unsere jugend
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0342-5258
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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2017
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Das neue Jugendbild der Postmoderne?
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2017
Patrik C. Höring
Lassen junge Menschen von heute Anzeichen einer sogenannten ‚Postmoderne‘ erkennen? Begegnet uns in ihnen gar der Prototyp jenes Menschen, der mit den Herausforderungen der Moderne, die in den Schlagworten Säkularisierung, Pluralisierung und Individualisierung zusammengefasst werden können, kreativ umgeht, sie bewältigt und überwindet? Einblicke in und Anfragen an das aktuelle Jugendbild anhand der Shell-Jugendstudie 2015.
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76 unsere jugend, 69. Jg., S. 76 - 79 (2017) DOI 10.2378/ uj2017.art12d © Ernst Reinhardt Verlag München Basel Das neue Jugendbild der Postmoderne? Beobachtungen und Anmerkungen zur Shell-Jugendstudie 2015 Lassen junge Menschen von heute Anzeichen einer sogenannten ‚Postmoderne‘ erkennen? Begegnet uns in ihnen gar der Prototyp jenes Menschen, der mit den Herausforderungen der Moderne, die in den Schlagworten Säkularisierung, Pluralisierung und Individualisierung zusammengefasst werden können, kreativ umgeht, sie bewältigt und überwindet? Einblicke in und Anfragen an das aktuelle Jugendbild anhand der Shell-Jugendstudie 2015. von Prof. Dr. Patrik C. Höring Jg. 1968; Professor für Katechetik und Didaktik des Religionsunterrichts an der Philosophisch-Theologischen Hochschule der Steyler Missionare in Sankt Augustin und Mitarbeiter am Institut für Kinder- und Jugendpastoral des Erzbistums Köln „Religio Altenberg“ „Eine pragmatische Generation im Aufbruch“ - so lautet der Untertitel der Shell-Jugendstudie „Jugend 2015“. Damit gibt das Autorenteam zugleich das Resümee ihrer aktuellen Jugendstudie an. Die seit 2002 als pragmatisch gekennzeichnete Generation von Jugendlichen hat, so die Autoren, die Talsohle der gesellschaftlichen Herausforderungen durchschritten und wird den Leserinnen und Lesern als Vorzeichen einer neuen, optimistisch gestimmten Jugendgeneration vorgestellt, die sich schon in der letzten Studie 2010 andeutete, nun aber ‚durchstartet‘. Pragmatismus vor Idealismus, Sicherheit vor Wagemut Das zentrale Kennzeichen des Jugendalters ist in den Shell-Jugendstudien seit 2002 der Pragmatismus. Laut Klaus Hurrelmann sind die jungen Menschen „Egotaktiker“ (Hurrelmann 2002, 31 - 37), die produktiv mit jener Herausforderung umgehen, die im Anschluss an Ulrich Beck und den 8. Kinder- und Jugendbericht der Bundesregierung seit der Mitte der 1980er Jahre als Individualisierung bezeichnet wird. Angesichts der Komplexität heutiger Herausforderungen und der Unübersichtlichkeit gesellschaftlicher Entwicklungen legen sich junge Menschen nicht fest, sondern halten sich vielmehr alles offen. Im Sinne eines individuellen „Umweltmonitorings“ screenen sie die Gegenwart und ihre Signaturen aufmerksam, um ihre je eigene Wertekompilation, ihre persönliche „Wertesynthese“ (Klages 2001), herzustellen, die seit der Jahrtausendwende als postmoderner Wertemix von Tradition und Hedonismus verstanden werden kann. „Im Vordergrund steht die individuelle Suche“ (Shell Deutschland Holding 2015, 13) nach dem je eigenen Platz in der Gesellschaft, der heute dem Einzelnen eben nicht 77 uj 2 | 2017 Das neue Jugendbild der Postmoderne? mehr vorgegeben, sondern als individuelle Fragestellung zu lösen aufgegeben ist. An vielen Stellen erscheint die aktuelle Jugendgeneration als überaus zufrieden. Die persönliche Zukunftsperspektive im Zeitreihenvergleich offenbart eine optimistische Haltung, die in diesem Ausmaß an Höhenflüge der frühen 1990er Jahre erinnert (vgl. Shell Deutschland Holding 2015, 103, Abb. 2.21). Seit der Jahrtausendwende hat sie sich ohnehin von der Einschätzung der gesellschaftlichen Zukunft abgekoppelt. War im Westen die gesellschaftliche Perspektive in der Regel besser als die persönliche, verkehrte sich dies in den letzten 15 Jahren ins Gegenteil (vgl. Shell Deutschland Holding 2015, 103, Abb. 2.21; 105, Abb. 2.22; vgl. ebd., 378f ): Persönlicher Optimismus bei eher gedämpften gesellschaftlichen Erwartungen. Mit anderen Worten: Es ist nicht alles rosig zurzeit, aber wir machen das Beste draus! Den Hintergrund dafür bilden die zurückgegangenen wirtschaftsbezogenen Ängste (Arbeitsplatzverlust, drohende Armut u. Ä.), die in der Vergangenheit unter Jugendlichen dominierten, nun aber eher gesamtgesellschaftlichen bzw. weltpolitischen Ängsten (Angst vor Terror und Krieg) gewichen sind (vgl. Shell Deutschland Holding 2015, 95-97). Freilich ist seit der Shellstudie 2010 zu beachten: „In den Zukunftsperspektiven spiegeln sich soziale Herkunft und Selbstbehauptung“ (Shell Deutschland Holding 2011, 110). D. h. in unteren sozialen Schichten oder bei Jugendlichen mit Migrationshintergrund ist es mit dem allgemein gestiegenen Optimismus nicht weit her - im Gegenteil! Der Pessimismus ist sogar (wieder) angestiegen (vgl. Shell Deutschland Holding 2015, 99, Abb. 2.20; 100 - 102). Doch daran entzündet sich eine erste Frage, nämlich wie gesellschaftlicher Zusammenhalt unter dem Vorzeichen der Individualisierung und des Pragmatismus vorzustellen ist? Vor allem: Wie ist eine Veränderungsbereitschaft unter jungen Menschen zu induzieren, eine Veränderungsbereitschaft, zu der doch weniger Pragmatismus als vielmehr Idealismus notwendig ist? Nun findet sich aber eben gerade solcher Idealismus wohl nur mehr bei einer Minderheit der heutigen Jugendgeneration. Nur ein Viertel der Befragten gilt den Autoren als „Idealisten“, denen Werte wie „Andere Meinungen tolerieren“ und„Sozial Benachteiligten helfen“ wichtiger sind als bspw. hoher Lebensstandard, „Macht und Einfluss“ oder „Fleiß und Ehrgeiz“ (vgl. Shell Deutschland Holding 2015, 264 - 271, hier 265f ). So dominieren Elemente der Sicherheit in der Werteorientierung Aspekte der Kreativität und sogar des Genusses (vgl. Shell Deutschland Holding 2015, 239, Abb. 6.1). Auch bei der Berufsorientierung etwa spielen nur für 18 % der Befragten soziale Aspekte eine Rolle, während sich bei 37 % (den „Durchstartern“) wirtschaftlicher Nutzen und persönliche Erfüllung die Waage halten, bei 27 % (den „Bodenständigen“) der Nutzen im Vordergrund steht und weitere 18 % (die „Distanzierten“) ohnehin auf Distanz zu den Aspekten des Berufslebens gehen (vgl. Shell Deutschland Holding 2015, 17; 88 - 95). Die an vielen Stellen angemerkte große Zufriedenheit und der persönliche Optimismus scheinen kaum Anlass zu Veränderungen bzw. zur gesellschaftlichen Erneuerung zu geben. Es hat den Anschein, als genüge „die Oberschicht“ sich selbst, während „die Unterschicht“ in Fatalismus verfällt. Die persönlichen, gesellschaftlichen und globalen Probleme jedoch bleiben. Hier liegt eine zentrale Herausforderung für schulische wie außerschulische Pädagogik. Mehr noch als die Frage nach geeigneter politischer Partizipation ist offensichtlich zu fragen, wie überhaupt gesellschaftliche Veränderung möglich ist, wenn keine Fantasie eines anderen, alternativen Lebens vorhanden ist. Herausforderung Interkulturalität und Zuwanderung - unkritischer Nationalstolz bei Jüngeren Die gesellschaftliche Pluralisierung scheint jungen Menschen weniger Probleme zu bereiten als möglicherweise anderen Kohorten. Diesbezügliche Vorbehalte sind aktuell eher rückläufig, jedoch nach wie vor eine Realität, 78 uj 2 | 2017 Das neue Jugendbild der Postmoderne? mit der es umzugehen gilt (vgl. Shell Deutschland Holding 2015, 183 - 188). Die gesellschaftliche Stimmungslage ist freilich angesichts der aktuellen Flüchtlingsbewegungen nach Europa und nach Deutschland schwer prognostizierbar. Daher stellt sich die Frage, ab wann die persönliche Sicherheit (die Sorge um Arbeit und individuellen Wohlstand) als gefährdet wahrgenommen wird und daher zu einer Eintrübung dieses zunächst positiv sich darstellenden Ergebnisses führt. Schon jetzt zeigt sich, wo politischer und bildungspolitischer Handlungsbedarf liegt. Vor allem gesellschaftlich benachteiligte Jugendliche können leicht in einen vermeintlichen Verteilungswettkampf geraten, der zu Lasten einer positiven Stimmung gegenüber Zuwanderung geht. Diese (noch) offene Stimmungslage steht für die meisten nicht im Widerspruch zu einer hohen Identifikation mit Deutschland als Heimat. Vor allem Jüngere weisen einen überraschenden, unkritischen Nationalstolz auf (vgl. Shell Deutschland Holding 2015, 227 - 235), der sich paart mit einer Hinwendung zur Tradition und einer neuen Aufgeschlossenheit für das Althergebrachte (vgl. Shell Deutschland Holding 2015, 248 - 250), die in früheren Generationen kaum vorstellbar war. Der Wandel der Eltern-Kind-Beziehung Freundlichkeit und Optimismus prägen auch das Familienleben. Die Beziehung zwischen Eltern und Kindern wird uns als großmehrheitlich wohlwollend-freundlich dargestellt. Der Generationenkonflikt ist offensichtlich an ein Ende gekommen. Eltern gelten jungen Menschen heute eher als Freunde und Berater, das Elternhaus bzw. die Familie als eine irgendwie geartete Form von Wohngemeinschaft. Jugendliche heute teilen sogar die Erziehungsziele ihrer Eltern und unterscheiden sich von ihnen in fast erschreckend geringem Ausmaße (vgl. Shell Deutschland Holding 2015, 51 - 56, 279 - 286). In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, wie sich Jugendkultur noch als Gegenkultur verstehen kann, zumal jugendkulturelle Elemente in Windeseile von Erwachsenen aufgegriffen und vermarktet werden. Es stellt sich in diesem Zusammenhang aber auch die Anfrage an die Jugendarbeit als Sozialisationsinstanz im Gegenüber zur bzw. als Ergänzung von Schule und Familie. Die derzeitige Jugendarbeit, die nach wie vor auf die Gleichaltrigengruppe setzt, scheint in vielfacher Hinsicht noch den emanzipatorischen Ansätzen einer in den 1970er Jahren entstandenen Jugendpädagogik verhaftet. Braucht es noch eine derart gestaltete Jugendarbeit? Oder muss Emanzipation heute schlichtweg anders verstanden werden angesichts fehlender (oder zumindest nicht offenkundig werdender) Formen von Unfreiheit? Es überrascht nicht, dass angesichts gestiegener Freiheitsgrade und in unsicheren Zeiten Stabilität und Sicherheit hoch im Kurs stehen, die Familie als emotionaler Anker wichtig bleibt und die Berufswahl vor allem (materielle) Sicherheit bieten soll (denn gesellschaftliche Teilhabe realisiert sich nun einmal zu einem großen Teil durch Teilhabe an einer kommerziell organisierten Freizeitkultur). Wie aber können und sollen zufriedene, sicherheitsbedürftige, familienorientierte junge Menschen zu Motoren von Innovation und Erneuerung werden? Gerade dies etwa schreiben die kirchlichen Jugendverbände auf ihre Fahnen und sind doch zugleich von eher konservativ-bürgerlichen und familienorientierten Mitgliedern geprägt. Damit deutet sich auch eine Krise für eine Jugendarbeit in der Tradition eines kritisch-prophetischen Christentums an, das jenseits von Brauchtum und Folklore gesellschaftspolitisch wirksam sein will. Angesichts dieser Ausgangslage ist wenig einsichtig, woher sich das angeblich (leicht) gestiegene politische Interesse der aktuellen Jugendgeneration (vgl. Shell Deutschland Holding 2015, 156 - 163) - das freilich Werte der 1980er Jahre nicht erreichen kann - speist und worauf 79 uj 2 | 2017 Das neue Jugendbild der Postmoderne? der allgemeine jugendliche Optimismus beruht angesichts der gesellschaftlichen Entwicklungen. Kirche für die persönliche Lebensführung nach wie vor unwichtig Gleichwohl die Kirche als gesellschaftliche Institution durchaus wertgeschätzt wird, nimmt der persönliche Bezug zu Kirche und Glaube bzw. Glaubenspraktiken weiter ab (vgl. Shell Deutschland Holding 2015, 251 - 260). Finden 67 % der Befragten „es gut, dass es die Kirche gibt“, so bejahen zugleich 57 % die Aussage, dass die Kirche „auf Fragen, die mich wirklich bewegen“, keine Antwort habe (vgl. Shell Deutschland Holding 2015, 259, Abb. 6.16). Die an manchen Stellen erkennbare traditionelle Wende in der Wertorientierung kommt dem Christentum nicht zugute. Religion ist zwar eine konstante Größe, sie kann aber nur zum Teil auf einen persönlichen Glaubensvollzug bauen. So ist der Gottesglaube an einen persönlichen Gott nur noch bei 38 % der christlichen Jugendlichen von größerer Wichtigkeit. Zugenommen hat demgegenüber nicht die Ablehnung eines bestimmten Gottesbildes, sondern eher die Unkenntnis und die Indifferenz. So gilt beides: Man kann zur Kirche gehören, ohne zu glauben, wie es umgekehrt Glauben auch außerhalb der Kirche gibt („believing without belonging“ - Davie 1994). Freilich besteht eine Korrelation zwischen Kirchlichkeit und persönlichem Glauben: Jugendliche aus einem religiösen Elternhaus und mit einem positiven Bezug zur Kirche glauben überproportional stark an einen persönlichen Gott und üben regelmäßiger religiöse Vollzüge aus. Nach wie vor aber besteht unter allen Befragten der Wunsch, dass Kirche sich moderner gestalten möge. Herausfordernd für die kirchliche Jugendarbeit aber bleibt der zunehmende Anteil an religiöser Indifferenz vermutlich auch aufgrund mangelnder eigener (positiver) Erfahrungen mit bzw. in der Kirche. Resümee: Gibt es überhaupt noch eine eigene Jugendphase? Das klassische Jugendbild hat sich zweifellos im neuen Jahrtausend gewandelt. Muss auf dem Hintergrund gewandelter Eltern-Kind-Beziehungen, dem frühen Eindringen von Leistungserwartungen in das Jugendalter und dem selbstverständlichen Umgang damit (Integration von Leistungserwartungen statt Ablehnung oder Ignorieren) nicht sogar von einem Ende des Jugendalters gesprochen werden? Oder zumindest vom Ende der Jugend als einem Ideal bzw. einem bestimmten Lebensgefühl? Was bedeutet dies für die Jugendarbeit? Eine Diskussion über das eigene Selbstverständnis steht an. Prof. Dr. Patrik C. Höring Philosophisch-Theologische Hochschule SVD St. Augustin Arnold-Janssen-Straße 30 D-53757 Sankt Augustin Tel. (0 15 20) 16 42-1 43 E-Mail: p.hoering@pth-augustin.eu Literatur Davie, G. (1994): Religion in Britain since 1945. Believing without belonging, Blackwell, Oxford Hurrelmann, K. (2002): Eine Generation von Egotaktikern? Ergebnisse der bisherigen Jugendforschung. In: Deutsche Shell (Hrsg.): Jugend 2002. Zwischen pragmatischem Idealismus und robustem Materialismus. Fischer Taschenbuch, Frankfurt/ Main, 31 - 51 Klages, H. (2001): Brauchen wir eine Rückkehr zu traditionellen Werten? In: Aus Politik und Zeitgeschichte, 29/ 2001, 7 - 14 Shell Deutschland Holding (Hrsg.) (2015): Jugend 2015. Eine pragmatische Generation im Aufbruch (17. Shell- Jugendstudie). Fischer Taschenbuch, Frankfurt/ Main Shell Deutschland Holding (Hrsg.) ( 2 2011): Jugend 2010. Eine pragmatische Generation behauptet sich (16. Shell-Jugendstudie). Fischer Taschenbuch, Frankfurt/ Main
