eJournals unsere jugend 69/5

unsere jugend
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0342-5258
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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2017
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„Arbeiten Sie denn auch mit Behinderten?“

51
2017
Benedikt Hopmann
Geht es um Inklusion, ist häufig von einer wartenden Fachöffentlichkeit die Rede, die sich angesichts einer ‚Inklusiven Lösung’ den neuen Herausforderungen zu stellen habe. Dass dies nicht nur zu kurz greift und sich die Sachlage noch um einiges komplexer darstellt, soll in diesem Beitrag anhand von Aussagen professioneller AkteurInnen erzieherischer Hilfen dargelegt werden.
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203 unsere jugend, 69. Jg., S. 203 - 210 (2017) DOI 10.2378/ uj2017.art31d © Ernst Reinhardt Verlag München Basel von Benedikt Hopmann, M. A. Jg. 1980; Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Bielefeld, Fakultät für Erziehungswissenschaft Inklusion in den Hilfen zur Erziehung „Arbeiten Sie denn auch mit Behinderten? “ Geht es um Inklusion, ist häufig von einer wartenden Fachöffentlichkeit die Rede, die sich angesichts einer ‚Inklusiven Lösung’ den neuen Herausforderungen zu stellen habe. Dass dies nicht nur zu kurz greift und sich die Sachlage noch um einiges komplexer darstellt, soll in diesem Beitrag anhand von Aussagen professioneller AkteurInnen erzieherischer Hilfen dargelegt werden. Inklusion wird in den Hilfen zur Erziehung maßgeblich mit der Debatte um die sogenannte ‚Große Lösung‘ in Verbindung gebracht. Dahinter verbirgt sich die Zielvorstellung einer Gesamtzuständigkeit der Kinder- und Jugendhilfe für alle Kinder und Jugendlichen und die Schaffung eines einheitlichen, ‚inklusiven‘ Leistungstatbestandes zur Entwicklung und Teilhabe. Als Einflussfaktoren dieser Bemühungen können der Reformprozess der Eingliederungshilfe hin zu einem Bundesteilhabegesetz, die langjährigen Abgrenzungsprobleme und Streitigkeiten zwischen Sozial- und Behindertenhilfe (SGB XII) und Kinder- und Jugendhilfe (SGB VIII) sowie die Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention ausgemacht werden. Seit den jüngst publik gewordenen Gesetzesentwürfen in den Jahren 2015/ 2016 wird das Vorhaben unter ‚Inklusive Lösung‘ verhandelt. Aufgrund vielfacher Kritik wurden die Arbeitsentwürfe Ende 2016 durch das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) wieder zurückgezogen und gleichzeitig ein Referentenentwurf zu einer kleinen SGB VIII-Reform für 2017 angekündigt. Inklusion - (k)ein Thema der Hilfen zur Erziehung? Folgt man zunächst den Ausführungen von Oehme/ Schröer (2014), so hat Inklusion die Kinder- und Jugendhilfe bereits im Jahr 2014 längst erreicht. Die Autoren exemplifizieren ihre These an den beiden Handlungsfeldern Schulbegleitung und Jugendsozialarbeit und kommen zu dem Schluss, dass Inklusion weder als „neue Sau“ (ebd., 34) zu betrachten sei noch dass das Warten auf die ‚Große Lösung‘ gerechtfertigt sei, das die Kinder- und Jugendhilfe derzeit präge. Die Jugendhilfe könne zwar durchaus Erfahrungen und eigene Zugänge aufweisen, müsse sich aber maßgeblich den aktuellen Herausforderungen stellen. Die Reaktion auf diese Herausforderungen jedoch sei von Terminologien 204 uj 5 | 2017 Inklusion in den Hilfen zur Erziehung wie ‚Große Lösung‘ und ‚Gesamtzuständigkeit‘ abzukoppeln, da sie sich auf die Diskussion eher hemmend auswirkten und insbesondere der Begriff der ‚Großen Lösung‘ vergangenen Zeiten entlehnt sei (vgl. ebd., 26). Inwieweit diese Einschätzungen auch auf die ‚Inklusive Lösung‘ zutreffen, soll dahingestellt bleiben. Es spricht jedoch wenig dafür, dass mit dem Begriff ‚Inklusive Lösung‘ eine grundsätzlich neue Logik Einzug in die Debatte erhalten hat. Aus diesem Grund wird im Folgenden auch die kombinierte Darstellungsweise ‚Große/ Inklusive Lösung‘ verwendet, wodurch außerdem die Aussagen der befragten AkteurInnen begrifflichen Anschluss an die aktuelle Debatte finden sollen. Was aber lässt sich darüber sagen, ob und/ oder inwiefern Inklusion speziell in den Hilfen zur Erziehung aktuell und relevant ist? Wie fallen die Selbstvergewisserungen der professionellen AkteurInnen zu Inklusion aus und mit welchem Inklusionsverständnis wird dabei operiert? Welche Konsequenzen lassen sich schließlich aus diesen Befunden ableiten? Forschungsfrage und -methodik der qualitativen Studie Den zuvor aufgeworfenen Fragen soll anhand von empirischen Daten nachgegangen werden, die meinem Dissertationsprojekt entstammen. Der in diesem Rahmen durchgeführten Studie liegt die Fragestellung zugrunde, welche Bedeutung professionelle AkteurInnen dem Phänomen Inklusion in den Hilfen zur Erziehung derzeit beimessen, mit welchen begrifflichen Vorstellungen von Inklusion sie operieren, wie als inklusiv markierte Praxen und Rahmenbedingungen von ihnen arrangiert werden und welche impliziten oder expliziten normativen Prämissen von Inklusion sich bei ihnen finden lassen. Im Zeitraum von Juli bis Oktober 2014 wurden dazu 15 qualitative, leitfadengestützte ExpertInneninterviews mit zentralen professionellen AkteurInnen der Hilfen zur Erziehung bei freien Trägern, Jugendämtern, Landschaftsverbänden (Jugendhilfe und Behindertenhilfe) und Behindertenverbänden in Nordrhein-Westfalen durchgeführt, welche von sich aus in ihrer Arbeit einen Bezug zu Inklusion herstellen. Die Daten wurden theoriegenerierend nach Meuser/ Nagel (2005) ausgewertet und sollen nun in Ausschnitten unter den in der Einleitung erwähnten Fragen diskutiert werden. Dazu werden einzelne dem Datenkorpus entnommene Aussagen der professionellen AkteurInnen den folgenden Interpretationen vorangestellt, sequenziell für die Diskussion aufgegriffen und bei Bedarf durch Aussagen weiterer AkteurInnen ergänzt. Sämtliche Daten werden in anonymisierter Form wiedergegeben und statt Eigennamen kommen Pseudonyme zur Anwendung. Zur Aktualität und Relevanz von Inklusion in den Hilfen zur Erziehung „[D]a werden auch viele Säue durchs Dorf getrieben, die […] keine hohe Halbwertzeit haben.“ In Bezug auf Inklusion in den Hilfen zur Erziehung wird einerseits zurückweisend resümiert, dass „da […] nicht der Baum [brennt]“, es somit „nicht so vorrangig Thema“ sei und man schließlich nicht „auf jeden Zug [aufspringen]“ könne „wo die Politik gesagt hätte: ‚Das und das muss jetzt direkt so umgesetzt werden‘“. Andererseits wird die Relevanz und/ oder Dringlichkeit von Inklusion für die Kinder- und Jugendhilfe - Hilfen zur Erziehung ausgenommen - „eher in der offenen Kinder- und Jugendarbeit und Kita-Bereich und so“ gesehen. Insbesondere im Kita-Bereich sei „das im Grunde durch das Thema“, da man hier bereits an viele Erfahrungen anknüpfen könne. Abseits der Kinder- und Jugendhilfe werde „dieses Inklusionsthema sehr dominiert […] von Schule“, weshalb „das große Thema in dem Zusammenhang […] eher der Inklusionshelfer“ sei. 205 uj 5 | 2017 Inklusion in den Hilfen zur Erziehung „Also wir werden um dieses Thema bei den ambulanten und teilstationären Diensten nicht drumrum kommen.“ Sofern die Hilfen zur Erziehung mit Inklusion direkt in Verbindung gebracht werden, werden allenfalls Erziehungsberatungsstellen, ambulante und teilstationäre Dienste als diejenigen Handlungsfelder erzieherischer Hilfen identifiziert, die um das Thema Inklusion zukünftig und langfristig „nicht drumrum kommen“. Dies beträfe allerdings weniger die stationäre Heimerziehung, denn „einen Heimplatz, den suche ich mir in aller Regel nicht selbst, als Eltern“. Inwieweit diese Aussage den Partizipationsaspekt und das Wunsch- und Wahlrecht von Eltern und Erziehungsberechtigten möglicherweise abschwächt oder infrage stellt, wäre noch zu analysieren. Diese verschiedenen Aussagenkomplexe reichen inhaltlich von einer Negation der Dringlichkeit und Relevanz von Inklusion in den Hilfen zur Erziehung über die Relevanzsetzung für bzw. Delegation an andere Handlungsfelder in und außerhalb der Kinder- und Jugendhilfe bis hin zur Anerkennung der Aktualität für die Hilfen zur Erziehung, die - ohne hier jedoch eine besondere Dringlichkeit zu sehen - als gewisser politischer Zwang zur Einleitung von Veränderungen in Richtung Inklusion wahrgenommen zu werden scheint. Inklusion scheint somit - falls überhaupt - in ambulanten und teilstationären Settings deswegen unumgänglich zu sein, da hier die Inanspruchnahme maßgeblich den Eltern und Erziehungsberechtigten obliegt, während die Bewilligung einer stationären Hilfe vom öffentlichen Entscheidungsträger abhängt. Eine Schlussfolgerung könnte sein, dass Inklusion dieser Ansicht nach zuvörderst die Hilfen betrifft, die einem eher niederschwelligen und damit offenen und weniger planbaren Zugang unterliegen. Damit wird Inklusion nicht nur maßgeblich als Ermöglichung von Zugängen zu erzieherischen Hilfen begriffen, sondern es wird auch eine Hierarchisierung bezüglich der Dringlichkeit einer inklusiven Umsetzung einerseits je nach Hilfeform sowie andererseits nach AdressatInnen (Leistungsberechtigte) und bewilligender öffentlicher Instanz (Jugendamt) vorgenommen. Dieses Muster könnte man auf folgende Formel bringen: Je größer die Freiheitsgrade einer erzieherischen Hilfeform, umso mehr Inklusion, verstanden als Zugang zu dieser Hilfeform, wird als erforderlich erachtet. Sofern es nun um konkretere Initiativen geht, so lassen sich die entsprechenden Äußerungen zwischen Warteposition und konkretem Anspruch verorten: „[Wir empfehlen] erstmal abzuwarten, ob es mit der sogenannten großen Lösung eine Lösung gibt in der Weiterentwicklung der Gesetzeslagen […]. Und da das alsbald zu erwarten ist, macht es im Moment keinen Sinn richtig große Initiative dort zu haben, ne, weil wir im Grunde vielleicht Strukturen schaffen, die gar nicht mehr sinnvoll sind“. In den Äußerungen wird die Warteposition der professionellen AkteurInnen deutlich, wonach Initiativen in Bezug auf Inklusion „keinen Sinn“ machen, ehe „nicht da eine gesetzliche Änderung erfolgt“ sei. Solang bis die ‚Große/ Inklusive Lösung‘ eintritt, wird gewartet. Dies lässt sich insbesondere am - gewissermaßen als ‚Warteparagrafen‘ zu charakterisierenden - § 54 Abs. 3 SGB XII zur Pflegekinderhilfe exemplifizieren: „[D]er wird so lange verlängert, bis es diese Große Lösung gibt“. Allenfalls passiv-appellativ äußern sich die Befragten in Bezug auf das, was zwischenzeitlich an Inklusion konzeptionell denk- oder umsetzbar wäre, denn „das kann man trotzdem auch dann, muss man auch mal angehen“ bzw. sie versehen ihre Äußerungen mit einem konkreten Anspruch, vorwiegend an die Gesetzgebung: „[W]ir haben ja jetzt Arbeitsgruppen genug gehabt, wir haben auch eigentlich schon 206 uj 5 | 2017 Inklusion in den Hilfen zur Erziehung genug dadrüber geredet, jetzt muss ‚Butter bei die Fische‘ sozusagen“. An anderer Stelle wird diese Position auf den Punkt gebracht: „[I]ch [hätte] gerne den Entwurf einer Neuregelung des SGB VIII“. Schlussendlich scheint es in Bezug auf das Inklusionsverständnis keinen Unterschied zu machen, ob die AkteurInnen sich nun in Warteposition befinden, konkrete Ansprüche formulieren oder zwischen diesen beiden Polen zu verorten wären: Denn Inklusion wird grundsätzlich an die gesetzlichen Änderungen geknüpft, wie sie mit der ‚Großen/ Inklusiven Lösung‘ erwartet werden. Damit wird Inklusion zum einen inhaltlich politisch-rechtlich aufgeladen und dahingehend mit dem Versprechen einer konkreten Zielperspektive versehen, welches wiederum mit einer derart großen Erwartungshaltung seitens der professionellen AkteurInnen einhergeht, dass perspektivisch ein großes Enttäuschungspotenzial enthalten ist. Zum anderen werden durch diese ausgeprägte und durchaus wirkmächtige Fokussierung auf die zu erwartenden rechtlichen Änderungen andere Bestimmungsversuche bzw. Konzeptionen von oder Debatten über Inklusion eher vernachlässigt, erschwert oder vielleicht sogar verunmöglicht, was bereits in der o. g. passiv-appellativen Äußerung anklingt und vor allem in den Selbstvergewisserungen zu Inklusion, insbesondere in der zwanghaften Abgrenzung, zum Ausdruck kommt. Selbstvergewisserungen zu Inklusion „[D]er Begriff Inklusion, der war uns, würde ich sagen, so vom Ansatz her schon vertraut, bevor er so groß geworden ist. Also der Ansatz ist immer der, alles möglich zu machen für Kinder und wir haben auch immer große Schwierigkeiten damit, wenn dann irgendwelche städtischen Einrichtungen oder Organisationen irgendwie oder die Stadt selbst damit kommt und dann sagt: ‚Ja, inwiefern arbeiten Sie denn inklusiv? Arbeiten Sie denn auch mit Behinderten? ‘ und für uns ist das nicht inklusives Arbeiten, Inklusion geht so weit, dann müsste man die ganze Stadt umstellen, die ganzen Strukturen verändern, wenn man wirklich Inklusion bis zum Ende denkt, das wird dann eben so eng gefasst, um es auch einfacher zu machen“. Diese Äußerung veranschaulicht, dass Inklusion unabhängig von den aktuellen Entwicklungen längst mit der eigenen Arbeit verbunden wird, wenngleich man es „nur nicht als solches verbalisiert“ habe. Darüber hinaus werden unterschiedliche Kinder und Jugendliche adressiert, während der verengte Fokus auf Behinderung Kritik erfährt. Dies dürfte gewissermaßen mit einem erweiterten Inklusionsbegriff korrespondieren, der verschiedene Heterogenitätsdimensionen berücksichtigt. Allerdings findet sich im Datenmaterial bspw. auch eine Aussage zur vormals langjährigen Arbeit in einer Psychiatrie, welche als inklusionsrelevante Erfahrung angegeben wird und daher im Rahmen der aktuellen Tätigkeit in einer Einrichtung der Erziehungshilfe zukünftig dienlich sei. Mit Blick auf die damit implizierte Einschränkung der Zielgruppe und die Exklusivität der Institution Psychiatrie dürfte diese Ansicht mindestens diskussionswürdig sein. Darüber hinaus wird an anderer Stelle am Beispiel des Umgangs mit dem Thema Migration in Erziehungsberatungsstellen problematisiert, dass dortige Praxen vorschnell als inklusionsförderlich bezeichnet werden, sich diese aber bei näherer Betrachtung als unzureichend erweisen und nur eingeschränkte Zugänge gewähren. Demnach wäre Selbstbeschreibungen nicht immer zuverlässig zu entnehmen, wie inklusiv die Praxen und Institutionen tatsächlich sind, da bspw. Fehleinschätzungen oder sicherlich auch Faktoren sozialer Erwünschtheit kaum ausgeschlossen werden können. Dennoch lässt sich resümieren, dass Inklusion in den Institutionen und professionellen Praxen, wenn- 207 uj 5 | 2017 Inklusion in den Hilfen zur Erziehung gleich unterschiedlich ausgeprägt und unterschiedliche Zielgruppen beinhaltend, als vertraut angesehen wird. Vor dem Hintergrund dieser Vertrautheit wird eine Diskrepanz zum vorherrschenden Inklusionsdiskurs offenbar: „Wobei wir den Jonas […] ja nicht als Inklusionskind aufgenommen haben, ich auch nie gedacht habe, da kommt ein behindertes Kind und dasselbe würde ich auch […] für Andrea sagen, hab ich nie gedacht, oh jetzt springen wir auf den Zug der Inklusion und deswegen holen wir uns sogar noch diese beiden“. Es spricht einiges dafür, dass durch die Konfrontation bisheriger Praxen mit dem aktuellen Inklusionsdiskurs ein Rechtfertigungsdruck erzeugt wird, der eine zwanghafte Abgrenzung der professionellen AkteurInnen zur Inklusionsdebatte zur Folge hat. Dies entspräche dem Gefühl, im Sinne aktueller Inklusionslogiken aktiv werden zu müssen. Dementsprechend scheinen die professionellen AkteurInnen einen Unterschied zu machen zwischen der als politisch-rechtlich diskutierten, von außen herangetragenen Inklusion im Rahmen der ‚Großen/ Inklusiven Lösung‘ und den eigenen Institutionen bzw. Praxen vor Ort, denen zwar - zumindest dem Gegenstand nach - durchaus Parallelen mit der politischrechtlichen Inklusionsdebatte attestiert werden, aber die dennoch davon abgegrenzt werden. Eine Begründung für diese Abgrenzung lässt sich in folgender Äußerung finden: „… als wir noch gar nicht über Inklusion nachgedacht haben, haben wir sie einfacher umsetzen können“. Denn die Inklusionsdebatte „macht […] vielmehr Unruhe als es mich, uns gerade voranbringt, behaupte ich mal keck. Weil, jeder hat ja jetzt eine andere Idee davon, was es ist“. Somit scheint der vorherrschende Inklusionsdiskurs als uneindeutig, irritierend und vor allem blockierend erlebt zu werden. Dahingegen wird die Debatte von professionellen AkteurInnen, die sich selbst noch keine bis wenige Erfahrungen in Bezug auf Inklusion attestieren, als positiv und bereichernd beschrieben: „Ich seh da auch einen Vorteil für uns drin. Man wird ja oft zum Fachidiot […] wenn man […] immer das Gleiche macht, ne, wird man ja irgendwann betriebsblind, sag ich jetzt mal, und das lenkt uns ja so ein bisschen halt auch wieder ab und wir gucken ja in einen völlig neuen Bereich rein, sodass […] unsere Iris sich weitet, […] da sehe ich auch eine Chance für uns halt auch drin“. Der Umstand, dass Inklusion auch als „Puls der Zeit“, d. h. als zeitgemäße Thematik eingeschätzt wird, die möglicherweise neue Perspektiven für die eigene professionelle Arbeit bereithält und dadurch die „Iris […] weitet“, veranlasst einige professionelle AkteurInnen offenbar dazu, diesbezüglich aktiv werden zu wollen. Darüber hinaus wird die Logik erzieherischer Hilfen angesichts von Inklusion problematisiert: „[A]ber vom Ansatz her, müsste man sagen, sind viele der Projekte, die wir machen, nicht mit der Grundannahme von Inklusion so vereinbar“. Die Exklusivität erzieherischer Hilfen und eigener Projekte, die hier in Bezug auf spezielle Tagesgruppen thematisiert wird, wird als gewissermaßen inklusionsantagonistisch herausgestellt. Die Schwelle, ab der Hilfen in Bezug auf Inklusion zu problematisieren wären, scheint allerdings unterschiedlich hoch angesetzt zu werden. So werden an anderer Stelle spezielle Individualmaßnahmen erst dann als exklusiv betrachtet, wenn es sich etwa um „das Standortprojekt in Papua […] Neuguinea oder so“ handele. Dies würde bedeuten, dass erzieherische Hilfen im Rahmen von Inklusion noch genauer in Bezug auf deren Tendenz zur Spezialisierung (dazu Freigang 2014) zu befragen wären. 208 uj 5 | 2017 Inklusion in den Hilfen zur Erziehung Ein vorläufiger Ausblick Spätestens, seitdem die ersten Gesetzesentwürfe zur SGB-VIII-Reform die Fachöffentlichkeit erreicht haben, kann man davon ausgehen, dass Inklusion für die Hilfen zur Erziehung darüber an Aktualität gewonnen hat. Dies spiegelt sich tendenziell auch in den Aussagen der professionellen AkteurInnen wider, wenngleich 1. ambivalente Einschätzungen über die Relevanz von Inklusion für die Hilfen zur Erziehung vorliegen und 2. Inklusion auf unterschiedlichen Ebenen ebenso unterschiedlich begrifflich gefasst wird. Die Ambivalenz der Einschätzungen zur Relevanz von Inklusion in den Hilfen zur Erziehung offenbart sich (1.) darin, dass die Äußerungen der professionellen AkteurInnen von der Negation der Dringlichkeit und Relevanz über die Delegation bzw. Verantwortungszuschreibung an andere Handlungsfelder (innerhalb und außerhalb) der Kinder- und Jugendhilfe bis hin zur Fokussierung des inklusiven Zugangs ausgewählter erzieherischer Hilfen und dem Warten auf die ‚Große/ Inklusive Lösung‘ reichen. Wird Inklusion nun generell als relevant für die Hilfen zur Erziehung erklärt, so gerät einerseits Inklusion als Zugang zu bestimmten erzieherischen Hilfen in den Blick und andererseits das Warten auf die ‚Große/ Inklusive Lösung‘. Beide Aspekte weisen wiederum (2.) hin auf eine Diskrepanz zwischen ➤ der politisch-rechtlichen Ebene und ➤ der institutionell-konzeptionellen Ebene. Auf der politisch-rechtlichen Ebene geht es maßgeblich um die ‚Große/ Inklusive Lösung‘ als Zielperspektive sowie Inklusion als Zugang zu ausgewählten erzieherischen Hilfen. Daneben konstituiert sich die institutionell-konzeptionelle Ebene, auf der es um eine bereits vorhandene Vertrautheit mit einer anders besetzten Inklusionsthematik mitsamt erweiterter AdressatInnengruppe und dadurch hervorgerufenen Irritationen bzw. zwanghaften Abgrenzungsversuchen zur aktuell verbreiteten Inklusionsdebatte geht. An dieser Stelle wären auch die Funktionen und Aufgabenfelder der einzelnen ExpertInnen noch stärker in den Blick zu nehmen. Denn während sich auf der ersten Ebene vornehmlich höhere Leitungs- und ReferentInnenpositionen ausmachen lassen, die eher trägerunabhängig agieren, finden sich auf der zweiten Ebene eher mittlere bis untere Leitungspositionen mit deutlicherem Trägerbezug wieder. Zuletzt wird die Wirkmächtigkeit der aktuell verbreiteten Inklusionsdebatte lediglich unter denjenigen der professionellen AkteurInnen als positiv erachtet, die dies als Motivationsschub nehmen, um sich und ihre Einrichtung zukünftig inklusiv(er) aufzustellen, da dort keine bis wenige Anknüpfungspunkte vorhanden seien. An dieser Stelle wäre nun zu fragen, welche Aussagekraft die bis Ende 2014 erhobenen Interviewdaten in Anbetracht der virulent gewordenen SGB-VIII-Reformdebatte um die ‚Inklusive Lösung‘ nach wie vor beanspruchen können. Wenngleich von der Vorstellung einer sich gänzlich in Warteposition befindenden Fachöffentlichkeit nunmehr abzurücken wäre, so lässt sich die These formulieren, dass die reservierten bis negativen Äußerungen gegenüber den Gesetzesentwürfen auch durch die abwartende Haltung und tendenzielle Passivität begründet sein können, aufgrund derer man sich nun abrupt überrumpelt gefühlt haben mag, plötzlich die Debatte vermisst, fachliche Pfründe schwinden sieht oder von der Debatte sogar abgehängt worden sein könnte. Diese Lesarten dürfen jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Gesetzesentwürfe aus fachlicher Perspektive durchaus eklatante Mängel aufweisen und der gesamte Reformprozess sich nicht unbedingt durch Transparenz auszeichnet, wie z. B. die Debatte in der Zeitschrift neue praxis (ab Heft 4/ 2016) zeigt. Inklusion wurde durch die professionellen AkteurInnen einerseits sicherlich leichtfertig als ‚Sau ohne Halbwertszeit‘ angesehen und es wurde zu lange die War- 209 uj 5 | 2017 Inklusion in den Hilfen zur Erziehung teposition eingenommen. Andererseits aber scheinen die Irritationen und zwanghaften Abgrenzungsversuche - auch wenn diese durchaus zu hinterfragen sind - angesichts der aktuellen Debatte ihre Berechtigung zu haben. Zumal sie als Bestrebungen in Richtung eines - wenn auch eigenen - Inklusionsverständnisses gedeutet werden können. Um Inklusion für die Hilfen zur Erziehung analytisch weiterdenken und -entwickeln zu können, erscheint es sinnvoll, diesbezügliche Klärungsversuche zunächst einmal von der Debatte um die ‚Große/ Inklusive Lösung‘ zu trennen, um den etwaigen inhaltlichen Ertrag für die zukünftige Konturierung von Inklusion für die Hilfen zur Erziehung nicht von vornherein zu begrenzen. Entgegen der eingangs dargelegten Argumentation zur Abtrennung würde hier an die Kritik am einseitigen Fokus auf die „administrativ-juristische Domäne“ (Hopmann 2016, 390) angeknüpft werden, die in den Aussagen der Befragten - gewissermaßen analog dazu - als politisch-rechtliche Ebene verhandelt wird. Damit stehen weder nationalnoch völkerrechtliche Implikationen und Umsetzungserfordernisse grundsätzlich infrage. Vielmehr würde jedoch eine darüber hinausgehende Öffnung der Debatte es eher zulassen, sich damit auseinanderzusetzen, inwieweit es bei Inklusion allein um die Ermöglichung von Zugängen gehen kann/ sollte, ob die Fokussierung unterschiedlicher AdressatInnengruppen vielleicht sogar gerade die fachliche Spezifik erzieherischer Hilfen ausweist, die es stärker zu berücksichtigen gilt, ob sich bei der Dringlichkeits- und Gewichtungsfrage tatsächlich einzelne erzieherische Hilfeformen gegeneinander ausspielen lassen und welche Konsequenzen damit verbunden sind und ob die exklusive Logik bzw. Spezialisierungstendenz der Hilfen zur Erziehung unter der Inklusionsprämisse nicht ebenfalls stärker zu problematisieren sei. Zudem ließe sich eher bearbeiten, wie mit den inklusiven Selbstbeschreibungen der AdressatInnen und den Diskrepanzen zwischen politisch-rechtlicher und institutionell-konzeptioneller Ebene umzugehen wäre, um bspw. eine Zergliederung und damit einhergehende Unschärfe in Bezug auf Inklusion zu vermeiden und so etwas wie ein geteiltes inklusives Leitbild entwerfen zu können. Ein entsprechendes Instrument zur konzeptionell-theoretischen Fundierung von Inklusion für die Hilfen zur Erziehung wird bspw. an anderer Stelle vorgeschlagen (vgl. Hopmann/ Ziegler 2017). Obwohl noch weitere Analysen notwendig sind und auch der vorliegende Datenkorpus zu den hier verhandelten und darüber hinausreichenden Aspekten noch weitere Anknüpfungspunkte bietet: Die hier herausgearbeitete Notwendigkeit einer Erweiterung der Debatte böte immerhin die Chance, auf eine möglicherweise größere Lösung als die ‚Große Lösung‘ bzw. eine inklusivere Lösung als die ‚Inklusive Lösung‘ abzuzielen. Benedikt Hopmann Universität Bielefeld Fakultät für Erziehungswissenschaft 33615 Bielefeld E-Mail: benedikt.hopmann@uni-bielefeld.de Literatur Freigang, W. (2014): Spezialisierung. In: Düring, D., Krause, H.-U., Peters, F., Rätz, R., Rosenbauer, N., Vollhase, M. (Hrsg.): Kritisches Glossar der Hilfen zur Erziehung. IGfH Eigenverlag, Frankfurt a. M., 339 - 344 Hopmann, B., Ziegler, H. (2017, Im Erscheinen): Der Capabilities-Ansatz als Inklusionsperspektive für die SGB VIII-Reform. In: Forum Erziehungshilfen, 23, 2 210 uj 5 | 2017 Inklusion in den Hilfen zur Erziehung Hopmann, B. (2016): Blindstellen der Inklusionsdebatte in den Hilfen zur Erziehung. In: Sturm, T., Köpfer, A., Wagener, B. (Hrsg.): Bildungs- und Erziehungsorganisationen im Spannungsfeld von Inklusion und Ökonomisierung. Verlag Julius Klinkhardt, Bad Heilbrunn, 388 - 396 Meuser, M., Nagel, U. (2005): ExpertInneninterviews - vielfach erprobt, wenig bedacht. Ein Beitrag zur qualitativen Methodendiskussion. In: Bogner, A., Littig, B., Menz, W. (Hrsg.): Das Experteninterview. Theorie, Methode, Anwendung. 2. Auflage. VS Verlag, Wiesbaden, 71 - 93 Oehme, A., Schröer, W. (2014): Die „Inklusion“ hat die Kinder- und Jugendhilfe längst erreicht - doch alle warten auf die „große Lösung“. In: Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe - AGJ (Hrsg.): Gesellschaftlicher Wandel - Neue Herausforderungen für die Kinder- und Jugendhilfe? ! AGJ, Berlin, 25 - 38