eJournals unsere jugend 69/3

unsere jugend
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0342-5258
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
31
2017
693

„Ich vertrau’ ihr ... aber normalerweise selten, dass ich wem viele Geheimnisse anvertraue“

31
2017
Silke Birgitta Gahleitner
Christina Frank
Katharina Gerlich
Heidemarie Hinterwallner
Martha Schneider
Traumapädagogische Konzepte haben in den letzten Jahren stark an Verbreitung gewonnen. Aber wie wirken sie wirklich? Ein Forschungsprojekt aus Österreich ist dem nachgegangen. In einer Mixed-method-Studie wurde nach „Best-practice-Beispielen“ gesucht. Der Artikel reflektiert die zentralen Ergebnisse der Studie auf ihre traumapädagogische Relevanz.
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98 unsere jugend, 69. Jg., S. 98 - 106 (2017) DOI 10.2378/ uj2017.art16d © Ernst Reinhardt Verlag München Basel „Ich vertrau’ ihr… aber normalerweise selten, dass ich wem viele Geheimnisse anvertraue“ Traumapädagogische Arbeit in der stationären Jugendhilfe Traumapädagogische Konzepte haben in den letzten Jahren stark an Verbreitung gewonnen. Aber wie wirken sie wirklich? Ein Forschungsprojekt aus Österreich ist dem nachgegangen. In einer Mixed-method-Studie wurde nach „Best-practice-Beispielen“ gesucht. Der Artikel reflektiert die zentralen Ergebnisse der Studie auf ihre traumapädagogische Relevanz. von Silke Birgitta Gahleitner Jg. 1966; Prof. Dr. phil. habil., Diplom-Sozialarbeiterin/ Sozialpädagogin, Professorin an der Alice Salomon Hochschule Berlin - Arbeitsbereich Psychosoziale Diagnostik und Intervention Christina Frank Jg. 1985; Mag. Soziologie, Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Donau-Universität Krems - Department für Psychotherapie und Biopsychosoziale Gesundheit Katharina Gerlich Jg. 1971; Dr. phil., Soziologin, Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Donau-Universität Krems - Department für Psychotherapie und Biopsychosoziale Gesundheit Heidemarie Hinterwallner Jg. 1986; Soziologin, MA, Sozialarbeiterin, MA, Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Donau-Universität Krems - Department für Psychotherapie und Biopsychosoziale Gesundheit Martha Schneider Jg. 1987; Mag. Psychologie, Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Donau-Universität Krems - Department für Psychotherapie und Biopsychosoziale Gesundheit Hermann Radler Jg. 1967; Geschäftsführer der Therapeutischen Gemeinschaften Österreich, Präsident FICE International, Psychotherapeut 99 uj 3 | 2017 Traumapädagogische Arbeit in der stationären Jugendhilfe Einleitung Im Jahr 2014 waren in Österreich 10.810 Kinder und Jugendliche stationär untergebracht. 60 % leiden Studien zufolge an jugendpsychiatrischen Erkrankungen. Ca. 80 % haben traumatische Erfahrungen, 60 % sind sequenziell traumatisiert (Schmid 2007). Nach dem neuen Kinder- und Jugendhilfegesetz in Österreich haben sich zudem alle dortigen Leistungen wissenschaftlich zu legitimieren (§ 17 Abs. 1 und § 51 Abs. 2). Untersuchungen zu diesem Jugendhilfesektor sind auch tatsächlich in den letzten Jahren im deutschsprachigen Raum angewachsen. Untersucht wurden bisher vor allem gesundheitliche Aspekte (Hölling u. a. 2014), aber auch wirkungsorientierte Studien sind entstanden (Macsenaere/ Esser 2012). Zeigen lässt sich dabei: In den deutschsprachigen Ländern ist der Bedarf an Hilfen angewachsen, die Aufgaben sind „schwieriger“ geworden (Pauls 2012). Kinder- und Jugendliche mit schweren Problemlagen - Stichwort „neue Morbidität“ (Haggerty u. a. 1975; Thyen/ Scriba 2007) - stellen große Herausforderungen an Fachkräfte. Seit einigen Jahren haben traumapädagogische Konzepte an Verbreitung gewonnen, mit denen Fachkräfte bei ihrer anspruchsvollen Aufgabe unterstützt werden sollen. Ein Forschungsprojekt der Therapeutischen Gemeinschaften Österreich und der Donau-Universität Krems nahm von 2013 - 2016 die Wirkung dieses bindungs- und traumasensiblen Vorgehens unter die Lupe (Gahleitner et al. i. V.; alle Ergebnisse und Zitate sind aus dem dortigen Bericht entnommen). Im Folgenden werden die zentralen Ergebnisse der Studie vorgestellt und auf ihre traumapädagogische Relevanz hin befragt. Die untersuchte Einrichtung: konzeptionelle Besonderheiten Die Therapeutischen Gemeinschaften widmen sich seit 1999 der beziehungsabbruchsfreien Erziehung von Kindern und Jugendlichen in familienähnlichen Strukturen. Aufgenommen werden Kinder, die starkeVerhaltensauffälligkeiten aufweisen und woanders keine Aufnahme mehr finden. Das Angebot der Therapeutischen Gemeinschaften umfasst stationäre sozialtherapeutische Lebensgemeinschaften und Betreutes Wohnen sowie Beschulung und Elternberatung. Ziel ist, mit den KlientInnen gemeinsam die Grundlage für eine eigenständige Lebensführung zu schaffen. Im Zentrum der lebenswelt- und alltagsorientierten Arbeit steht das Beziehungsgeschehen. Gruppenprozesse werden von den Fachkräften bewusst in die Behandlung einbezogen. Neben der traumapädagogischen und -therapeutischen Betreuung im Haus wird nach Möglichkeit auch der Besuch einer externen Psychotherapie ermöglicht. Alle MitarbeiterInnen haben ein umfangreiches Schulungskonzept durchlaufen. Ziel ist ein bindungs- und traumasensibles pädagogisch-therapeutisches Milieu. Grundlage der Arbeit ist eine verstehende Grundhaltung, die partizipativ nach den Quellen ihrer Problematiken sucht und diese dialogisch im Alltag als auch in der Therapie bearbeitet. Als Qualitätsmerkmal erweist sich ein eng geknüpftes Netz aus bisherigen und neuen Beziehungen, welches durch eine angemessene Sozialisationsstruktur und fundiertes Fachwissen über die jeweiligen Problematiken hindurch gewebt wird (AK-TWG 2009). Stück für Stück können in diesen Räumen „korrektive Erfahrungen“ gemacht und neue Fähigkeiten und Fertigkeiten wie Körperwahrnehmung, Selbstwirksamkeitserwartungen, soziale Kompetenz sowie Emotions- und Sinneswahrnehmungsbzw. -regulationsfähigkeiten (Gahleitner 2011; Kühn 2009, 31) ermöglicht werden. Methodisches Vorgehen Das methodische Vorgehen orientiert sich an den Kriterien einer adressatInnenorientierten Mixed-method-Studie. Neben dem Erkenntnis- 100 uj 3 | 2017 Traumapädagogische Arbeit in der stationären Jugendhilfe gewinn der quantitativen Forschung mit ihrem Fokus auf verallgemeinerbare Ergebnisse und ihren Fähigkeiten der Reduktion ermöglicht die qualitative, rekonstruktive Sozialforschung den Zugang zu subjektiven Deutungen, also der „anderen“ komplexen Seite zwischen Theorie- und Fall-Orientierung. Hier interessieren insbesondere das subjektive Erleben und reaktive Verhalten der Kinder und Jugendlichen in bestimmten Lebensumfeldern, um die Interdependenz somatischer, psychischer und sozialer Faktoren triangulativ (Flick 2004) aufzuspüren und theoriebildend herauszuarbeiten. Entlang der Fragestellungen, wie Jugendliche, deren Eltern und BetreuerInnen den Prozess der stationären Kinder- und Jugendhilfemaßnahmen wahrnehmen und beurteilen, wurde eine explorative Annäherung an Wirkungsforschung angestrebt. Für das qualitative Vorgehen wurden problemzentrierte Interviews (Witzel 2000) ausgewählt. Der Schwerpunkt in den Interviews lag darin, die Jugendlichen ihre Biografien erzählen zu lassen. Dafür wurden in Einzelinterviews und Gruppendiskussionen 20 ForschungsteilnehmerInnen befragt. Neben den Jugendlichen selbst wurden dabei auch die BetreuerInnen der Jugendlichen, Leitungskräfte und die Eltern der Jugendlichen einbezogen. Zur Auswertung aller Interviews wurde eine qualitative Inhaltsanalyse nach Mayring mit einem fallkontextualisierenden Zwischenschritt angewendet, um in einem induktiv-deduktiven Wechselspiel den biografischen Aspekten und der explorativen Vorgehensweise Raum zu öffnen (vgl. dazu Mayring/ Gahleitner 2010). Als zentrale Frage des quantitativen Studienparts galt es herauszufinden, ob der pädagogische Alltag in den Einrichtungen der Therapeutischen Gemeinschaften ein wirkungsvoller Ort für den sicheren Umgang mit traumatisierten Kindern und Jugendlichen sein kann. Einerseits wurden dafür bereits aktiv genutzte Diagnoseinstrumente der Therapeutischen Gemeinschaften verwendet (u. a. der Traumapädagogische Symptom- und Resilienzfragebogen TPSR), andererseits auch übergreifende Messinstrumente wie die Child Behavior Checklist (CBCL). Eine Darstellung der einzelnen Messinstrumente kann im Forschungsbericht (Gahleitner u. a. 2016) eingesehen werden. Zusätzlich wurde ein wirkungsorientierter Fragebogen zum Fallverlauf von Kindern und Jugendlichen in stationären Einrichtungen genutzt, der sich bereits in vorangegangenen Untersuchungen bewährt hatte (vgl. z. B. AK-TWG 2009). Diskussion der Ergebnisse im Licht aktueller Jugendhilfeforschung Übergreifende Wirkungsaspekte Übergreifend lässt sich in der vorliegenden Untersuchung ähnlich wie in einigen anderen vorangegangenen Studien in Therapeutischen Wohngemeinschaften zeigen, dass die BewohnerInnen der Therapeutischen Gemeinschaften viele vorherige Institutionsabbrüche und schwere biografische Problemlagen aufweisen (AK-TWG 2009; Schmid 2007). Ein großer Anteil der aufgenommenen Kinder und Jugendlichen ist bereits mit psychiatrischen Institutionen in Kontakt gekommen. Es handelt sich also in der Regel um bereits chronifizierte Leidenszustände (vgl. Abb. 1). Traumatische Aspekte nehmen dabei eine Spitzenstellung ein (Gahleitner 2011). So zählen zu den häufigsten Gründen für eine Aufnahme: ➤ Inkonsequentes Erziehungsverhalten ➤ Dissoziale Störung ➤ Gestörte familiale Interaktion ➤ Internalisierende Störungen ➤ Schulische Probleme ➤ Selbstgefährdung ➤ Körperliche Misshandlungen ➤ Ausfall Elternteil ➤ Vernachlässigung ➤ Opfer einer Gewalttat ➤ Weglaufen (Trebegang) 101 uj 3 | 2017 Traumapädagogische Arbeit in der stationären Jugendhilfe Die Einrichtung tritt an diese Kinder und Jugendlichen mit einem vergleichsweise umfassenden Angebot an Hilfen heran. Tagesstrukturierende sowie erlebnispädagogische und therapeutische Angebote wie regelmäßige Beratungsgespräche mit Kindern und Eltern gehören zum Standard. Dass die Angebote von den BewohnerInnen angenommen werden, zeigt das Ergebnis zur Compliance (vgl. Abb. 2). Hier sticht vor allem die positive Beziehung zum Personal hervor, also eine hohe soziale Anbindung, die die Nutzung der konkreten therapeutischen Angebote noch deutlich übersteigt. Nachvollziehbarerweise befindet sich daher auch der Erfolgswert auf einem guten Wirkungsniveau (vgl. Abb. 3; z. B. Macsenaere/ Esser 2012) - und dies bei einer Aufnahme äußerst schwer belasteter Kinder und Jugendlicher. 100 90 80 70 60 50 40 30 20 10 0 12,90 % 35,48 % 74,19 % 9,68 % 54,84 % 77,42 % 12,90 % 61,29 % 67,74 % JH teilstationär JH ambulant JH stationär Psychiat. Psychiat. ambulant Psychiat. stationär Andere Maßnahmen Psychotherapie Medikation N = 30 Abb. 1: Jugendhilfemaßnahmen, psychiatrische Maßnahmen und andere in der Vorgeschichte (Mehrfachantworten möglich, Darstellung in Fallprozent) Positive Beziehung zu Personal 93,33 %; n = 28 Kooperatives Verhalten 83,33 %; n = 25 Terminvereinbarung 76,67 %; n = 23 Einlassen, Offenheit, Bereitschaft 73,33 %; n = 22 Akzeptanz der Ziele 63,33 %; n = 19 Regeleinhaltung 63,33 %; n = 19 Interesse an Therapie-Maßnahmen 33,33 %; n = 10 0 10 20 30 40 50 60 70 80 90 100 Abb. 2: Kooperation/ Compliance mit den gesetzten Maßnahmen (Mehrfachnennungen möglich) 102 uj 3 | 2017 Traumapädagogische Arbeit in der stationären Jugendhilfe Sehr erfolgreiche Problemreduktion bei n = 9 (mehr als 50 % erfolgreiche Bearbeitung), erfolgreiche bei n = 11 (zwischen 10,00 % und 50,00 % erfolgreiche Bearbeitung der eingangs beobachteten Probleme), keine Problemreduktion bei n = 10 (N = 30). In den qualitativen Interviews berichten die Jugendlichen, dass von BetreuerInnenseite versucht wird, das verhaltensauffällige Handeln im Alltagsgeschehen dialogisch vor dem jeweiligen biografischen Hintergrund zu verstehen. Das Angebot von Beziehung, durch die hindurch Entwicklung geschehen kann, sowie ein schützender und stützender struktureller Rahmen, der angemessen einbettet und eine situative Unterstützung und Begleitung beim Finden von Ressourcen und Veränderungspotenzialen in Bezug auf das auffällige Verhalten bietet, ermöglichen den Jugendlichen ihren eigenen Aussagen zufolge große Entwicklungschancen. Im Folgenden werden diese durch die Interviews erhobenen Aspekte beispielhaft unter Einbezug von Interviewsequenzen ausgeführt und im Licht aktueller Literatur eingebettet. Alltagsorientierung Die befragten Jugendlichen weisen in der vorliegenden Untersuchung den Fachkräften im Alltag die größte Veränderungsrelevanz für ihre positiven Verläufe zu. „Also, früher war das eher, dass ich ausgeflippt bin, also, da war‘s dann ärger als jetzt… Ja, die Betreuer. Hier drinnen. Generell. Generell haben sie mir geholfen. Ich find‘s auch gut, dass mir die Betreuer bei so was helfen. Allein würde ich das nicht schaffen.“ „Es ist die schönste soziale Einrichtung, in der ich je war, …ich kann mir nichts anderes mehr vorstellen, ich kenne mich da aus, ich habe da meine Freunde“ (vgl. dazu bisherige Ergebnisse des AK-TWG 2009). Insofern zeigen die Interviewaussagen der vorliegenden Untersuchung erneut, dass ein „therapeutisches Milieu“ „ausdrücklich nicht eine Therapeutisierung des Alltags“ (Gahleitner 2011, 9) bedeutet. Der Begriffspräzisierung „pädagogisch-therapeutisches Milieu“, die sich in traumapädagogischen Diskussionen in den letzten Jahren herausentwickelt hat (Gahleitner 2016) ist entlang dieser Ergebnisse zuzustimmen. Das Hauptinteresse gilt auch in dieser Einrichtung einem von BetreuerInnen und Kindern bzw. Jugendlichen gemeinsam durchlebten sowie reflektierten Alltag (Krumenacker 2001). Trauma- und Fachkompetenz Dazu benötigt es jedoch eine „ausgesprochene“ Fachkompetenz bei den jeweils diensthabenden BetreuerInnen: „Zu wissen, wo kommt‘s her, es ist nicht persönlich gemeint, du brauchst die Geschichte der Klienten, was steckt dahinter. Das…muss sein, das Fachwissen der Betreuer“, beschreibt dies eine Betreuerin. Die Ergebnisse der vorliegenden Untersuchung unterstützen folglich auch ausdrücklich Böhnischs (2004/ 2008) vier Dimensionen eines fachlich anspruchsvollen „pädagogischen Milieus“: Keine bzw. minimale Problemreduktion (< 10 %) Problemreduktion zwischen 10 - 50 % Reduktion mehr als 50 % 30,00 % 33,33 % 36,67 % Abb. 3: Zusammenfassung der Erfolgswerte in drei Gruppen 103 uj 3 | 2017 Traumapädagogische Arbeit in der stationären Jugendhilfe die personal-verstehende Dimension, in der Alternativerfahrungen gemacht werden: „Ich vertraue ihr“ (Alexander); die aktivierende Dimension auf der Suche nach neuen Ressourcen und die pädagogisch-interaktive Dimension mit dem charakteristisch förderlichen sozialen Milieu: „Ich find’s auch gut, dass mir die Betreuer bei so was helfen. Allein würd’ ich das nicht schaffen“ (Benedikt) sowie eine infrastrukturell orientierte Dimension, die den Strukturrahmen dafür bietet: „Und da wäre ich fast rausgeschmissen worden, aber doch, sie haben mich behalten, weil, sonst hätte ich es vielleicht gar nicht geschafft“ (Franz). Diese Überlegungen von Böhnisch (2004/ 2008) weisen eine große Nähe zu aktuellen traumapädagogischen Konzeptionen auf (Weiß et al. 2016). Bindungs- und Beziehungssensibilität Bereits in den Ausführungen zum „pädagogischtherapeutischen Milieu“ wird deutlich, wie zentral die personal-verstehende, bindungs- und traumasensible Beziehungs- und Vertrauensgestaltung für die Kinder und Jugendlichen in der Einrichtung ist: „Ich vertrau’ ihr, ich vertrau’ auch der anderen Betreuerin - aber den anderen hier vertraue ich auch, aber normalerweise selten, dass ich wem viele Geheimnisse anvertraue“, sagt ein Bewohner erstaunt im Interview. Über die Bedeutung von Vertrauen und wie man es herstellt, wird in stationären Settings viel zu wenig reflektiert (Gahleitner 2017). Kernsubstanz des Vertrauensprozesses ist eine tragfähige emotional geprägte Bindungsbeziehung, eine alternative Erfahrung zu den vorherigen schädigenden Bindungserfahrungen. Bereits Bowlby (1969/ 2006) stellte die Parallelen zwischen dem Bindungs- und Vertrauenskonzept heraus und griff dabei auf Eriksons (1950) Bezeichnung „Urvertrauen“ („basic trust“, ebd., 219ff ) zurück. Heute hat sich die Bindungstheorie zudem „sozial geöffnet“, aktuelle Diskussionen einbezogen (Drieschner 2011) und lässt sich auch als Entwicklungstheorie im Sinne breiterer Interaktionserfahrungen unter Einbezug gesellschaftlicher und historischer Perspektiven verstehen. Aktuellen Forschungsergebnissen zufolge sind aus dieser Perspektive neben der Bindungstheorie insbesondere Netzwerktheorien und Theorien sozialer Unterstützung heranzuziehen (Überblick Nestmann 2010). Positive Bindungen auf Netzwerkebene bedeuten also auch in diesem Alter und ganz besonders nach vielen traumatischen Erfahrungen ein Gefühl von innerer Sicherheit und damit auch von Fähigkeiten zur gelingenden Stressregulation sowie zu grundlegenden emotionalen wie kognitiven Steuerungsprozessen, die als hauptsächliche Ziele in der Traumapädagogik verstanden werden. Positive Bindungskonstellationen können daher den Erfolg professioneller Veränderungsprozesse initiieren und maßgeblich vorantreiben, wie Daniel dies beschreibt: „Genau so eine Familie eigentlich…, die, was zusammenhält, zusammenhalten sollten“. Diese Aussagen sind besonders bedeutsam für Mädchen und Jungen, die in ihrem Leben bereits zahlreich destruktive Bindungsverhältnisse, Abbrüche und Beziehungsenttäuschungen erleben mussten. BetreuerInnen müssen „dafür als eine verlässliche sichere Basis fungieren, von welcher aus der Klient seine Probleme mit emotionaler Sicherheit bearbeiten kann“ (Brisch 2011, 30). Selbstbemächtigung auf der Basis des Sicheren Orts Gelingt - über diese dyadische Brücke - innerhalb des sozialen Netzwerkes ein positives Zusammenwirken, so spielen Alltagserfahrungen und atmosphärisch positiv gestaltete Freizeitmomente die größte Rolle. Dort werden „korrektive emotionale Erfahrungen“ wirksam, wird Hilfe zu gelungener Selbsthilfe in einer förderlichen Gruppendynamik. „Ich wollte schon immer einen großen Bruder und eine Schwester. Ich habe nun einen Bruder und einen kleinen Bruder wollte ich auch schon immer haben. Den habe ich da gefunden“, sagt ein Bewohner kurz vor dem Auszug. 104 uj 3 | 2017 Traumapädagogische Arbeit in der stationären Jugendhilfe Kühn (2009) spricht vom Begegnungsrahmen des „Sicheren Ortes“, einem Konzept, das jenem der „schützenden Inselerfahrung“ stark ähnelt (Weiß 2003/ 2016). Dazu finden sich zahlreiche Interviewsequenzen. „Zum Beispiel der Freizeitpark. … Uuuund zum Beispiel auch … Italien … waren wir auch schon mal, vor zwei Jahren. … Vor drei Jahren waren wir in einem anderen Land. … Und voriges Jahr waren wir in der H 2 O-Therme und zelten. … Ja. Das sind ja unsere Urlaube“. (Christoph) Auf diese Weise finden die Kinder und Jugendlichen zu mehr Selbstbemächtigung: „Das heißt, ich mache Fortschritte“ (Alexander). Entlang der Traumaforschung ist die Integration in einen selbstständigen Lebensalltag Zielsetzung. Wie gut die vorangegangene Peer- und Netzwerkarbeit gelungen ist, spielt dafür eine große Rolle. Jugendliche, die für sich Peers gefunden haben, mit Verwandten wieder einen Weg gefunden haben und sich auf einige Institutionen verlassen können, haben bessere Chancen, diesen Schritt zu gehen. Soziale Kompetenz hat sich entwickelt: Auch Benedikt z. B. hält es kaum aus, „wenn zum Beispiel ein Kind traurig ist - dann gehe ich einfach hin und tröst’ ihn oder so“. Ein Übergangskonzept, welches die Jugendlichen auf dem Weg nach draußen begleitet, unterstützt diesen Weg. Auf der Basis der neuen Bindungs- und Vertrauensbeziehungen so die ersten Schritte in die Selbstständigkeit zu machen, erweist sich als besonders gelungener Übergang in eine hoffnungsvollere Zukunft. Partizipation Traumapädagogik fokussiert aus diesem Grund neben einer verstehensorientierten Grundhaltung auch ein grundlegend partizipatives Arbeitskonzept. „Und dann immer die Angst zu haben, hoffentlich reißt er sich zusammen, weil sonst fliegt er dort raus. …Bei jedem Telefon, wenn es geläutet hat, und ich hab’ WG gelesen oder irgendwas, ich hab schon gezittert“, erzählt eine Mutter, deren Kind sehr häufig die WGs gewechselt hat, von den kontrastierenden Erfahrungen vor Eintritt in diese Einrichtung. Und sie setzt hinzu, dass der Einbezug von ihr und ihrem Sohn der Schlüssel zur Veränderung war: „Also drum, es hat sich sehr viel geändert“. Als besonders sinnvoll hat sich daher ein multimodales Vorgehen unter partizipativem Einschluss der Betroffenen und deren Umfeldes wie auch der beteiligten Institutionen erwiesen. „Neben der Notwendigkeit einer engeren, auch fallunabhängigen Kooperation der Systeme scheint…ein abgestimmtes Vorgehen verschiedener Professioneller - mit Partizipation der Betroffenen - der Königsweg zu sein“, resümieren auch Fröhlich-Gildhoff und Röser (2012, 31) als Ergebnis einer großen Daphnestudie. Als ein Ergebnis dieser Studie werden die Therapeutischen Gemeinschaften in Zukunft auch noch ein größeres Augenmerk auf die Elternarbeit legen. Ausblick Das vorliegende Projekt bekräftigt eine Reihe bereits bekannter Ergebnisse und hilft, diese weiter auszudifferenzieren. Die Selbstverständlichkeit, dass Beziehungsarbeit ein Kernaspekt der stationären Jugendhilfe darstellt, wird nicht nur bestätigt, sie wird anhand zahlreicher Interviewsequenzen auch in Richtung Förderung der Explorations- und Selbstbemächtigungsfähigkeit weiter ausformuliert. Zur aktuellen Forschungslandschaft im Widerspruch steht dagegen, dass in diesem Falle nicht als eigentliche wirksame Leistung Psychotherapie betrachtet werden kann. Die Jugendlichen benennen vielmehr den Alltagsbereich (Gahleitner 2011). „Therapeutisches Milieu“ - oder unmissverständlicher ausgedrückt „pädagogisch-therapeutisches Milieu“ - bedeutet also offenbar „ausdrücklich … pädagogisch verwurzelte Betreuungskonzeptionen“ (Gahleitner 2011, 9). Aus der Konzeption des „therapeutischen Milieus“ also die Logik abzuleiten - wie dies häufig geschieht -, in stationären Kinder- und Jugendhilfekontexten sei es damit getan, qualifizierte Kinder- und JugendlichenpsychotherapeutInnen anzustellen und die Fachkräfte, die den 105 uj 3 | 2017 Traumapädagogische Arbeit in der stationären Jugendhilfe Alltag mit den Kindern und Jugendlichen bestreiten, mit schlecht bezahltem und gering qualifiziertem ‚Bodenpersonal‘ auszustatten, ist folglich ein fataler Irrtum. Anhand der vorliegenden Ergebnisse ist vielmehr davon auszugehen, dass traumapädagogische Einrichtungen in qualifizierter Alltagsarbeit einen Rahmen für die Jugendlichen schaffen, der für ihre Entwicklungsperspektive, ihr Wachstum, ihre Möglichkeiten der Problembewältigung und für ihre Ressourcenaktivierung förderlich ist. Der Schwerpunkt der Arbeit liegt damit auf dem Alltagsgeschehen, das jedoch durch das pädagogisch-therapeutische Milieus ausgezeichnet ist. Als elementare Säulen lassen sich das pädagogisch-therapeutische Milieu, Beziehungsarbeit innerhalb einer Halt gebenden Struktur und eines aufrichtigen partizipativ angelegten Dialoges sowie Vernetzungs- und Fachkompetenz und disziplinäre sowie methodische Vielfalt feststellen. Therapie ist dann als fruchtbar zu betrachten, wenn sie durch diesen Alltag hindurch wirken kann. In der Regel entfaltet auch der gemeinsame Alltag mit der Gruppe oder durch Peerbeziehungen seine Wirkung auf dem Boden der Betreuungsarbeit. Gelingt auf diese Weise ein positives Zusammenwirken, so spielen Alltagserfahrungen und atmosphärisch positiv gestaltete Freizeitmomente die größte Rolle in der Wirkung. Qualifizierte Arbeit erfordert daher von den Fachkräften eine Kombination aus Anforderungen im Bereich Bindungs- und Beziehungsarbeit, Fachwissen, Strukturgebung und Flexibilität, Teamgeist, Vernetzungskompetenz, Selbstreflexion und Psychohygiene. Fort- und Weiterbildung, Supervision und Intervision sind ebenfalls absolute Notwendigkeit für eine fruchtbare Arbeit. Das Forschungsprojekt sollte daher in erster Linie die Lebens- und Bewältigungsleistung der Kinder und Jugendlichen würdigen, aber ebenso einer Berufsgruppe, die eine anspruchsvolle und herausfordernde Arbeit leistet, Lust auf „noch mehr“ machen und ihr damit den Respekt und die Anerkennung zollen, die sie dafür verdient. Silke Birgitta Gahleitner Alice Salomon Hochschule Berlin - Arbeitsbereich Psychosoziale Diagnostik und Intervention Alice-Salomon-Platz 5 D-12627 Berlin E-Mail: gahleitner@ash-berlin.eu Christina Frank Heidemarie Hinterwallner Katharina Gerlich Martha Schneider Donau-Universität Krems - Department für Psychotherapie und Biopsychosoziale Gesundheit Dr.-Karl Dorrekstraße 30 A-3500 Krems an der Donau E-Mail: christina.frank@donau-uni.ac.at heidemarie.hinterwallner@ donau-uni.ac.at katharina.gerlich@donau-uni.ac.at martha.schneider@donau-uni.ac.at Hermann Radler Therapeutische Gemeinschaften Wien Darnautgasse 10/ 33, A-1120 Wien E-Mail: h.radler@t-gemeinschaften.org Literatur Arbeitskreis Therapeutischer Jugendwohngruppen Berlin (AK TWG) (Hrsg.) (2009): Abschlussbericht der Katamnesestudie therapeutischer Wohngruppen in Berlin. KATA-TWG. Verlag Allgemeine Jugendberatung, Berlin. 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