatorin und Mitarbeiterin im Bereich „Junge Menschen beraten und begleiten/ jumbb“, Qualitätsbeauftragte, Martin-Bonhoeffer-Häuser Tübingen Ausbildung, eigene Wohnung, neues Umfeld - und dann ist da noch …ja, was eigentlich? Leaving Care in Baden-Württemberg Für junge Menschen, die einen Teil ihres Lebens in der stationären Erziehungshilfe verbracht haben, scheint die Aussicht auf die eigene Wohnung und Tagesplanung, Internet rund um die Uhr, keine Ausgangsbeschränkungen und Heimregeln sehr verlockend und befreiend. Heute wissen wir von Care Leavern, wie schwer der Übergang ins Erwachsenenleben aber auch sein kann. Die Risikogruppe Care Leaver ist erst seit ein paar Jahren in der Fachöffentlichkeit präsent Aus den Treffen mit Care Leavern unserer Einrichtung und aus aktuellen Studienergebnissen (Sievers/ Thomas/ Zeller 2014/ 2015) lässt sich schlussfolgern, dass sich diese Personengruppe oftmals mit Abschluss der Jugendhilfe in einer prekären Lage befindet. Der Aufbruch in die Selbstständigkeit wird nicht selten als Abbruch erlebt: „Ich fühlte mich wie emotional ausgespuckt“, lautete die Antwort einer Care Leaverin (30) auf die Frage nach ihrem Empfinden im Übergang aus der Wohngruppe in die Selbstständigkeit. Für viele junge Erwachsene endet die Jugendhilfe sehr abrupt, was vielfach auf die restriktiven und regional sehr verschiedenen Bewilligungspraxen von Jugendämtern im Umgang mit den Hilfen für junge Volljährige zurückzuführen ist (Sievers/ Thomas/ Zeller 2014, 3f ). Der Aufbruch in die Eigenständigkeit wird begleitet durch, meist von Care Leavern als steil empfundene, Abbrüche: Beziehungsabbrüche zu liebgewonnenen Personen, vertrauten Be- Christina Kieslinger Jg. 1987; Master Erziehungswissenschaft; Projektleitung „Care Leaver - Wege in die Selbstständigkeit: Lokale Peer-Netzwerke für Care Leaver - Übergangsbegleitung aus stationären Hilfen weiterdenken“, Assistenz der Leitung und Projektmanagement, Martin-Bonhoeffer-Häuser Tübingen 29 uj 1 | 2017 Leaving Care in Baden Württemberg treuerInnen und anderen Heimkindern sowie Verbindungsabbrüche zu vertrauten Orten und zur Institution selbst. Nicht selten brechen Gefühle des „Alleingelassen Werdens“ auf und rufen (erneut) Ängste und Krisen hervor: „… also irgendwie war es dann an dem Tag, an dem ich gehen musste, voll schlimm …ich hatte bis dahin auch nie so was Gutes wie die Wohngruppe …ich hatte voll die Angst, dann jetzt wieder alleine sein zu müssen“ (Care Leaverin, 22 Jahre). Bislang fehlt es an adäquaten Anschlusshilfen im Übergang in die Selbstständigkeit. Care Leaver stehen somit vor der Herausforderung, den Übergang aus der Erziehungshilfe und ins Erwachsenwerden zeitgleich meistern zu müssen (Sievers/ Thomas/ Zeller 2015, 20). Hinzu kommt, dass Care Leaver im Vergleich zu Gleichaltrigen den Übergang in die Selbstständigkeit früher bewältigen müssen (ebd., 21). Erst vor wenigen Jahren haben in Deutschland Initiativen, Projekte, Organisationen und Care Leaver selbst auf den Handlungsbedarf - Schaffung von adäquaten Anschlusshilfen im Übergang in die Selbstständigkeit - reagiert. Die Erfahrungen, insbesondere auch jene aus unserem ersten Care Leaver Treffen in 2015, zeigen, dass für viele Care Leaver die Verbindung an bekannte Orte bzw. an die Region wichtig ist. Deshalb ist es von hoher Bedeutung, neben bundesweiten Netzwerken und Lobbyarbeit auch regionale und landesweite Plattformen für junge Erwachsene aus den stationären Erziehungshilfen zu schaffen. Und hier knüpft unser Projekt an. Das Projekt „Wege in die Selbstständigkeit“ für Care Leaver in Baden-Württemberg Seit Anfang 2016 arbeiten zwei paritätische Einrichtungen in Tübingen und Waldenburg im Rahmen eines dreijährigen Projekts am Aufbau von regionalen und landesweiten Vernetzungsstrukturen mit und für Care Leaver. Das von der Aktion Mensch geförderte Projekt Care Leaver - Wege in die Selbstständigkeit: Lokale Peer-Netzwerke für Care Leaver - Übergangsbegleitung aus stationären Erziehungshilfen weiterdenken ist ein Kooperationsprojekt der Martin-Bonhoeffer- Häuser in Tübingen und des Albert-Schweitzer- Kinderdorfs in Waldenburg. Beides sind Einrichtungen der stationären Erziehungshilfen, allerdings mit sich stark unterscheidenden Organisationsstrukturen: ein familiengeprägtes Kinderdorf auf einem Heimgelände in Waldenburg gegenüber dezentral organisierten Wohngruppen an verschiedenen Standorten in und um Tübingen. Diese Strukturunterschiede wirken sich mit auf die Konzipierung von Formen und Angeboten der Ehemaligenarbeit aus. Projektziel 1: Initiierung von Plattformen für Austausch Die Erprobung neuer Angebote für Care Leaver ist eines der Ziele des Projektes. An beiden Standorten, Tübingen und Waldenburg, werden Plattformen für den Austausch unter Care Leavern, Miteinandersein und Wiedersehen initiiert, z. B. in Form von gemeinsamen Wochenenden, monatlichen Brunchs, großen und kleinen Ehemaligentreffen, Einladung jüngerer Care Leaver zum Ehemaligenrat. Deutlich wurde bisher: ➤ Das Zurückkommen ist stark an gewohnte Orte gebunden. In einer Einrichtung mit vielen kleinen Einheiten und Häusern sind dezentrale Ehemaligentreffen in den jeweiligen Wohngruppen attraktiver. In einem Kinderdorf auf einem Heimgelände ist die Identifikation von Care Leavern mit der Gesamteinrichtung eine andere und dementsprechend werden übergreifende, zentrale Angebote der Ehemaligenarbeit, wie etwa ein Sommerfest auf dem Heimgelände, mehr angenommen. ➤ Die Anwesenheit von vertrauten Personen erleichtert Care Leavern das Zurückkommen. Andere Heimjugendliche sind dabei genauso wichtig wie die MitarbeiterInnen einer Einrich- 30 uj 1 | 2017 Leaving Care in Baden Württemberg tung. Oft haben die PädagogInnen für Care Leaver über das Ende der Jugendhilfe hinaus eine große Bedeutung. Diese Erkenntnis sollte MitarbeiterInnen dazu sensibilisieren, sich mit ihrer Rolle, die sie langfristig für die jungen Erwachsenen innehaben, auseinanderzusetzen. Verletzend können beispielsweise Versprechen wirken, wenn diese im Arbeitsalltag verlorengehen: „Die Betreuer haben am Anfang, als ich aus der WG ausgezogen bin, gesagt,…ja wenn du ausziehst, werden wir noch Kontakt haben … und … das war eigentlich das Schlimmste für mich, die Tatsache, dass es eigentlich nur eine Lüge war, weil immer wenn man mal geschrieben hat… dann war das als ob man lästig ist,… mir wäre es lieber gewesen, wenn sie mir die Wahrheit gesagt hätten - ja, das ist jetzt ein Abschluss“ (Care Leaverin, 22 Jahre). Das Projektteam, das nun erneut Kontakt zu Care Leavern aufbaut und sie unterstützt, sieht sich mit dieser bedeutenden Rolle über die Jugendhilfe hinaus ebenso konfrontiert, wie die MitarbeiterInnen aus den Wohngruppen selbst. ➤ In Einrichtungen der stationären Erziehungshilfe sollte ein Konzept der Ehemaligenarbeit etabliert und bewusster mit der Phase des Übergangs umgegangen werden. Wie kann der Übergang in die Selbstständigkeit so begleitet und gestaltet werden, dass sich Care Leaver nicht „emotional ausgespuckt“, sondern im positiven Sinne „losgelassen“ fühlen? Wie können wir die jungen Menschen während der stationären Unterbringung so beteiligen, befähigen und stärken, dass sie nach der Hilfe in der Lage sind, sich „draußen“ zu orientieren, sich Unterstützung zu holen und trotzdem einen positiven Bezug zur Einrichtung behalten zu können? Inzwischen gibt es etliche Care Leaver, die zu den vom Projekt veranstalteten Angeboten kommen. Erkennbar ist, dass wir insbesondere junge Erwachsene erreichen, wenn diese einen Nutzen, einen „Gewinn“, erkennen können: Was haben sie von dem Kontakt zur Einrichtung oder erhoffen sich davon, wenn sie zu den Treffen kommen? Die Angebote müssen dementsprechend offen, auf Austausch und gemeinsames Tun angelegt sein und/ oder konkrete Hilfestellung anbieten können. Projektziel 2: Aufbau einer Kontakt- und Anlaufstelle für Care Leaver Neben offenen Plattformen für gruppenbezogene Aktivitäten hat sich erneut und sehr deutlich die Bedürftigkeit einzelner Care Leaver nach individuellen Beratungs- und Unterstützungsangeboten herauskristallisiert. Diese Form des Angebots wird eher von den „jüngeren“ Care Leavern im Sinne einer Alltagsberatung und Beschäftigung mit ihrer Geschichte, bei „älteren“ Care Leavern mehr punktuell z. B. zur Wohnungssuche in Anspruch genommen. Projektziel 3: Netzwerkarbeit und Selbstorganisation Neben den angestoßenen Angeboten für Care Leaver verfolgen wir mit dem Projekt ein weiteres Leitziel, nämlich die Stärkung und Unterstützung der Selbstorganisation von Care Leavern. Deshalb ist es uns von Beginn an wichtig, Care Leaver in die Planung und Umsetzung der gemeinsamen Angebote miteinzubeziehen. Die Selbstorganisation ist leichter möglich, wenn es für die jungen Erwachsenen konkrete Erfahrungen von Selbstwirksamkeit gibt: Was können Care Leaver mit dafür tun, dass sich ihre prekäre Situation zukünftig verbessert? Hierfür werden bereits bestehende Plattformen für Care Leaver in Baden-Württemberg (Tübingen und Waldenburg sowie die Regionalgruppe „Stuttgart“ des Care Leaver Vereins und das Stuttgarter Projekt „Stark für die Zukunft“) in einem landesweiten Netzwerktreffen zusammengeführt. Im November 2016 ist ein erstes gemeinsames Treffen geplant. 31 uj 1 | 2017 Leaving Care in Baden Württemberg Projektziel 4: Schaffung von Begegnungen zwischen Care Leavern und jungen Menschen, deren Übergang in die Selbstständigkeit naht Hier geht es um den wechselseitigen Austausch von Erfahrungen und Anforderungen in der stationären Jugendhilfe und um die Zeit danach: Wie ist es eigentlich, wenn man alleine wohnt und ganz auf sich selbst gestellt ist? Neben Begegnungen z. B. beim Gruppenabend, zu dem Care Leaver eingeladen werden, bahnen sich im Idealfall z. B. Freundschaften an. Nicht nur für pädagogische Fachkräfte, sondern auch für zukünftige Care Leaver ist es nützlich und eindrucksvoll, Erfahrungsberichte und Themen von Care Leavern über ihre Zeit in der Jugendhilfe zu hören - so spricht in diesem Zusammenhang eine erst jüngst gewordene Care Leaverin über die Vorbildfunktion älterer Care Leaver: „…als der Ältere da war, habe ich halt so gesehen, der kriegt es auch auf die Reihe.…in der Wohngruppe hatte ich ganz oft das Gefühl,…die brechen alle ihre Ausbildung ab, kriegen es alles nicht so auf die Reihe…und da sehe ich immer wieder, es kann doch funktionieren“ (Care Leaverin, 22 Jahre). In den nächsten Monaten soll der Versuch gestartet werden, auch Einzelpersonen oder Familien aus dem Gemeinwesen, Menschen mit verschiedenen Expertisen und Wissensständen, Akteurinnen und Akteure aus der Verwaltung, Politik oder verschiedenen Unternehmen einzubinden. Lassen sich Personen finden, die sich für die Situation von Care Leavern ehrenamtlich stark machen, die in den Plattformen mitwirken oder einen Care Leaver in seiner Übergangszeit begleiten wollen? Der „Gewinn“ des Projektes für Care Leaver Ein gelungenes Leaving Care mit Orten des Zurückkommens und Personen, die nachfragen, wie es einem geht, oder die zuhören, wenn es gerade schwierig ist - Formen und Angebote im Rahmen der Ehemaligenarbeit zu initiieren, ist für die bislang erreichten Care Leaver ein großer Zugewinn: „… auch wenn ich manchmal kein Bock drauf habe, gehe ich trotzdem hin und merke dann auch, ich habe irgendwie doch einen Anschluss. Wenn die in meiner WG sagen, ja ich fahre mal wieder nach Hause, ja meine Mutter hat dies, meine Mutter hat das, ja mein Vater kommt und repariert den Schrank … Dann denke ich irgendwie manchmal so: ihr könnt mich jetzt alle mal. Ich geh jetzt zu Care Leaver. …Ich habe wenigstens Care Leaver. Und das ist schon voll gut, finde ich. Für mich zumindest“ (Care Leaverin, 22 Jahre). Deutlich wird in den Gesprächen, dass für viele junge Erwachsenen die Gemeinsamkeit, die sie mit vielen anderen Care Leavern teilen, ein Beweggrund ist, regelmäßig an verschiedenen Treffen teilzunehmen. So trägt jeder die Erfahrungswerte einer Fremdunterbringung in der stationären Jugendhilfe - sei es von kurzer oder langer Dauer, sei die Unterbringung 40 Jahre oder erst ein paar Monate her. Es herrschen keine Vorurteile über Heimkinder, alle fühlen sich akzeptiert und normal behandelt: „Wenn jemand erfährt, dass jemand in der Wohngruppe war, dann ist das immer so ein Vorurteil. … Die behandeln mich dann öfter softer oder fangen an, Vorurteile zu ziehen, weil sie die Mitte nicht finden … und bei Care Leaver habe ich null das Problem. Da habe ich das Gefühl, die akzeptieren mich so, wie ich bin … man kann sagen, darüber mag ich nicht reden und es wird akzeptiert… man weiß, die verurteilen da jetzt einen nicht“ (Care Leaverin, 22 Jahre). Ausblick In den kommenden Monaten wird das Projektteam die Öffentlichkeitsarbeit lokal und überregional in den Fokus nehmen. Denn das Thema Leaving Care genießt noch zu wenig Beachtung in der Öffentlichkeit. Presse und Gremien vor 32 uj 1 | 2017 Leaving Care in Baden Württemberg Ort müssen genutzt werden, um die Lebensrealität der Care Leaver sichtbarer zu machen und existenzielle Fragen zu klären: Wer springt z. B. in der Finanzierung und Versorgung des Lebensunterhalts ein, wenn es nicht mehr weitergeht? Was muss sich verändern, damit Übergänge nicht durch problematische Schnittstellen erschwert werden? Im Rahmen einer Fachveranstaltung im Herbst 2017 in Stuttgart soll auf die „Risikogruppe Care Leaver“ eingegangen werden, bei der Care Leaver wie Fachleute zu Wort kommen sollen. Als landesweite Plattform ist eine Homepage in Planung, auf der Aktivitäten und Angebote aus ganz Baden-Württemberg für und von Care Leavern unterschiedlicher Regionen und Einrichtungen dargestellt und aktualisiert werden sollen. Der Aufbau von regionalen und landesweiten Plattformen für Care Leaver in Baden-Württemberg steckt zwar noch in den Kinderschuhen, dennoch ist ein hohes Engagement von so manchen Care Leavern spürbar, sich zukünftig für die Situation von (werdenden) Care Leavern stark zu machen. Dieses Engagement wird das Projekt weiterhin aufgreifen! Ulrike Amann und Christina Kieslinger Martin-Bonhoeffer-Häuser Tübingen Lorettoplatz 30 72072 Tübingen Tel. (0 70 71) 56 71-2 82 E-Mail: christina.kieslinger@mbh-jugendhilfe.de ulrike.amann@mbh-jugendhilfe.de careleaver@mbh-jugendhilfe.de Literatur Sievers, B., Thomas, S., Zeller, M. (2015): Jugendhilfe - und dann? Zur Gestaltung der Übergänge junger Erwachsener aus stationären Erziehungshilfen. Ein Arbeitsbuch. IGfH-Eigenverlag, Frankfurt/ Main Sievers, B., Thomas, S., Zeller, M. (2014): Nach der stationären Erziehungshilfe. Care Leaver in Deutschland. Online verfügbar: https: / / www.uni-hildesheim.de/ media/ fb1/ sozialpaedagogik/ Forschung/ care_lea ver/ Abschlussbericht_final_03-2014.pdf., 11. 10. 2016