eJournals unsere jugend 69/5

unsere jugend
4
0342-5258
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
51
2017
695

Inklusion und Jugendsozialarbeit

51
2017
Heide Funk
Birgit Marx
Über die Diskussion um Inklusion wird einmal mehr begründbar, dass Jugendsozialarbeit institutionell abgesicherte Beziehungs- und Gestaltungsräume gegen Ausgrenzung und Diskriminierung verlässlich bereitstellen kann, die frei sind von Entwertung – wo Jugendlichen etwas gelingt und zugetraut wird. Dort können sozialpädagogische Fachkräfte ihre Arbeit entsprechend eigenständig, kooperativ und „nicht arbeitsmarktfixiert“ organisieren.
4_069_2017_005_0194
194 unsere jugend, 69. Jg., S. 194 - 202 (2017) DOI 10.2378/ uj2017.art30d © Ernst Reinhardt Verlag München Basel Inklusion und Jugendsozialarbeit Über die Diskussion um Inklusion wird einmal mehr begründbar, dass Jugendsozialarbeit institutionell abgesicherte Beziehungs- und Gestaltungsräume gegen Ausgrenzung und Diskriminierung verlässlich bereitstellen kann, die frei sind von Entwertung - wo Jugendlichen etwas gelingt und zugetraut wird. Dort können sozialpädagogische Fachkräfte ihre Arbeit entsprechend eigenständig, kooperativ und „nicht arbeitsmarktfixiert“ organisieren. von Heide Funk Jg. 1945; bis 2010 Professorin für Soziologie und Geschichte der Sozialen Arbeit im Fachbereich Soziale Arbeit an der Hochschule Mittweida Einleitung Mit Inkrafttreten der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (2008) und ihrer Unterzeichnung durch Deutschland bereits 2007 ist das Recht auf den Besuch der Regeleinrichtungen von KITA und Schule bis hin zu Ausbildung und Erwerbsarbeit gestärkt und sind die Anforderungen an seine Umsetzung gesteigert worden. Auch nach der Verabschiedung der Konvention braucht die Umsetzung die fortlaufende Unterstützung von Eltern und z. B. auch von Betroffenen-Organisationen, die sich für Inklusion einsetzen. Von einem Behinderungs-Status aus kann nun der rechtliche Anspruch auf einen Platz in der Regelschule eingeklagt werden. Im System Schule müssen dazu Leistungsstandards differenziert und Lernwege individuell gestaltet werden. Und wenn alle SchülerInnen mit ihren spezifischen Erfahrungen anerkannt werden sollen, muss durch Kooperation und soziale Vermittlungen eine Entwicklung zur Integration ihrer Erfahrungen in gemeinsamen Unternehmungen im Sozialraum der Schule möglich sein. Sollen sich unter dem Leitbild „Inklusion“ die Rechte auf Teilhabe für alle Kinder, Jugendlichen und jungen Erwachsenen an Bildung, Ausbildung und Erwerbsarbeit einlösen, so müssen sie auf die Überwindung von Ausgrenzung aus Bildungs- und Betreuungseinrichtungen für Kinder mit Förderbedarf und für Risikogruppen, die von Diskriminierung durch abwertende Problemzuschreibung und Kanalisierung in isolierende und diskriminierende Maßnahmen bedroht sind, zielen. Damit soll es den Organisationen der Bildung, Ausbildung und in den Zugängen zu Erwerbsfeldern Birgit Marx Jg. 1957; Dr. phil., Leitung der IN VIA Akademie in Paderborn, sozialwissenschaftliche Forschungen und Veröffentlichungen zu Jugend und Frauen, ländlicher Regionalentwicklung, Managementthemen für Soziale Einrichtungen u. a. 195 uj 5 | 2017 Inklusion und Jugendsozialarbeit schließlich möglich sein und abverlangt werden können, dass diese sich auf die individuellen Fähigkeiten, Interessen und Bedürfnisse der Jugendlichen und jungen Erwachsenen ausrichten. Werden unter dem Leitbild Inklusion seelische Krisen und soziale Konflikte von Kindern und Jugendlichen einbezogen, die zu Leistungsversagen und Schulverweigerung führen, so kann das in Thüringen durchgesetzte Landesprogramm für Jugendsozialarbeit beispielhaft dafür stehen, diskriminierende Problemzuschreibungen dadurch zu vermeiden, dass es allgemein unterschiedliche Belastungen von Kindern und Jugendlichen anerkennt. Dazu ist Schulsozialarbeit als feste Einrichtung in Schulen mit dem Auftrag verankert, Kinder und Jugendliche vor Ausgrenzung und Scheitern zu schützen und ihnen soziale Anerkennung zu ermöglichen. Explizit werden hier Krisen und Konflikte als bedeutsam angesehen, sodass damit die Chance besteht, dass sich ein Raum für das Verständnis von Lebenssituationen, für Anliegen und Bedürfnisse von SchülerInnen und Eltern eröffnet. Inklusion stärkt also die Erfahrung der Betroffenen und ihre Anerkennung in der Schule in Situationen, in denen sie aus seelischen oder sozialen Gründen an deren Anforderungen scheitern und gleichzeitig Erfolgserlebnisse beim Lernen brauchen. Indem sie hier in ihren sozialen Positionen gestärkt und vor Diskriminierung geschützt werden, können sie dann Eigeninitiative für ihre Anliegen entwickeln. Wir haben dieses Beispiel gewählt, weil es zeigt, wie das Inklusionskonzept für eine Stärkung des Auftrags von Jugendsozialarbeit genutzt werden kann. Dass Jugendsozialarbeit für sich einen geschützten Raum für die Anliegen und Erfahrungen derjenigen definieren kann, die an den Anforderungen von Schule, Ausbildung und beim Zugang zur Arbeitswelt scheitern, ist nicht selbstverständlich. Und eine eigene, unabhängige Ortsbestimmung der Jugendsozialarbeit muss immer wieder im Einzelfall innerhalb ihrer Organisation und gegenüber dominanten Interessen von Schule, Ausbildung und Arbeitswelt durchgesetzt werden. Im Folgenden wollen wir zeigen, dass die Bindung der Jugendsozialarbeit an arbeitsmarktpolitische, sozial- und förderpolitische Vorgaben heute ihre professionelle Handlungsfähigkeit immer weiter eingeschränkt hat, bis dahin, dass sie nicht mehr frei ist, Ausgrenzung und Diskriminierung als soziales Problem und als Zentrum ihres Auftrags zu benennen. Im Anschluss daran plädieren wir dafür, dass sie ihr Wissen über die Folgen von Ausgrenzung bei Jugendlichen zusammen mit wissenschaftlicher Expertise für eine Klärung und Durchsetzung ihres Auftrags nutzt. In einem zweiten Abschnitt treten wir dafür ein, die wichtigsten Rahmenbedingungen und Leitpunkte einer Praxis gegen Entwertung und Ausgrenzung festzumachen und den Auftrag schließlich mit den auch entwicklungspsychologisch bedeutsamen positiven Lern- und Arbeitserfahrungen gerade in schwierigen Bewältigungslagen sozial- und bildungspolitisch zu begründen. Ausgrenzung und Ausschluss an den Grenzen der Jugendsozialarbeit Soll nun das Konzept der Inklusion, das im Regelschulsystem für Kinder und Jugendliche mit Behinderung Anerkennung findet, auf die besonders zugespitzte Situation von Jugendlichen übertragen werden, die auf Dauer keinen Platz in Ausbildung und Arbeit finden, dann müssen unter dem Inklusionskonzepts zuerst die Probleme der Ausgrenzung dieser Jugendlichen und jungen Erwachsenen aus Ausbildung und erwerbssichernder Arbeit öffentliche Anerkennung erhalten. Die betroffenen Jugendlichen haben nicht nur mannigfaltige biografische Brüche erlebt, sondern die Bedingungen und Kriterien der Förderung wirken stigmatisierend und einschrän- 196 uj 5 | 2017 Inklusion und Jugendsozialarbeit kend gerade für diejenigen Jugendlichen, die an Motivation und Kraft verlieren und nicht mehr erreichbar sind. Ihnen werden damit gerade die wichtigen Entwicklungsimpulse, wie sie sich mit positiven Bildungserlebnissen und Arbeitserfahrungen einstellen können, genommen. Auch bleiben ihre Lebenserfahrungen und biografischen Stationen des Ausschlusses weiterhin verdeckt und begründen keinen Anspruch auf Kompensation. Damit Jugendsozialarbeit Ausgrenzung als Problem benennen kann, muss sie den „klassischen“ Integrationsansatz der Jugendsozialarbeit, insbesondere die Jugendberufshilfe, der vor allem in den 1970er und 1980er Jahren als Leitlinie der Profession galt, erweitern. Denn wenn sie Jugendliche mit ihren individuellen Problemen erreichen und sozialpädagogisch begleiten will, dann können sie sich dem Orientierungsdilemma, das Galuske schon für die 1990er Jahre (Galuske 1993) beschrieben hat, nicht entziehen. Seiner Ansicht nach hat sich Jugendberufshilfe den Vorgaben des Arbeitsmarktes unterworfen, ohne die strukturellen Probleme zu thematisieren und zu reflektieren, die dahinterstehen. Heute, so zeigen Oehme und Schröer (2014), besteht das Orientierungsdilemma weiter, wenn nicht zugleich mit dem Auftrag und der Verantwortung für den Organisationsrahmen der Jugendsozialarbeit die sozialstaatliche Verantwortung für die Integration dieser Jugendlichen in die Arbeitswelt sozialpolitisch neu begründet und eingefordert wird. Soziale Arbeit steht in diesem Zusammenhang vor einer besonderen Herausforderung: Sie ist gesellschaftlich dort eingebunden, wo Institutionen mit ihrem Integrationsversprechen versagen und das Scheitern den Einzelnen als ihr persönliches Versagen anrechnen. Da, wo Jugendsozialarbeit in ihrem institutionellen Rahmen den selektierenden Prinzipien und der Anspruchs-Senkung bei den AdressatInnen nichts mehr entgegensetzen kann, ja vielmehr selbst an dieser Praxis der Exklusion beteiligt ist, laufen ihre methodischen Ansätze und der offensive Umgang mit Stigmatisierungen (Lebensweltorientierung, Bewältigung, Befähigung) ins Leere. Sie haben keinen eigenen Raum (mehr), den Beschädigungen und Prozessen der Ausgrenzung im Einzelfall entgegenzuarbeiten. Auch „sekundäre Integration“, die Betroffene stärken und dazu befähigen will, den Anforderungen und„Normalitätserwartungen“ nun auf anderen Wegen gerecht zu werden oder in einer „zweiten Normalität“ besser zurechtzukommen, kann hier nicht mehr gelingen. Aber auch die Frage „Inklusion - wohin? “ stellt sich in anderer Schärfe: Die Jugendlichen sollen sich auf die Anforderungen von Organisationen einstellen, die sie gerade ausgegrenzt haben. Aus den Anstrengungen der sozialpädagogischen Praxis heraus kann daher einerseits begründet werden, was hilft, diesen Verletzungen oder Beschädigungen entgegenzuarbeiten. Andererseits ist hier auch alltäglich erfahrbar, in welche unsicheren und schlechten Arbeitsbedingungen auch die besten der alternativen Ausbildungsprojekte ihre Jugendlichen entlassen müssen. Im zeitgeschichtlichen Rückblick von (Krafeld 2014) erweisen sich die gesellschaftlichen Ambivalenzen, die sich auch im Handeln der Jugendsozialarbeit widerspiegeln, als wenig verändert: Nicht die begrenzte Aufnahmefähigkeit des Arbeitsmarktes wird angeprangert, sondern es wird arbeitsuchenden jungen Menschen suggeriert, dass sie nicht „fit“ genug seien, um die Schwelle zu schaffen und in Erwerbsarbeit einzumünden. Die Jugendsozialarbeit übernimmt dieses gängige Paradigma, arbeitet aber gleichzeitig auch dagegen an. Auch die Debatte, die die Gewerkschaften und die Jugendsozialarbeit um ein Grundrecht auf Ausbildung entfacht haben, beseitigt mit der Forderung nach einer Ausbildungsgarantie nicht alle auch darin enthaltenen Ausgrenzungsmechanismen (Humme 2014). Wo Jugendlichen und jungen Erwachsenen der Übergang in Ausbildung und Arbeit ermöglicht werden soll, haben bereits entwertende Ausgrenzungsprozesse (verbun- 197 uj 5 | 2017 Inklusion und Jugendsozialarbeit den mit verschiedenen Stigmatisierungen) stattgefunden und ein Einstieg in Ausbildung und Arbeit wird von Vorleistungen in der Lebensführung abhängig gemacht, die keinen Bezug zu den Lebenserfahrungen, insbesondere den schon erlebten Ausgrenzungs-Konflikten von Jugendlichen, haben. Dies schließt die Kritik an einem durchgängigen Förderkonzept auf Einmündung in den Arbeitsmarkt ein (Humme 2014). Darüber hinaus zeigt Schruth (2014), wie stark die Jugendsozialarbeit rechtlich vom SGB II umklammert und damit nur eingeschränkt handlungsfähig ist, und auch, wie das SGB II in der Jugendsozialarbeit genutzt wird, um Jugendliche zu sanktionieren. Inklusions-Anspruch gegen Ausgrenzung und ihre Folgen Soziale Arbeit und Sozialpädagogik stehen für eine Realität, in der Menschen an Krisen und Konflikten und an den strukturellen Bedingungen des Schulsystems und der Arbeitswelt gescheitert sind. Hier setzen nicht nur finanzielle Einbußen im Sozialbereich ihren Handlungsspielräumen Grenzen. Auch der steigende Druck, der von erfolgsorientierten Normalitätsstandards ausgeht, hat die Bereitschaft verringert, sich denen zuzuwenden, die immer wieder scheitern oder versagen und somit Ausgrenzung befürchten müssen. Die Forderung nach Inklusion muss also begleitet werden vom Nachweis der folgenschweren Ausgrenzungserfahrungen, die auch im Alltag von Jugendsozialarbeit sichtbar werden. Um diese zu dokumentieren, kann sich Jugendsozialarbeit auf beispielhafte sozialwissenschaftliche Untersuchungen stützen. So lässt sich aus subjektwissenschaftlicher Perspektive der Sozialpsychologie zeigen, wie Jugendliche ihre Lebensvorstellungen, ihre Träume von gesellschaftlicher Zugehörigkeit, aufgeben. Sie suchen sich Menschen und Gruppen, denen es so geht wie ihnen, um wenigstens eine Art von Zustand herzustellen, den sie für sich selbst als Normalität anerkennen können. In einer biografieanalytischen Skizze eines Langzeitarbeitslosen kann herausgearbeitet werden, wie der Staat notwendige Ressourcen zur Integration ins Erwerbsleben so verweigert, dass daraus vielfältige Formen des Verlustes produziert werden, die biografisch in Handlungsunfähigkeit kumulieren (Kratz 2014). Desgleichen lässt sich in einem ethnografischen Fallbeispiel beispielhaft zeigen, wie durch staatliches Handeln einem jungen Schul-, Ausbildungs- oder Berufsabbrecher die Verantwortung für Erfolg oder Scheitern beim (Wieder-)Einstieg in den Arbeitsmarkt aufgebürdet wird und wie der Staat einseitig auf die Energien von Jugendlichen setzt (Reckinger 2014). Bezieht man ein, wie weibliches Geschlecht und Migrationshintergrund zusammenspielen und eine ausgrenzende Wirkung haben können, so zeigt ein Projekt in Berlin einmal mehr, wie dadurch gesellschaftliche Vorurteile und Hindernisse zementiert werden (Jagiello/ Schultz 2014). Unter Gesundheitsgesichtspunkten lässt sich herausarbeiten, wie erwerbslose Jugendliche im Rahmen von Familiendynamiken Belastungsspiralen ausgesetzt sein können: Jugendliche können unterschiedliche Verhaltensweisen von Eltern erleben, die in einem negativen Spannungsfeld stehen: Von der Situation, dass Erwerbslosigkeit als „normal“ angesehen wird, bis dahin, dass Eltern ihre erwerbslosen Kinder stigmatisieren und sie nicht unterstützen (Rogge 2014). Inklusion und der Auftrag von Jugendsozialarbeit Als Voraussetzung zur Klärung des eigenen Auftrags verlangt Krafeld (2014) weiterhin einen Perspektivwechsel in der Jugendsozialarbeit. Sie soll sich von der Fiktion verabschieden, jungen Menschen einen Platz in der Erwerbsgesellschaft schaffen zu können. Längst ist der Arbeitsmarkt nicht genügend aufnahmefähig. Jugendsozialarbeit soll sich positionieren, um Jugendliche im „biografischen Dilemma“ (Ga- 198 uj 5 | 2017 Inklusion und Jugendsozialarbeit luske 1993) zu unterstützen, ihr Leben umfassend zu bewältigen. Dazu muss sie sich von politischen Vorgaben lösen. Doch Jugendsozialarbeit, die auf lange Jahre fachlicher und jugendpolitischer Praxiserfahrung gründet, muss sich selbst die Frage stellen, welche Räume sie eigentlich noch hat, um ihr eigenes Wissen und eine offensive Praxis zu vertreten. Aus der Praxis könnte sie besser und bestimmter zeigen: Jugendliche brauchen Räume, in denen sie aus ihren eigenen mitunter auch leidvollen Erfahrungen heraus Bedürfnisse entwickeln und neue Perspektiven begründen können. Das heißt, es müssen Räume sein, die zu allererst den Entwertungserfahrungen entgegentreten, wo Leiden und Konflikte artikuliert werden können und sich für Jugendliche individuelle Lern- und Gestaltungsspielräume aufbauen, die Lebensplanung und befriedigende Arbeitserfahrungen zulassen. Jugendsozialarbeit hat hier die Aufgabe, den entsprechenden Organisationsrahmen für eine inklusive Arbeit einzufordern und diese Anforderung an Schule und auch an das Erwerbssystem im Einzelfall und grundsätzlich heranzutragen. „Mit dem Perspektivenwechsel, den der Inklusionsbegriff impliziert, werden die Institutionen viel stärker zu einem organisationalen Handlungsrahmen, der aktiv von den Menschen mitgestaltet wird, indem sie eigene Bildungsprozesse und Formen von Arbeit entwickeln können. Anders kann nämlich die Forderung, flexibel auf die Verschiedenheiten einzugehen, ohne dass dabei die Person nach fixen Kategorien einer Gruppe zugerechnet werden muss, kaum umgesetzt werden. Die Eigenheiten, die jede Person oder Gruppen mitbringen, sollen nun auch wesentlich das Handeln in der Institution prägen. Nicht nur, weil man auf die Bedürfnisse der/ des Jugendlichen eingehen muss, sondern weil sie/ er die Institution erst durch den aktiven Part des Handelns und Mitbestimmens zu ihrem/ seinem Ort machen kann, durch den sie/ er an der Gesellschaft teilhat“ (Oehme/ Schröer 2014, 163). Diese Zielsetzung gilt es auch in die Kooperationsstrukturen einzubringen, vor allem wenn es um die Vermittlung bedarfsgerechter und ökonomisch sinnvoller Strukturen zur Unterstützung von Jugendlichen geht (Rohling/ Radatz 2014). Eine Abstimmung im Praxisverständnis wird von Schruth (2014) besonders da eingefordert, wo sich SGB VIII zu SGB II wie Feuer und Wasser zueinander verhalten. Während der Leistungszweck des SGB II sich darin erschöpft, Eigenständigkeit zu fördern und zu sanktionieren, wenn verlangte Leistungen nicht erbracht sind, werden Eigenständigkeit und Eigenverantwortung in der Jugendhilfe dagegen anders verstanden. Eigenverantwortung ist keine Bedingung für die Hilfe, sondern Förderungsziel (Schruth 2014). Auf diesem Hintergrund muss sich die Jugendsozialarbeit aus der Umklammerung lösen und über den Aufbau kooperativer Strukturen sozialpolitisch Position beziehen. Inklusion und sozialpädagogische Fachlichkeit der Jugendsozialarbeit In Organisationen können so Sozial- und Lernräume geschaffen werden, die professionelle verlässliche soziale Beziehungen in eigenen Räumen aufbauen müssen, um für sich auch integrativ wirken können. In der Arbeit der pädagogischen Fachkräfte müssen diese erst einmal von Entwertungen und Diskriminierung freigemacht und für Anerkennungserfahrungen geöffnet werden. Oft arbeiten pädagogische Fachkräfte sogar so, dass sie entgegen den organisationalen Vorgaben lebensweltliche Lern- und Bildungsräume schaffen. Denn, wenn die Organisationen der Jugendsozialarbeit angesichts dysfunktionaler staatlicher Vorgaben aus dem 199 uj 5 | 2017 Inklusion und Jugendsozialarbeit Orientierungsdilemma keine Auswege aufzeigen, sind sie es, die Jugendliche unterstützen und Jugendlichen die Orientierung und Handlungsspielräume bieten, die sie benötigen. „Es kann angenommen werden, dass viele sozialpädagogische Fachkräfte den Spagat im Konflikt zwischen förderspezifischen Einschränkungen und offen wahrgenommenen ,Bedarfen‘ der Jugendlichen dadurch zu lösen versuchen, dass sie Gegenstrategien und eigene Ziele quasi ,unter der Hand‘ erarbeiten, um ihrem professionellen Selbstverständnis treu bleiben zu können. Gegenstrategien können dabei bewusst oder unbewusst entwickelt werden, die sich aber dennoch in kreativen Arbeitsweisen und Methoden manifestieren“ (Funk/ Knapp 2014, 229). Sie lösen sich von der nach wie vor gültigen Orientierungsnorm der „Normalbiografie“ und vermitteln ihnen, dass ihr Leben wertvoll ist, auch wenn ihre Übergänge in die Gesellschaft brüchig sind. Sie öffnen ihnen Lern- und Erfahrungsräume, in denen sie erleben können, dass sie dazu gehören und nicht ausgegrenzt werden oder sich selbst ausgrenzen. Das gelingt nur, wenn Fachkräfte ihre Arbeit „nicht arbeitsmarktfixiert“ organisieren. Dann sind sie es, die Jugendlichen einen stabilen Hintergrund bieten und ihre persönliche Entwicklung begleiten. Über lange Zeit und ggf. mit Umwegen über Misserfolge brauchen sie Räume, in denen sie erleben, dass ihnen „etwas zugetraut wird“. Zur weiteren Begründung des sozialpolitischen Anspruchs der Jugendsozialarbeit Mit ihrer Praxis gegen die Folgen von Ausgrenzung und Diskriminierung darf Jugendsozialarbeit ihren sozialpolitischen Anspruch nicht aufgeben, Jugendlichen eine Entwicklung auf der Grundlage gesellschaftlicher Teilhabe zu ermöglichen. Auch wenn sie durch sozialrechtliche Vorgaben in die Zange genommen wird, so ist ihr Auftrag im SGB VIII klar umrissen. „Die Eigenverantwortung junger Menschen wird nach § 1 Abs. 1 SGB VIII nicht vorausgesetzt, sondern ist ein durch Jugendhilfe zu erreichendes Förderungsziel, nämlich zu einer „eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit“ (Schruth 2014, 191) zu reifen. Hilfe versteht sich dabei persönlich-biografisch zwischen Subjekten des Hilfeprozesses. Sozialisationstheoretische Begründung für eine integrativ und inklusiv wirkende Jugendsozialarbeit Alle Jugendlichen haben, um erwachsen werden zu können und zu einer Persönlichkeit heranzureifen, Entwicklungsaufgaben zu bewältigen. Sie entwickeln sich, indem sie sich mit ihrer sozialen Umwelt auseinandersetzen und Anforderungen, auf die sie mit dem Eintritt in den Kindergarten, in Schule und Ausbildung treffen, bewältigen können. Dies schafft günstige Voraussetzungen dafür, auch die vielseitigen Entwicklungsaufgaben, welche die Adoleszenzphase neu und gesteigert hervorbringt, auf sich zu nehmen. Dazu gehört die Einübung in Verantwortung und Selbstständigkeit in Auseinandersetzung mit den Eltern, der Aufbau von Beziehungen, ein Verhältnis zu PartnerInnen und eine sexuelle Orientierung entwickeln sowie die Suche nach Lebenssinn. Durch den beschleunigten gesellschaftlichen Wandel seit den 1980er Jahren haben sich jugendkulturelle Milieus und Lebensstile stark ausdifferenziert und die Jugendphase hat sich zeitlich ausgedehnt. Dadurch haben sich die Bewältigungsaufgaben sowohl verändert als auch verlagert. Lebenswege haben sich heute individualisiert und Übergänge in Schule und Ausbildung können sich in vielfältiger Weise vollziehen. Dabei greifen die Entgrenzungen 200 uj 5 | 2017 Inklusion und Jugendsozialarbeit der Arbeitswelt, des Lernens und des privaten Lebens in die Jugendphase hinein und verändern sie, indem sie die Herausforderungen der Jugendlichen, die Übergänge ins Erwachsenenleben zu bewältigen, beeinflussen. Die Übergänge werden offener, aber auch riskanter, noch unsicherer und unstrukturierter. Das bedeutet, dass auch die Ausgrenzungsrisiken in der Jugendphase steigen. Von diesen Ausgrenzungsrisiken sind besonders diejenigen Jugendlichen betroffen, die mit belastenden unbearbeiteten Lebenserfahrungen Probleme haben, Anforderungen zu meistern, oder denen das Bildungssystem aufgrund ihrer Herkunft wenige Chancen lässt. Vor diesem Hintergrund entwickeln Jugendliche ihre biografisch lebensweltlich und milieuspezifisch zu erschließenden Bewältigungsstrategien. Die Jugendlichen sind stets auf der Suche nach Handlungsfähigkeit und suchen Zugehörigkeit und Anerkennung. Ihre Lebenschancen entwickeln sich in dem Maße, wie sich ihnen Räume bieten, in denen sie sich ihre „Welt“ aneignen. Dabei erleben sie, dass sie Probleme haben, Wege zu finden, die ihnen zuverlässig zukünftige Erwerbschancen eröffnen oder ihr Leben auch nur halbwegs plan- und gestaltbar erscheinen lassen, und stoßen an Grenzen. In dieser Situation bedeutet das Konzept des „Strebens nach psychosozialer Handlungsfähigkeit“ (Böhnisch 1997, 29), dass Schulverweigerung oder andere Verweigerungshaltungen, der Zusammenschluss mit anderen gleichbetroffenen Jugendlichen, Selbstausgrenzung durch isolierende Hobbys, Drogenkonsum u. a. eben schon Ergebnisse der Suche nach Handlungsfähigkeit in schwierigen Lebens- und Konfliktkonstellationen „um jeden Preis“ sind. Sie machen also auch bei der Suche nach neuer Handlungsfähigkeit sowohl eigene informelle Lernerfahrungen als auch neue Konflikt- und Ausgrenzungserfahrungen insbesondere in den Übergängen, die stets geprägt sind von Gefährdungen wie Scheitern, Entwertung oder Ablehnung. Bildungstheoretische Begründung Kinder und Jugendliche nehmen alles auf, was ihnen an Erfahrung aus der Umwelt geboten wird, und verarbeiten diese individuell. Deshalb spielen die Sozialisationsinstanzen Familie und Peers eine große Rolle bei der Entwicklung von Lern- und Karrierewegen. Dann kommen erst weitere Sozialisationsinstanzen, wie Kindertagesstätten, Schule und Ausbildung, hinzu. Ausgrenzungsprozesse sind im Bildungs- und Ausbildungssystem angelegt und werden durch die Orientierung an konkurrenzförmig arbeitsmarktorientierten Verwertungsprozessen verstärkt. Schule bewertet Kinder und Jugendliche nach Leistung, die viele aus unterschiedlichen Gründen nicht erbringen können oder verweigern. In problematischen Verhaltensauffälligkeiten zeigen sich darüber hinaus Belastungen aus dem familiären Umfeld oder Freundeskreis. So kann soziale Ausgrenzung bereits im Kindergarten beginnen. Bei jeder Institution des formalen Bildungssystems sind Weichen eingebaut, die entweder auf mögliche Chancen und Entwicklungsmöglichkeiten verweisen oder aber auf Abstellgleise führen und damit bestimmte Bevölkerungsgruppen ausgrenzen, weil sie die vorgegebenen Regeln und Normen nicht erfüllen können oder ihre Erfüllung irgendwann verweigern. Die Jugendlichen leiden schließlich unter massiven Hemmnissen gegenüber Institutionen wie Ämtern, Behörden und Schule, die sie als fremde Autoritäten erleben und die ihre Haltung zu hierarchischen Strukturen prägen (Funk/ Knapp 2014, 231). Hier haben sie sich Verweigerungshaltungen und Strategien angeeignet, die als Schutz und Gegenwehr gegenüber Abwertung und Ausgrenzung verstanden werden können, auch wenn sie schließlich zu Selbstausgrenzung führen. Hier geht es um mehr als nur um eine „Pädagogik der Vielfalt“ (Prengel 2006), die die Normalität in der Verschiedenheit sieht, mit der es dann möglich sein soll, eine „egalitäre Diffe- 201 uj 5 | 2017 Inklusion und Jugendsozialarbeit renz“ wahrzunehmen und zuzulassen. Eine „Pädagogik der Vielfalt“, die„ein nicht-hierarchisches, freiheitliches und entwicklungsoffenes Miteinander der Verschiedenen anstrebt“ (Prengel 2001, 96), benennt bisher nicht die Krisen, Kontroversen und Konflikte, die heute individualisiert in strukturelle Benachteiligung und neue biografische Belastungen münden und zur Bearbeitung und Überwindung gerade einen sicheren Platz in Schule, Ausbildung und Arbeit benötigen. Hier geht es dann aber nicht nur um die Anerkennung von Leistungsgrenzen und -unterschieden und um die Anerkennung verschiedener kultureller Milieus, sondern auch darum, dass Jugendliche - im Sinne von Teilhabe - das Recht und die Möglichkeit haben, den sozialen Raum so zu gestalten, dass je individuell erlebte Belastungen, Krisen und Konflikte für die Bearbeitung geöffnet, als „normal“ anerkannt und z. B. kulturell bearbeitet werden können. Inklusion und der integrative Auftrag von Bildung und Ausbildung Der Anspruch auf Inklusion muss hier gefüllt werden durch die Verpflichtung, sich im Schul- und Ausbildungssystem nicht nur auf biografisch erlebte Belastungen und Konflikte einzustellen, sondern sich auch der Realität verweigerter Bildungswege und fehlender Ausbildungsmöglichkeiten zu stellen. Daraus müssen sich andere bildungs- und sozialpolitische Argumentationen entwickeln und Räume eröffnet und zugelassen werden, bei denen Kinder und Jugendliche ihre Handlungsfähigkeit und ihre sozialen Netze finden können. Es geht also nicht nur um eine innere Ausdifferenzierung der institutionellen Lern- und Entwicklungsräume, sondern um den integrativen Beitrag von Bildung und Ausbildung für das Aufwachsen aller Kinder und Jugendlichen. Dr. Birgit Marx IN VIA Akademie Giersmauer 35 33098 Paderborn Tel.: (0 52 51) 29 08-34 E-Mail: bmarx57@gmx.de Prof. Dr. Heide Funk Hochschule Mittweida Fakultät Soziale Arbeit Bahnhofstr. 15 09648 Mittweida E-Mail: funk@hs-mittweida.de Literatur Beck, U. (1997): Was ist Globalisierung? Irrtümer des Globalismus - Antworten auf Globalisierung. Suhrkamp, Frankfurt am Main Böhnisch, L. (1997): Sozialpädagogik der Lebensalter. Beltz/ Juventa, Weinheim/ München Funk, H./ Marx, B. (Hrsg.) (2014): Inklusion und Jugendsozialarbeit. Aufforderung zur Reflexion von Ausgrenzungsprozessen und zur Neubestimmung des sozialpolitischen Auftrags. IN VIA Verlag, Paderborn/ Freiburg Funk, H./ Knapp, G. (2014): „Inklusion“ als Reflexionsrahmen für Jugendsozialarbeit und Legitimationsgrundlage für eine Bildung, Ausbildung und Arbeit gegen Ausgrenzung. In: Funk, H./ Marx, B. (Hrsg.): a. a. O., 225 - 254 Galuske, M. (1993): Das Orientierungsdilemma. Jugendberufshilfe, sozialpädagogische Selbstvergewisserung und die modernisierte Arbeitsgesellschaft. Böllert, KT-Verlag, Bielefeld Humme, M. (2014): Das Grundrecht auf Ausbildung - sozialpolitische Perspektiven der Jugendsozialarbeit. In: Funk, H./ Marx, B. (Hrsg.), 171 - 188 Jagiello, E./ Schultz, A. (2014): Der Fokus liegt auf den Teilnehmerinnen - Fördern individueller Bildungschancen und Lebensperspektiven. In: Funk, H./ Marx, B. (Hrsg.), 89 - 104 Knapp, G. (2014): Teilhabe als Basis für die Persönlichkeitsentwicklung. In: Funk, H./ Marx, B. (Hrsg.), 255 - 278 Krafeld, F. J. (2014): Ambivalenzen von Jugendsozialarbeit in den sozialpolitischen Konjunkturen - eine 202 uj 5 | 2017 Inklusion und Jugendsozialarbeit zeitgeschichtliche Betrachtung. In: Funk, H./ Marx, B. (Hrsg.), 131 - 152 Kratz, D. (2014): Das Fremdwerden der Berufsbiographie von AdressatInnen in der Arbeitsvermittlung. In: Funk, H./ Marx, B. (Hrsg.), 47 - 68 Oehme, A./ Schröer, W.: (2014): Das Orientierungsdilemma im neuen Gewand? Jugendberufshilfe, Sozialpolitik und Inklusion. In: Funk, H./ Marx, B. (Hrsg.), 153 - 170 Oerter, R./ Montada, L. (Hrsg.) (2003): Entwicklungspsychologie. Beltz, Weinheim/ Basel/ Berlin Prengel, A. (2001): Egalitäre Differenz in der Bildung. In: Lutz, H. (Hrsg.): Unterschiedlich verschieden. Differenz in der Erziehungswissenschaft. Leske + Budrich, Opladen, 93 - 107, https: / / doi.org/ 10.1007/ 978- 3-663-11705-6_5 Prengel, A. (2006): Pädagogik der Vielfalt. 3. Auflage. Springer VS, Wiesbaden, https: / / doi.org/ 10.1007/ 978- 3-531-90159-6 Reckinger, G. (2014): „Ich bin ja ein anderer geworden.“ Anpassungsprozesse Jugendlicher SchulabbrecherInnen an den prekarisierten Arbeitsmarkt anhand eines ethnographischen Fallbeispiels. In: Funk, H./ Marx, B. (Hrsg.), 69 - 88 Rogge, B. (2014): Arbeitslose Jugendliche und ihre Familien. Potenziale der Belastung und Entlastung. In: Funk, H./ Marx, B. (Hrsg.), 105 - 130 Rohling, M./ Radatz, J. (2014): Den Berufseinstieg von jungen Menschen mit Startschwierigkeiten in einem differenzierten Fördersystem organisieren - Probleme und Chancen. In: Funk, H./ Marx, B. (Hrsg.), 201 - 224 Schneider, W./ Lindenberger U. (2012): Entwicklungspsychologie. Beltz Verlag, Weinheim/ Basel Schruth, P. (2014): Zur sozialrechtlichen Umklammerung der Jugendsozialarbeit. In: Funk, H./ Marx, B. (Hrsg.), 189 - 200