eJournals unsere jugend 69/2

unsere jugend
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0342-5258
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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2017
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Das Projekt WERTE-WERKSTATT

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2017
Andreas Funke
Anna Pukajlo
„Was ist dir wichtiger: dein Handy, deine Familie, die Religion, Instagram oder gute Freunde?“ Yasmina (Name geändert) ist verwirrt. Einige KlassenkameradInnen versuchen zu helfen: „Mensch, ohne Handy geht gar nichts!“, „Aber deine Familie ist doch das Wichtigste, die sind immer für dich da!“, „Die Religion geht über alles!“.
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80 unsere jugend, 69. Jg., S. 80 - 89 (2017) DOI 10.2378/ uj2017.art13d © Ernst Reinhardt Verlag München Basel Das Projekt WERTE-WERKSTATT Toleranz üben - Dialog schaffen „Was ist dir wichtiger: dein Handy, deine Familie, die Religion, Instagram oder gute Freunde? “ Yasmina (Name geändert) ist verwirrt. Einige KlassenkameradInnen versuchen zu helfen: „Mensch, ohne Handy geht gar nichts! “, „Aber deine Familie ist doch das Wichtigste, die sind immer für dich da! “, „Die Religion geht über alles! “. von Andreas Funke Jg. 1967; Diplompädagoge, Projektleitung WERTE-WERKSTATT Ein Modellprojekt zur Radikalisierungsprävention Es ist der dritte Projekttag der WERTE-WERK- STATT in einer 7. Klasse einer Berliner Sekundarschule. Aus einer Vielzahl an Karten mit verschiedensten Begriffen hat sich Yasmina ihre fünf wichtigsten ausgesucht. Nun soll sie unter diesen fünf Begriffen differenzieren, dabei war die Auswahl doch schon schwer genug. „Lasst sie allein entscheiden! Es geht darum, was für SIE wichtig ist, ihr könnt eure eigene Auswahl gleich selbst erklären! “, unterbricht die Pädagogin des Projekts WERTE-WERKSTATT die aufkeimende Debatte. Jede/ r soll ganz persönlich eine Gewichtung und Auswahl treffen können, es gibt kein ‚richtig‘ oder ‚falsch‘, sondern nur sehr verschiedene persönliche Prioritäten. Zuvor haben die Jugendlichen sich schon spielerisch mit den Themen Identität, Religion und den Widersprüchen von Moralvorstellungen und Freiheitswille auseinandergesetzt. Die Übung ist die Einleitung zu einer weiteren Beschäftigung mit persönlichen Werten. Das Projekt WERTE-WERKSTATT in der Trägerschaft des Jugendhilfeträgers casablanca gGmbH mit einer Laufzeit von 2015 - 2019 richtet sich vorrangig an zwei Sekundarschulen in Berlin-Wedding. In Kooperation mit diesen beiden Schulen, ergänzt durch die Kooperation mit Jugendfreizeiteinrichtungen im Umfeld, wird in verschiedenen Lebensbereichen der Jugendlichen im Alter von 12 - 17 Jahren über einen Zeitraum von vier Jahren ein Toleranz-Lern-Curriculum entwickelt und umgesetzt. Das Modellprojekt WERTE-WERKSTATT wird im Rahmen des Bundesprogramms „Demokratie leben! Aktiv gegen Rechtsextremismus, Gewalt und Menschenfeindlichkeit“ durch das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend gefördert (http: / / www.demokratieleben.de/ ). Dr. Anna Pukajlo Jg. 1981; Sprach- und Erziehungswissenschaftlerin, Projektkoordination WERTE-WERKSTATT 81 uj 2 | 2017 Das Projekt WERTE-WERKSTATT Hintergründe Aktionsraum des Projektes sind die Stadtteile Wedding und Gesundbrunnen, zentral gelegen im Berliner Bezirk Mitte. Die Stadtteile stehen immer wieder im medialen Fokus, wenn es um islamistische und salafistische Vorfälle geht. Mehrere in diesem Zusammenhang festgenommene Verdächtige hatten ihren Wohnsitz im Bezirk oder Kontakt in eine dort ansässige Moschee. Salafistische oder islamistische Propaganda wird in kleinen Räumen verbreitet, bekommt aber große mediale Aufmerksamkeit, welche sich auch in Diskursen im Sozialraum wiederfindet. Der Wandel von der öffentlich geführten „Ausländerdebatte“ der 90er Jahre zur „Islamdebatte“ und verschärfend zu einer „Problemdebatte“ hat zur Folge, dass die Identifikation der als Muslime angesprochenen Menschen mit anderen MuslimInnen wächst und Zusammenhalt und Solidarität in der durch äußere Projektionen konstruierten Gemeinschaft gesucht wird. Beschleunigt wird dies wiederum durch die mediale Aufarbeitung aktueller nationaler und internationaler Ereignisse in diesem Zusammenhang. Das Thema taucht auch in sozialräumlichen Zusammenhängen immer wieder auf, meistens allerdings eher unauffällig. Durch die medial verbreitete gesellschaftliche Ablehnung islamistischer Ideologie und die häufige Verwechslung und Vermischung von Islam und Islamismus vorsichtig geworden, äußern Jugendliche beiderlei Geschlechts entsprechende Ansichten nur sehr verhalten in der Gegenwart Erwachsener. Sie nehmen sich als Muslime von dieser Gesellschaft ausgegrenzt wahr, fühlen sich von den in der großen Mehrheit nichtmuslimischen PädagogInnen und anderen Erwachsenen nicht verstanden. Gleichzeitig kann eine zunehmende Selbstdefinition der Jugendlichen als Muslime beobachtet werden bei gleichzeitig nur marginalen Kenntnissen des Islam selbst. Diese (Rück-)Besinnung und die damit einhergehende Orientierungssuche schafft Angriffspotenzial für extremistische Agitation, führt aber auch zu Abwertung anderer, die sich nicht den gleichen Sichtweisen hingeben. Die über casablanca gGmbH in den Schulen eingesetzten Teams der Schulsozialarbeit erleben immer wieder Jugendliche, welche sich konservativen Auslegungen des Islam zuwenden und/ oder einfache Antworten auf die Frage suchen, was „halal“ bzw. „haram“ ist. Jugendliche versuchen sich bei der Frage, wie sie als Muslim sein sollen, gegenseitig zu beeinflussen und sprechen sich gegenseitig das Recht ab, sich Muslim nennen zu dürfen, wenn die Vorstellungen des anderen den eigenen widersprechen. Es kam in der Vergangenheit zur Verteilung von Flyern durch salafistische Gruppierungen vor den Schulen. Bestimmte Topoi, Deutungsmuster aus dem islamistischen Diskurs, wirken dabei medial vermittelt über die kleine Gruppe radikaler Islamisten hinaus in weite Kreise Jugendlicher, die mit Islamismus eigentlich „nichts am Hut haben“. Bei einigen Lehrkräften der Schulen lassen sich Unsicherheiten im Umgang mit dem Islam beobachten, zum Teil werden die weltanschaulichen Hintergründe der Jugendlichen entweder ausgeblendet oder grundsätzlich ausgegrenzt. Auch findet sich die Diversität der Jugendlichen innerhalb der Gruppe der PädagogInnen nach wie vor nur sehr begrenzt wieder, sodass Schule, zeitlich ein zentraler Lebensort der Jugendlichen, als Teil einer „anderen“ Realität wahrgenommen wird. Den Schulen sind diese Problematiken bewusst, ihre Bearbeitung ist durchaus Teil des alltäglichen pädagogischen Handelns, nicht nur im Fach Ethik. Um die im schulischen Alltag begrenzten Handlungsoptionen zu erweitern, wurden aus der langjährigen Kooperation der Schulen mit dem Jugendhilfeträger casablanca gGmbH über das Bundesprogramm „Demokra- 82 uj 2 | 2017 Das Projekt WERTE-WERKSTATT tie leben! “ Drittmittel akquiriert, um ein passendes Konzept zu entwickeln und durchzuführen. Dies ermöglicht sowohl eine Erweiterung des Know-how der beteiligten Partner in Schule und Schulsozialarbeit als auch zusätzliche personelle Ressourcen zur Durchführung der konzipierten Maßnahmen. Ziele Das Projekt WERTE-WERKSTATT arbeitet im Programmbereich Radikalisierungsprävention, Themenbereich Islamistische Orientierungen und Handlungen des Bundesprogramms „Demokratie leben! “. Die Hauptziele des Projektes liegen dabei in fünf aufeinander bezogenen inhaltlichen Bereichen: Radikalisierung vorbeugen Der Kreislauf aus Ausgrenzung, Selbstdefinition, Segregation und Ausgrenzung der Jugendlichen soll unterbrochen werden, indem fixe Zuschreibungen und Gruppendefinitionen aufgelöst und die einfachen ‚Gut- Böse‘-Klischees durchbrochen werden. Hier soll „teaching complexity“ helfen, nicht immer die einfache, vermeintlich eindeutige Lösung zu suchen, sondern die Zwischentöne und persönlichen Sichtweisen zu erkennen und ihnen Vorrang vor von außen verkündeten ‚Wahrheiten‘ zu geben. Ein weiteres Ziel ist es, die Verunsicherung der PädagogInnen durch Information und Sensibilisierung abzubauen. Toleranz und Partizipation fördern Die Vielfalt der Werte, Glaubensvorstellungen und Lebensrealitäten der Jugendlichen soll erlebbar und anerkannt werden. Die Jugendlichen sollen im Verlauf des vierjährigen Bildungsprozesses in die Lage versetzt werden, als Peers Verantwortung für ein tolerantes Miteinander zu übernehmen. Intergenerativen und interreligiösen Dialog initiieren In den Dialogworkshops, die in der zweiten Projekthälfte entwickelt und initiiert werden, soll angelehnt an das dialogische Prinzip Martin Bubers ein authentischer Austausch zwischen den Jugendlichen und Erwachsenen entstehen, in dem sich das eine in der Begegnung mit dem Anderen erkennt. Vernetztes Arbeiten im Sozialraum fördern Um den angestrebten Dialog herstellen zu können, werden geeignete Institutionen und Personen benötigt. Auch ist eine Vernetzung der Sozialraumpartner, die im direkten Kontakt mit Jugendlichen stehen, eine der Voraussetzungen für eine gelingende Prävention von Radikalisierung. Das Projekt soll deshalb sowohl in Schulen als auch in Freizeiteinrichtungen und weiteren Einrichtungen des Sozialraums wirken. Transferfähigkeit und nachhaltige Nutzung der Ergebnisse Die nachhaltige Nutzung der Erfahrungen und Ergebnisse des Modellprojektes durch den Aufbau von Know-how in den beteiligten Einrichtungen und die Aufbereitung der Ergebnisse für einen Transfer in weitere Einrichtungen und Sozialräume werden von Beginn an verfolgt. Zielgruppen Im Sinne von Prävention und um eine breite Wirkung und Sensibilisierung zu erreichen, gehören alle SchülerInnen der beiden Sekundarschulen zur Zielgruppe des Projekts. Es handelt sich um Jugendliche im Alter von 12 bis 17 Jahren. Eine große Mehrheit (80 - 90 %) der SchülerInnen ist nichtdeutscher Herkunft, das übertrifft ihren prozentualen Anteil an der Bevölke- 83 uj 2 | 2017 Das Projekt WERTE-WERKSTATT rung des Bezirks, da unter den SchülerInnen deutscher Herkunft verstärkte Ausweichbewegungen an Schulen in anderen Bezirken zu verzeichnen sind. Viele der Jugendlichen kommen aus sozial schwachen Familien. Tonangebende größte Gruppe unter den SchülerInnen sind Jugendliche mit einem muslimischen Hintergrund. Die Inhalte und Aktivitäten des Projektes richten sich jedoch an alle Jugendlichen, unabhängig von ihrer Herkunft und ihrem religiösen Hintergrund - sind sie doch in ihrer Gesamtheit Teil des Diskurses und des Prozesses von Selbst- und Fremddefinition. Es ist davon auszugehen, dass in dieser breit angelegten Zielgruppe ein kleiner nicht quantifizierbarer Anteil der Jugendlichen, ob deutscher oder nichtdeutscher Herkunft, ob aus sozial schwachen oder bürgerlichen Familienverhältnissen, gefährdet ist, sich zu radikalisieren - diese Gruppe gilt es insbesondere zu erreichen. Nutzbare gemeinsame Ressourcen aller Jugendlichen sind das Know-how des Lebens in verschiedenen Realitäten und Kulturen sowie die Fähigkeit, dazwischen hin- und herzuswitchen. Eine weitere Zielgruppe sind die PädagogInnen der beteiligten Schulen und Jugendfreizeiteinrichtungen und Erwachsene im sozialräumlichen Kontext wie Quartiersmanagement, Sportvereine etc. Sie verfügen zumeist über profunde Erfahrungen im alltäglichen, pragmatischen Umgang mit Diversität. Manche von ihnen sind jedoch auch verunsichert und haben Wissenslücken zu den Themenfeldern Islam, Islamismus und Radikalisierung. Oft fehlen tiefere Einblicke in die Lebenswelten und Wertanschauungen der Jugendlichen - sowie Handwerkszeug und Gelegenheiten, um „Pluralität lernen“ zu ermöglichen. Handlungskonzept Um an diesen Bedarfen anzuknüpfen, wurde eine auf mehrere Jahre ausgelegte Projektstrategie entwickelt. Zentraler Ansatz ist dabei, die Jugendlichen von der 7. bis zur 10. Klasse zu begleiten und altersgerechte, aufeinander aufbauende Workshop-Formate zu entwickeln. Der Bogen reicht dabei von der Beschäftigung mit der eigenen Identität und den persönlichen Wertvorstellungen im 7. Jahrgang über das Miteinander der verschiedenen Weltanschauungen im interreligiösen und intergenerativen Austausch bis zur geplanten Verantwortungsübernahme durch SchülerInnen der 10. Klassen, welche im Rahmen von Peer-Education in die Arbeit mit unteren Jahrgängen eingebunden werden. Die Grundannahme ist, dass viele der Ansichten, Einstellungen und Handlungen der Jugendlichen nicht primär religiös bestimmt, sondern durch soziales Umfeld und Medien geprägt werden. Folglich werden diese Bereiche in die Arbeit einbezogen, um nicht einer weiteren Festschreibung von Gruppenidentitäten und Segregation Vorschub zu leisten. Konkret findet die Umsetzung in Form von Projekttagen und Workshops statt, die mit den Schulen terminlich abgestimmt werden. Vorgesehen sind pro Klasse und Schuljahr drei bis fünf Projekttage. Darüber hinaus wirken die PädagogInnen der WERTE-WERKSTATT bei Aktivitäten der Schulsozialarbeit und Aktionen des Schullebens mit, um die für die pädagogische Arbeit notwendige Beziehung zu den Jugendlichen zu festigen und um den Bekanntheitsgrad bei SchülerInnen zu erhöhen. Schrittweise werden die Lehrkräfte und die SozialpädagogInnen der Schulsozialarbeit in die Umsetzung der Maßnahmen einbezogen, um die Methoden im schulischen Alltag über die Projektlaufzeit hinaus zu verankern. Geplant sind weiterhin Informationsveranstaltungen zu den im Projekt erarbeiteten Methoden für interessierte PädagogInnen aus den kooperierenden Schulen und Jugendfreizeiteinrichtungen. Weiterhin werden zusätzliche Kräfte in die Durchführung der Projekttage eingebunden. Der vorgegebene schulische 84 uj 2 | 2017 Das Projekt WERTE-WERKSTATT Jahresablauf macht es notwendig, oft mit mehreren Klassen gleichzeitig zu arbeiten, sodass eine Voraussetzung von Kleingruppenarbeit der zeitgleiche Einsatz mehrerer WorkshopleiterInnen ist - diese Aufgabe kann gut von hierfür geschulten jungen Menschen, z. B. Studierenden, übernommen werden, die somit gleichzeitig Multiplikatoren sind und die erarbeiteten Projektinhalte im Sinne von Nachhaltigkeit in andere Zusammenhänge weitertragen können. Die eingesetzten Formate bauen von der 7. bis zur 10. Klasse aufeinander auf: ➤ Spielerisch orientierte Projekttage zu den Themen „Werte“, „Religion“, „Menschenrechte“ und „Propaganda“ für die Jahrgänge 7 und 8. Hier kommen vielfältige Methoden der politischen Jugendbildung zum Einsatz, die situations- und zielgruppenadäquat angepasst und weiterentwickelt werden. ➤ Dialogworkshops mit Schülerinnen und Schülern des 9. Jahrgangs und Erwachsenen aus dem sozialräumlichen Kontext. ➤ Bildung von Peer-Gruppen von SchülerInnen des 10. Jahrgangs, welche als Ansprechpartner und Vorbilder für die jüngeren Schülerinnen und Schüler zur Verfügung stehen sollen. Die Aktivitäten der WERTE-WERKSTATT werden unter Mitarbeit der Jugendlichen filmisch dokumentiert. Eine Vernetzung der Schulen mit Einrichtungen und Institutionen im Umfeld ist vorgesehen. Informations- und Fortbildungsveranstaltungen für interessierte Pädagoginnen und Pädagogen zu den Themen der Workshops sowie zu Islam und Islamismus begleiten die Projektaktivitäten. Pädagogischer Ansatz Folgende Empowermentstrategien stehen bei der Workshop-Arbeit im Fokus: 1. Anerkennung der Jugendlichen und ihrer Realität sowie Stärkung des Vertrauens und des Gruppenzugehörigkeitsgefühls. Nur wenn die Jugendlichen sich gegenseitig vertrauen und wenn sie erleben, dass ihre Lebensrealitäten anerkannt werden, können sie sich auf die folgenden Prozesse einlassen. 2. Das in der Gruppe vorhandene Wissen zu Religionen und damit verbundenen Themen gilt es zu nutzen und zu erweitern. 3. Anregungen zum Perspektivwechsel. Ein wesentliches Element der pädagogischen Arbeit ist die Förderung der Ambiguitätstoleranz der Jugendlichen. Dies meint die Abb. 1: Erlebnispädagogische Übung (eigene Quelle) 85 uj 2 | 2017 Das Projekt WERTE-WERKSTATT Fähigkeit, Widersprüche und Ungewissheiten zu ertragen sowie Unterschiede, die schwer verständlich oder sogar inakzeptabel erscheinen, wahrzunehmen, ohne darauf aggressiv zu reagieren oder sie einseitig vorbehaltlos negativ oder positiv zu bewerten. Ein erster Schritt dahin ist es zu lernen, sich in andere und ihre Sichtweisen hineinzuversetzen, den Perspektivwechsel zu vollziehen. Um das zu erreichen, setzt das Projekt Methoden ein, die auf die Entdeckung der eigenen Vorstellungen und Haltungen angelegt sind, denn um die Sichtweisen der anderen zu erkennen, müssen zuerst die eigenen bewusst sein. Hierbei ist es wichtig, dass die unterschiedlichen individuellen Ansichten zunächst gleichberechtigt nebeneinanderstehen können. Aufgabe ist nicht, die anderen zu überzeugen, sondern die eigene Sichtweise zu erklären, zuzuhören und im Gegenzug die Sichtweise der anderen zu verstehen und zur Kenntnis zu nehmen, dass es sie gibt. Die Haltung der PädagogInnen in diesem Prozess ist an den Menschenrechten und demokratischen Werten orientiert, menschenfeindliche oder demokratiefeindliche Positionen bleiben nicht unkommentiert und unhinterfragt im Raum stehen. Im Fokus liegt allerdings das Herausarbeiten vorhandener Widersprüche, welche sich in den Statements Einzelner finden. Im Vordergrund steht nicht die Diskussion, wer welcher Wahrheit am nächsten kommt, sondern der Dialog als Gesprächsform, die es ermöglicht, eine Vielzahl von Sichtweisen und Anschauungen nebeneinander zu stellen, ohne dass Einzelne gezwungen wären, andere „anzugreifen“ oder sich selber zu verteidigen. Ideal ist, wenn andere SchülerInnen neugierig werden auf die Sichtweisen ihrer MitschülerInnen, weil sie nicht mehr die Aufgabe haben, sie zu widerlegen. Im Gegensatz zu einer in Schule oder auch Familiensystem häufig praktizierten normativen Belehrung macht diese bewusst eingenommene dialogische Gesprächsform eher das Hinterfragen von Ansichten möglich. Ziel ist, bei den Jugendlichen einen Prozess einzuleiten, in dem Meinungen erst infrage gestellt, dann aber ggf. auch geändert werden können. Dabei geht es nicht darum, den Jugendlichen ihre Orientierung in einer oftmals von ihnen als unübersichtlich erlebten Lebenssituation zu nehmen, sondern eine Hilfestellung zu geben, die es ihnen erlaubt, eigene Positionen zu überdenken beziehungsweise jenseits der Vorgaben anderer zu entwickeln. Dieser Ansatz des Perspektivwechsels ist bewusst gewählt, weil hierdurch die Chance besteht, sowohl Jugendlichen in ihren „normalen“ Pubertätsunsicherheiten gerecht zu werden wie aber auch im Sinne von Prävention Haltungen bzw. gegebene Tendenzen zu radikalen Ansichten zu hinterfragen. Bisherige Aktivitäten und eingesetzte Methoden Im Schuljahr 2015/ 2016 wurden in den 7. Jahrgängen der beiden Schulen je drei Projekttage pro Klasse mit insgesamt ca. 200 Schülern durchgeführt. Inhalte waren: ➤ Identität: Wer bin ich? Wo kommen meine Familie und ich her? ➤ Religionen: Was wissen wir darüber? ➤ Werte: Was ist mir wichtig? Und warum? Neben erlebnispädagogischen Spielen zur Teambildung und Auflockerung wurden im Wesentlichen drei verschiedene methodische Ansätze verwendet: 1. Spielerischer Wettkampf, z. B. in Form eines an ‚Jeopardy‘ angelehnten Quiz zu verschiedenen Religionen sowie Staat und Gesellschaft. Mit dieser Methode mit hohem Spaßfaktor soll das Wissen von Jugendlichen genutzt und 86 uj 2 | 2017 Das Projekt WERTE-WERKSTATT gleichzeitig vertieft werden. Die ProjektteilnehmerInnen können sich innerhalb der Gruppen über ihr Wissen austauschen. Überraschenderweise bringen sich in dieses Spiel auch sonst wenig lernmotivierte Jugendliche sehr aktiv ein. 2. Kontroverse Kleingruppenübungen in drei Stationen im kurzen Wechsel hintereinander, um der Zapping-Mentalität der SchülerInnen entgegenzukommen. Zu Themen wie Gleichberechtigung, Geschlechterrollen, Glaube, Werte wird mit immer wieder neuen, provozierenden Impulsen durch verschiedene Mittel (Videoclips, Fotoserien, Aussagen) gearbeitet. Station I: Ausgewählte Fotos werden nach „OK! “ bzw. „Nicht OK“ sortiert. Dargestellt sind Menschen in unterschiedlichen Lebenssituationen, mit verschiedenen Kleidungsstilen, religiösen Orientierungen, Partnerschaftsformen etc. Die jeweilige individuelle Auswahl soll begründet werden. Es gilt die Regel, den eigenen Standpunkt darzustellen und Statements anderer nicht zu diskutieren. Station II: Ein Filmausschnitt zeigt einen männlichen, vermutlich muslimischen Jugendlichen, der die Ungleichbehandlung von Mädchen und Jungen rechtfertigt. Seine Aussage endet mit den Worten: „Es ist halt anders bei uns“. Anschließend werden die Meinungen der Jugendlichen abgefragt: „Ist das so? “, „Findet ihr das gut/ gerecht? “. Die im Film aufgegriffene Thematik ist den Jugendlichen sehr präsent und die Meinungen dazu sind nicht selten umstritten. Gezieltes Nachfragen der PädagogInnen (z. Abb. 2: Ausgewählte Fotos sortieren nach „OK! “ bzw. „Nicht OK“ - Station I (eigene Quelle) B. an einen Jungen „Und wie würdest du das finden, wenn du ein Mädchen wärst? “) hilft den Einzelnen, sich die Problematik des Statements bewusst zu machen. Station III: Die Jugendlichen positionieren sich im Raum zu verschiedenen auf Schildern ausgehängten Statements: „Stimmt! “ oder „Stimmt nicht! “. Auch hier gilt, dass die eigene Position begründet werden soll, aber keine direkte Gegenrede zu anderen Positionen erlaubt ist. Der Einsatz von Stationsarbeit bietet den Vorteil, verschiedene Anlässe zum Nachdenken zu bieten und nicht auf ein einzelnes Moment vertrauen zu müssen. Auch passt die maximale Dauer von 25 Minuten pro Station gut zur Aufmerksamkeitsspanne der Jugendlichen. Abb. 2: Ausgewählte Fotos sortieren nach „OK! “ bzw. „Nicht OK“ - Station I (eigene Quelle) 87 uj 2 | 2017 Das Projekt WERTE-WERKSTATT Die Aufgabe der PädagogInnen während der Kleingruppenübungen ist nicht, einzelne SchülerInnen in ihren Widersprüchen vorzuführen, sondern bereits gefestigte Meinungen durch behutsame Irritation aufzulösen, um einerseits Klischees und Vorurteilen entgegenzuwirken, andererseits aber die i. d. R. vorhandene pubertäre Unsicherheit der Jugendlichen nicht zu verstärken. Highlights waren Situationen, in denen sich einzelne SchülerInnen mit entgegengesetzten Haltungen anderer konfrontiert sahen. Zitat eines Jungen: „Du trägst doch Kopftuch, wie kannst du Homosexualität ok finden? “, Antwort des Mädchens: „Na und? Kann doch jeder sein wie er will! “. Widersprüche in den Haltungen von SchülerInnen muslimischer Herkunft zeigen sich insbesondere bei Geschlechterfragen und Rollenzuweisungen. So kann der vehemente Einsatz für Gleichberechtigung mit der als selbstverständlich hingenommenen Meinung einhergehen, Jungen sollte mehr erlaubt sein als Mädchen. Bei SchülerInnen anderer religiöser oder kultureller Herkunft war ein solcher inhaltlicher Schwerpunkt seltener auszumachen. Im Dialog der PädagogInnen mit dem Einzelnen bzw. der Gruppe, die Jugendlichen selbst diese Widersprüche erkennen zu lassen, stellt dies den entscheidenden Schritt dar, um sie zum Perspektivwechsel zu animieren und problematische Ansichten zu hinterfragen. 3. Medienproduktion: Am Ende der Projekttage steht die Erstellung eines Medienprodukts zum Thema „Was ist mir wichtig? “ in unterschiedlichsten Formaten wie Videoclip, Fotostory, Theaterszene, Zeitungsseite etc. im Fokus. Auch werden die im Rahmen der Projekttage durchgeführten Aktivitäten fortlaufend unter der Führung einer kleinen Gruppe von Jugendlichen dokumentiert. Ein beträchtlicher Teil davon sind in der Regel Interviews der Beteiligten untereinander. Diese sollen den Prozess der Meinungs- und Argumentationsbildung dokumentieren. Die erstellten audiovisuellen Podcasts werden zu didaktischen Zwecken in weiteren Klassen genutzt. Abb. 3: Übung „Was ist mir wichtig? “ (eigene Quelle) 88 uj 2 | 2017 Das Projekt WERTE-WERKSTATT Erfahrungen aus der Umsetzung der Projekttage in den 7. Klassen im Schuljahr 2015 - 2016 Entsprechend der Zielgruppe des Projektes und der Zusammensetzung der Schülerschaft an den beiden beteiligten Sekundarschulen waren ca. 90 % der teilnehmenden Jugendlichen nichtdeutscher Herkunft und stammten überwiegend aus einem muslimischen Kulturkreis. Diese Tatsache und der Fakt, dass diese Jugendlichen innerhalb einer „anderen“, in diesem Fall der deutschen Gesellschaft, vor einer besonderen Herausforderung für ihre Identitätsbildung stehen, bildet den Hintergrund für die Verknüpfung der Themenstellungen Identität - Religion - Werte, die in die methodische und inhaltliche Gestaltung der Workshops eingeflossen ist. Während der im Rahmen des Projekts durchgeführten Aktivitäten zeigte sich, dass die meisten der betreffenden Jugendlichen sehr an der Thematik interessiert sind und auch, dass viele sich nachdrücklich mit dem Islam identifizieren - eine Tendenz, die ebenfalls bei einzelnen Jugendlichen deutscher Herkunft beobachtet werden kann. Bei einigen war dies einhergehend mit einer diffusen Abwertung von Menschen anderer Religion oder von Lebensweisen, welche nicht dem Bild einer konservativen Familienkonstellation entsprechen. Gleichzeitig verfügten die meisten der Jugendlichen nur über ein rudimentäres Wissen zu den Themen, haben sie sich mit den Fragestellungen doch bisher kaum auseinandergesetzt. Zum Vorschein kam bei Einzelnen eine ausgeprägte Ambivalenz der Werthaltungen. Offenheit und die Vorstellungen der prinzipiellen Gleichberechtigung verschiedenster Lebensformen traten häufig in Kontrast zu ausgrenzenden, den eigenen Standpunkt überhöhenden Statements. Des Öfteren kam deutlich zum Ausdruck, dass Jugendliche, unabhängig von Herkunft oder Religionszugehörigkeit, in einem Dilemma stecken zwischen dem Wunsch nach Veränderung von kulturellen Gegebenheiten oder auch gesellschaftlichen Verhältnissen, wie z. B. der Ungleichbehandlung der Geschlechter oder der Ungerechtigkeit der Welt, und dem Unvermögen, selbst dafür einzutreten, sei es aus fehlender Bereitschaft, sei es aus der Einschätzung, sowieso chancenlos zu sein. So sagte z. B. eine Schülerin: „Mädchen müssten mehr Rechte haben, so wie Jungs! “ Das gleiche Mädchen reagiert auf die Frage, ob sie eine Tochter anders erziehen würde als einen Sohn: „Ja, klar, Mädchen sind Mädchen, Jungs sind Jungs. Mädchen dürfen halt nicht so viel wie Jungs.“ Auswertungsgespräche mit den Jugendlichen zeigten, dass es fast durchweg gelungen ist, „ins Gespräch“ zu kommen. Die Jugendlichen schätzten es, Anerkennung für sich und ihre Realitäten bekommen zu haben, ihre Sicht der Dinge wurde gehört, ohne dass ihnen vorgeschrieben wurde, wie sie zu denken hätten. Das Projektteam WERTE-WERKSTATT fühlt sich dadurch in der gewählten dialogischen Herangehensweise bestätigt und wertet das Feedback der Jugendlichen als ein vertrauensbildendes Element und einen wichtigen Schritt in Hinblick auf Radikalisierungsprävention. Im Ergebnis kann festgehalten werden, dass bei etwa 1/ 3 der Jugendlichen die eingenommenen Haltungen zu den thematisierten Fragestellungen in sich widersprüchlich sind, was der Lebensphase der Identitätsfindung junger Menschen entspricht. Doch ließ sich bei den meisten SchülerInnen die Bereitschaft beobachten, diese Positionen zu hinterfragen, was am ehesten gegeben war, wenn sie von FreundInnen oder MitschülerInnen mit ihren in sich widersprüchlichen Aussagen konfrontiert wurden. So zum Beispiel während der Auswertung des Filmausschnitts (Station II), in der die Jugendlichen miteinander über die Ungleichbehandlung von Mädchen und Jungen diskutierten. Nachfragen von MitschülerInnen machten mehrere Jugendliche mit scheinbar sehr gefestigten, konservativen Wertbildern denn doch nachdenklich und führten bei ihnen zu Irritationen. Zu hören waren Meinungen wie: „Was macht ihr mit mir? “, „Habe ich so noch nicht drüber nachgedacht“. Diese Erfahrungen und das Feedback der Jugendlichen bestätigten das Projektteam in dem Vorgehen, die Workshops aber 89 uj 2 | 2017 Das Projekt WERTE-WERKSTATT auch den gesamten Projektverlauf verstärkt entlang des „Peer-to-Peer“ Ansatzes zu konzipieren. Nach anfänglichem Zögern waren die Jugendlichen gerne bereit, ihre Sicht der Dinge, ihre erarbeiteten Wertvorstellungen, in Medienformaten darzustellen, welche als Material zur Nutzung in anderen Klassen zur Verfügung gestellt werden. Bemerkenswert ist, dass auch Jugendliche aus konservativen Familien ihr Einverständnis gaben - auch wenn sie zwischenzeitlich Bedenken wegen eventueller Konsequenzen hatten, weil die von ihnen vertretenen Vorstellungen nicht so recht der ihnen vorgegebenen Familientradition entsprechen. Ausgehend von dem Feedback der Jugendlichen in ihrer Gesamtheit kann der Schluss gezogen werden, dass durch diese im 7. Jahrgang angewandte Methodik ein erster Baustein in einem Prozess der Meinungsbildung, aber auch der „Irritation“ gesetzt werden konnte. Inhaltlich im Fokus stand bei den Jugendlichen das Thema Rollenbilder/ Gleichheit bzw. Ungleichheit der Geschlechter. Dies ist geprägt durch die Tatsache, dass einerseits die Mehrheit der teilnehmenden Jugendlichen dem muslimischen Kulturkreis angehören bzw. ihm nahestehen und dort häufig eine Ungleichbehandlung von Mädchen und Jungen erleben bzw. andererseits Jugendliche aus anderen Herkunftskulturkreisen diese Ungleichbehandlung bei den anderen wahrnehmen, sie häufig kritisieren, aber innerhalb ihres Freundeskreises als Realität akzeptieren und sich danach richten müssen. Die Workshopumsetzung für den 8. Jahrgang, durchgeführt im Schuljahr 2016/ 2017, wird die methodischen Erfahrungen und v. a. den „Peerto-Peer“-Gedanken aus dem letzten Schuljahr aufgreifen. Inhaltlich werden im Fokus stehen: ➤ Was ist das Verhältnis von Menschenrechten und religiösen Normen? ➤ Wann und für wen gelten welche Regeln? ➤ Was ist Propaganda, wie funktioniert sie, was macht sie mit uns? Yasmina aus dem obigen Fallbeispiel hat sich am Ende entscheiden können. Ihr persönliches Ranking war: 1. Meine Familie, „die ist immer für mich da, Familie ist absolut das Wichtigste! “. 2. Die Religion, „Ey, ohne Religion geht es gar nicht, jeder muss doch an etwas glauben! “. 3. Gute Freunde, „Stell dir mal vor, du hast keine guten Freunde! Du musst doch jemanden haben, dem du vertrauen kannst! “. Handy und Instagram fielen bei ihr hinten runter, im Gegensatz zu anderen SchülerInnen, bei denen die modernen Kommunikationsmittel ganz klar Priorität hatten. Das Projekt WERTE-WERKSTATT wird durchgeführt in Trägerschaft des Jugendhilfeträgers casablanca gGmbH und gefördert vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend im Rahmen des Bundesprogramms „Demokratie leben! “. Andreas Funke Dr. Anna Pukajlo casablanca gGmbH Pistoriusstr. 108 a 13086 Berlin Tel: (0 30) 2 70 04 07-15 E-Mail: afunke@g-casablanca.de E-Mail: apukajlo@g-casablanca.de