eJournals unsere jugend 69/5

unsere jugend
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0342-5258
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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2017
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Kommunen machen sich auf den Weg

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2017
Anke Frey
Judith Dubiski
„Egal, wer auf mich zukommt, der hat ein Recht auf seine Freizeit bei uns.“ Dieses Zitat stammt von einer Fachkraft, die im Rahmen des Projekts „Inklusion in der Jugendförderung“ inklusive Freizeitangebote für Kinder und Jugendliche umgesetzt hat. Es steht für das, was Inklusion meint: das Recht auf Teilhabe in allen Lebensbereichen, auch in der Freizeit.
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211 unsere jugend, 69. Jg., S. 211 - 219 (2017) DOI 10.2378/ uj2017.art32d © Ernst Reinhardt Verlag München Basel von Anke Frey Jg. 1974; Diplom-Pädagogin, von 2011 - 2016 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Forschungsschwerpunkt Nonformale Bildung der TH Köln, Arbeitsschwerpunkte in den Bereichen Kinder- und Jugendarbeit, Kinder- und Jugendreisen, Inklusion und Soziale Arbeit an Schulen Inklusion in der Jugendförderung Kommunen machen sich auf den Weg „Egal, wer auf mich zukommt, der hat ein Recht auf seine Freizeit bei uns.“ Dieses Zitat stammt von einer Fachkraft, die im Rahmen des Projekts „Inklusion in der Jugendförderung“ inklusive Freizeitangebote für Kinder und Jugendliche umgesetzt hat. Es steht für das, was Inklusion meint: das Recht auf Teilhabe in allen Lebensbereichen, auch in der Freizeit. Einführung Gunda Voigts (2012, 2014 a, 2014 b) verweist darauf, dass die Auseinandersetzung mit Inklusion und Exklusion immer schon ein Thema der Kinder- und Jugendarbeit war. Trotzdem müsse sich auch die Kinder- und Jugendarbeit der Aufgabe stellen, ihre „Inklusionsrealität“ immer wieder neu zu reflektieren. Kinder- und Jugendarbeit folgt ihrem Selbstverständnis nach in besonderer Art und Weise der Eigenlogik von Jugendkulturen und deshalb muss Inklusion von allen Beteiligten - insbesondere den Kindern und Jugendlichen selbst - getragen werden. Im Modellprojekt „Inklusion in der Jugendförderung“ (2013 - 2015) interessierte daher, wie dieser Anspruch im Feld der Jugendförderung umgesetzt wird und sich zukünftig, insb. mit Blick auf Planung und Steuerung, systematisch gestalten lässt (Frey/ Dubiski 2014). Das Projekt wurde durch die Landesjugendämter Rheinland und Westfalen-Lippe durchgeführt und durch das Ministerium für Familie, Kinder, Jugend, Kultur und Sport des Landes Nordrhein- Westfalen gefördert. Sechs kommunale Jugendämter (die Städte Bonn, Dortmund, Gütersloh, Köln, Siegen und der Oberbergische Kreis) beteiligten sich, sie entwickelten Strukturen und Judith Dubiski Jg. 1982; M. A., studierte Soziologie, Erziehungswissenschaften und Kommunikationswissenschaften und ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Forschungsschwerpunkt Nonformale Bildung der TH Köln, Arbeitsschwerpunkte in den Bereichen Kinder- und Jugendarbeit, Kinder- und Jugendreisen, Internationale Jugendarbeit, Inklusion 212 uj 5 | 2017 Inklusion in der Jugendförderung Prozesse in der kommunalen Verwaltung und führten inklusive Praxisprojekte durch. Alle Aktivitäten hatten das Ziel, Inklusion als Querschnittsthema in Strukturen und Praxen der Jugendförderung inklusive der Kinder- und Jugendförderpläne nachhaltig zu verankern. Dahinter lag die Frage, was der in Deutschland geführte Diskurs zu Inklusion für die kommunale Jugendförderung bedeutet. Vor dem Hintergrund der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) sowie der bislang systematischen Trennung des Freizeitbereichs für behinderte und nicht-behinderte Kinder und Jugendliche wurde in den Praxisprojekten primär die Öffnung der Jugendförderung für behinderte Kinder und Jugendliche fokussiert. Das Projekt wurde durch den Forschungsschwerpunkt Nonformale Bildung der Technischen Hochschule Köln wissenschaftlich begleitet. In diesem Beitrag werden Erkenntnisse aus dem Projekt aufgegriffen und mit Blick auf die Jugendförderung in den Diskurs um Inklusion eingeordnet. Inklusion und Jugendförderung: eine Verortung Bevor es konkret um das Modellprojekt geht, werden die beiden Begriffe der „Inklusion“ und der „Jugendförderung“ miteinander in Beziehung gesetzt. Denn das Modellprojekt basiert auf der Aufforderung zur Umsetzung der UN-BRK, in der die Leitidee Inklusion den Ausgangspunkt für Veränderungen in Institutionen des Erziehungs- und Bildungssystems bildet. Aus dem Auftrag der Jugendförderung, Angebote für alle Kinder und Jugendlichen vorzuhalten, ergibt sich einerseits eine programmatische Nähe zum Auftrag von Inklusion. Für den pädagogisch gerahmten Freizeitbereich ist es andererseits nach wie vor kennzeichnend, dass behinderte und nicht-behinderte Kinder und Jugendliche ihre Freizeit getrennt verbringen. Gleichwohl es in der Pädagogik und Sozialen Arbeit seit vielen Jahren „inklusive“ Einrichtungen und Projekte gibt, in denen behinderte und nicht-behinderte Kinder und Jugendliche gleichermaßen anzutreffen sind, fehlt es an einer systematischen inklusiven Entwicklung. Darüber hinaus wird Inklusion in der öffentlichen Debatte nach wie vor vorwiegend im Kontext von Schule und Schulentwicklung diskutiert, die Jugendförderung scheint hier eher ein „Randbereich“ zu sein. Inklusion als Leitidee Mit der in Deutschland ratifizierten UN-BRK wird dem Begriff der Inklusion eine nachdrückliche und weitreichende Bedeutung gegeben, die als Leitidee grundsätzliche Fragen an die Gestaltung von Gesellschaft stellt (vgl. u. a. Dannenbeck 2014, Platte 2012, Voigts 2012 u. 2014 a, Rohrmann 2014 a, Degener/ Mogge- Grotjahn 2012). Die Konvention betont die Universalität der Menschenrechte und verweist auf einen „normativen Orientierungspunkt gesellschaftspolitischer Gestaltung“ einerseits und einen „Maßstab zur Analyse von wirksamen Ungleichheitsverhältnissen“ andererseits (Dannenbeck/ Dorrance 2014, 151). Hinter diesem Anspruch steht eine bildungs- und gesellschaftspolitische Aufforderung: alle Organisationen des Bildungs- und Erziehungssystems sind aufgerufen, soziale Teilhabe und Teilhabe an Bildung für alle Kinder und Jugendlichen zu gewährleisten. Die UN-BRK betont, dass „Behinderung“ als Teil menschlicher Vielfalt anzuerkennen ist und wendet sich entschieden gegen einen defizitären Blick auf behinderte Menschen. Die Verantwortung zur Minderung bzw. Beseitigung sozialer Benachteiligung wird als wohlfahrtsstaatliche und gemeinschaftliche Aufgabe verstanden und nicht als individuelles Problem (vgl. Waldschmidt 2005). Nicht AdressatInnen sind verantwortlich dafür, ob es ihnen z. B. möglich ist, an Angeboten der Kinder- und Jugendförderung teilzunehmen. Vielmehr obliegt Fachkräften im Bildungssystem eine doppelte Verantwortung: zum einen, individuelle und systembedingte Ausschlüsse wahrzunehmen, 213 uj 5 | 2017 Inklusion in der Jugendförderung und zum anderen, darauf bezogene Veränderungen zu initiieren. Insbesondere für die Soziale Arbeit und die Kinder- und Jugendhilfe bedeutet dies ein „aktives Sich-Verändern von Zugängen, Angebotsstrukturen und Qualitäten“, um „Spezialisierungen entgegenzuwirken und vor allem zu verhindern, dass sich ganze Gruppen junger Menschen ausgeschlossen fühlen oder ausgeschlossen werden“ (Kurz-Adam 2014, 136). Auch der Gebrauch der Begriffe „behindert“, „behinderte Menschen“ bzw. „behinderte Kinder und Jugendliche“, die in diesem Beitrag benutzt werden, betont die „Be-hinderung“ von Menschen durch strukturelle Barrieren. Inklusion lässt sich in diesem Sinne als „normatives Korrektiv“ zur Analyse institutionellen und professionellen Handelns verstehen. Für den Diskurs in der Sozialen Arbeit lässt sich festhalten: Inklusion wendet sich gegen ungewollte und systematisch produzierte Ausschlüsse von Personen oder Personengruppen. Gleichzeitig wird der Anspruch beschrieben, den Blick auf die Menschen selbst zu verändern und die Vielschichtigkeit von Biografien und Identitäten anzuerkennen (vgl. Degener/ Mogge-Grothjan 2012, 71). Inklusion als Handlungs- und Organisationsprinzip In der Fachdiskussion wird Inklusion auch als „Handlungs- und Organisationsprinzip“ benannt, um Institutionen und Prozesse systemrelevant und systematisch zu verändern. Es wird der Anspruch formuliert, organisationale Veränderungen anzustoßen und organisationales Lernen zu ermöglichen und dafür notwendige Prozesse zu gestalten (vgl. Speck 2013). Inklusion wird weder als kurzfristiges Projekt gedacht, noch ist der Anspruch mit „best-practice“-Beispielen zu erledigen (vgl. Dannenbeck 2014). Es geht darum, Praxen zu entwickeln, die dauerhaft reflexions- und veränderungsbereit sind. Im Sinne eines Organisations- und Handlungsprinzips wird nachdrücklich darauf verwiesen, dass eine Umsetzung nicht ohne eine „operative Dimension“, d. h. Veränderungen in Struktur und Praxis auskomme (vgl. Speck 2013). Diese Übersetzungsarbeit - die Leitidee in konkrete Veränderungen zu überführen - ist von Professionellen zu leisten. Veränderungsprozesse sind vor allem kommunikative Prozesse, die Impulse brauchen. Eine Organisationskultur, die reflexive Offenheit und den „Blick nach innen“ zulässt und gezielt fördert, ist dazu eine wichtige Voraussetzung. Erst diese Offenheit ermöglicht den handelnden Personen, auch implizite Annahmen und Beschränkungen zu erkennen und Sichtweisen einer Überprüfung zu unterziehen (vgl. Senge 2011). Die zentrale Bedeutung dieser Kommunikationsarbeit wird im Kontext einer „inklusiven“ Entwicklung häufig unterschätzt. Wenn Inklusion dazu auffordert, die eigene Arbeit mit geschärftem und differenzierterem Blick zu betrachten, dann brauchen Beteiligte genau dafür Diskursräume und Zeitressourcen. Jugendförderung als non-formaler Bildungsbereich In Nordrhein-Westfalen werden - anders als in allen anderen Bundesländern - unter dem Begriff Jugendförderung die Leistungen nach SGB VIII (KJHG) §§ 11 bis 14 gefasst, also die Kinder und Jugendarbeit, insbesondere die Offene Kinder- und Jugendarbeit und Jugendbildung, sowie die Jugendverbandsarbeit, die Jugendsozialarbeit und der Erzieherische Kinder- und Jugendschutz. Neben dem SGB VIII ist das Dritte Gesetz zur Ausführung des Kinder- und Jugendhilfegesetzes NRW die rechtliche Grundlage, innerhalb derer Jugendförderung zu verorten ist. Die Strukturmerkmale von Kinder- und Jugendarbeit nach §§ 11 und 12 KJHG/ SGB VIII und dem Ausführungsgesetz in NRW lassen sich zusammenfassend mit den Begriffen Freiwilligkeit, Partizipation, Subjekt- und Lebensweltorientierung, Gruppenorientierung, Alltagsorientierung, Regionalisierung und Dezentralisierung benennen (vgl. Thole 2000). Die Jugendförderung 214 uj 5 | 2017 Inklusion in der Jugendförderung als non-formaler Bildungsbereich fungiert dabei als „Brückeninstanz“ zwischen Familien, Peer-Gruppen, Schule und anderen Lern- und Freizeitwelten. Einigkeit herrscht in der Fachdiskussion über die Bedeutung non-formaler Bildungsorte in der Entwicklung junger Menschen (vgl. u. a. Lindner/ Sturzenhecker 2004, Müller u. a. 2005, Rauschenbach u. a. 2006). Denn Bildungsprozesse in non-formalen Kontexten sind alltagsorientiert und angebunden an die Lebenswelten und Interessen von Kindern und Jugendlichen. Sie sind Ausdruck der Auseinandersetzung mit der „Welt“. Erfahrungen in der sozialen Gruppe mit den „Peers“ sind hochrelevant, genauso die Interaktion mit Erwachsenen. Fachkräfte der Jugendarbeit agieren dabei nach dem pädagogischen Prinzip der „Sparsamkeit“. Das heißt, sie nehmen aktiv am Geschehen teil und sind selbst als Person mit eigenen Wert- und Normvorstellungen präsent (vgl. Thole/ Pothmann 2013). Gleichzeitig unterstützen sie bewusst die Selbstorganisation und das „Miteinander lernen“ von Kindern und Jugendlichen. Sie sind grundsätzlich da, aber beeinflussen nicht permanent die Interaktion oder sagen, was richtig oder falsch ist. Gerade das alltägliche, intensive Miteinander bietet so auch ein „reichhaltiges Erfahrungsfeld, das selbstverständliche Miteinander von Menschen mit unterschiedlichen Beeinträchtigungen einzuüben“ (Ilg 2013, 479). Evaluationsdesign des Modellprojektes Wie bereits benannt, lag dem Projekt die Frage zugrunde, was der aktuelle, in Deutschland geführte Diskurs um Inklusion auf einer diskursiven, politisch-strukturellen und praxisbezogenen Ebene für die kommunale Jugendförderung bedeutet. Welche Bedingungen und Prozesse in der Implementierung des rechtlichen Anspruchs auf Inklusion sind zielführend? Und wie werden Umsetzungsprozesse in kommunalen Strukturen ausgestaltet? Ziel war es, übergreifende Erkenntnisse und Empfehlungen für eine inklusive Entwicklung der Jugendförderung zu generieren. Die für den Projektzeitraum ausgewählten kommunalen Jugendämter (s. Kap.1) haben sich auf den Weg gemacht, inklusive Praxen zu entwickeln. Sowohl Planungs- und Steuerungsprozesse (Planungs- und Steuerungsebene) innerhalb der kommunalen Verwaltungsbereiche als auch inklusive Praxisprojekte mit Kindern und Jugendlichen in Kooperation mit freien Trägern (Umsetzungsebene) wurden entwickelt. Mit der Bezeichnung ‚inklusive Praxisprojekte‘ waren sowohl zeitlich begrenzte Maßnahmen und Projekte (z. B. Ferienangebote, Camps, Projekte der kulturellen Bildung etc.) gemeint als auch Entwicklungen, die langfristig und umfassender angelegt waren, wie etwa die inklusive Entwicklung eines Jugendzentrums. Einige der Praxisprojekte wurden in Kooperation mit Trägern der Behindertenhilfe, z. B. mit der Lebenshilfe, durchgeführt. Die formative Evaluation durch die TH Köln bestand neben der Beratung und Prozessbegleitung aus zwei empirischen Phasen: (1) Experteninterviews mit Akteuren der Umsetzungsebene Die erste Evaluationsphase fokussierte Erkenntnisse der pädagogischen Praxis. Leitend waren dabei folgende Fragen: ➤ Wie werden inklusive Praxen in der Jugendförderung ausgestaltet? ➤ Welche zentralen Themen beschäftigen die Akteure? ➤ Welche förderlichen und hemmenden Bedingungen zur Umsetzung inklusiver Praxen lassen sich identifizieren? (2) Experteninterviews mit ProjektkoordinatorInnen Die zweite Phase fokussierte die Prozesse aus der Perspektive der Jugendämter. Die ProjektkoordinatorInnen (meist JugendpflegerInnen, JugendreferentInnen oder JugendhilfeplanerInnen) waren für die Umsetzung des Modell- 215 uj 5 | 2017 Inklusion in der Jugendförderung projektes in der jeweiligen Kommune verantwortlich und haben in dieser Funktion sowohl die verwaltungsinternen Prozesse als auch die Prozesse mit den Trägern koordiniert. Leitend waren hier folgende Fragen: ➤ Welche Strategien haben sich als förderlich erwiesen, Inklusion als Querschnittsthema systematisch in Verwaltung und Praxis zu implementieren? ➤ Was bremst die Implementierung von Inklusion? ➤ Welche Entwicklungserfordernisse für die Zukunft lassen sich benennen? Ergebnisse der wissenschaftlichen Begleitung Im Folgenden werden ausgewählte Ergebnisse benannt. Dabei ist es wichtig, diese vor dem Hintergrund der Heterogenität des Feldes der Jugendförderung zu interpretieren. Das heißt, die Erkenntnisse, Herausforderungen und daraus abgeleiteten Empfehlungen sind auf das eigene Praxisfeld zu übertragen und zu konkretisieren. Unterstützende Faktoren auf der kommunalen Planungs- und Steuerungsebene Eine vorangegangene politische Beschlussfassung (Ratsbeschluss, Beschluss im Jugendhilfeausschuss) hat sich als deutlich unterstützend erwiesen. In allen Kommunen wurde angestrebt, Inklusion im kommunalen Kinder- und Jugendförderplan zu verankern. Darüber hinaus haben die beteiligten Kommunen ihre Überlegungen und Planungen für die Jugendförderung an Vorläuferprojekte und kommunale Gesamtentwicklungen (wie Inklusionspläne, bestehende stadt-/ kreisweite Netzwerke zu Inklusion etc.) angeschlossen. So konnten sie einerseits auf vorliegende Erfahrungen zurückgreifen und sich andererseits gezielt mit Personen und Gremien vernetzen, die bereits im Thema aktiv waren. Zu den Trägern, mit denen die Praxisprojekte umgesetzt wurden, existierten bereits vorher gute und erprobte Arbeitsbeziehungen. An allen Standorten wurden überschaubare Praxisprojekte entwickelt, die die Ressourcen der Beteiligten (d. h. weder der Träger noch der Projektkoordination im kommunalen Jugendamt) nicht überfordert haben. Der Rückhalt auf Leitungsebene (durch die Amtsleitung, Abteilungsleitung), sich für das Thema Inklusion einzusetzen, wird übergreifend als wichtig und unterstützend benannt. Vor allem, um die Jugendförderung im Kontext des Themas Inklusion als eigenes Handlungsfeld sichtbar zu machen und die Berücksichtigung in relevanten Gremien und Planungsprozessen sicherzustellen. Darüber hinaus waren die Fachberatungen der Landesjugendämter Rheinland und Westfalen-Lippe wichtige Begleitungen und Reflexionsinstanzen für die Modellstandorte. Sie haben die Kommunen in allen Projektphasen (Antragstellung, Konzeption, Aufbau von Prozessen und Strukturen, Durchführung, Evaluation) begleitet und dadurch die Projektentwicklung maßgeblich unterstützt. Es hat sich gezeigt, dass es in jeder Kommune eines „Motors“, sprich mindestens einer engagierten Person bedurfte, um das Thema Inklusion nachhaltig voranzubringen. Im Projekt haben sich diese Personen immer durch einen vorherigen persönlichen und/ oder professionellen Bezug zum Thema ausgezeichnet. Offen geblieben ist die Frage, wie man ein nachhaltiges Engagement auch unabhängig von einem persönlichen und/ oder professionellen Bezug zum Thema forcieren kann. Mit Blick auf Inklusion als Handlungs- und Organisationsprinzip (s. Abschnitt Inklusion und Jugendförderung) lässt sich feststellen, dass sich in den Kommunen eine Strategie zwischen „Bottom-up“ und „Top-down“ als erfolgreich erwiesen hat. „Die Basis“ - das heißt Familien, Kinder und Jugendliche selbst - lässt sich am besten erreichen, indem man an das freiwillige Engagement appelliert. Auch Kooperations- 216 uj 5 | 2017 Inklusion in der Jugendförderung partner lassen sich nicht über „Anordnung“ gewinnen, insbesondere in einer subsidiären Struktur mit einer Vielfalt an freien Trägern und Aktivitäten. Ein Akteur dazu: „Also wenn einer irgendwas nicht will, dann kann man es verordnen. Man kriegt es aber nicht umgesetzt. Oder man kriegt es formell umgesetzt, aber mehr auch nicht.“ (I 3, Projektkoordination) Gleichzeitig werden Elemente einer „Topdown“-Strategie als wichtig erachtet - und zwar dann, wenn es um die systematische Verankerung des Themas Inklusion in der kommunalen Struktur geht. Die Verankerung als Querschnittsthema in der Kommune wird durch einen offiziellen Arbeitsauftrag deutlich unterstützt. Dieser stärkt das Bewusstsein für Inklusion und unterstützt tatsächliche organisationale Veränderungen. Auch wenn grundsätzlich zu den Partnern bereits gute Arbeitsbeziehungen bestanden haben, so waren die gemeinsam konzipierten inklusiven Praxisprojekte (z. B. Ferienspaß, Theaterprojekte, inklusive Öffnung der Angebote eines Jugendzentrums) für alle neu. Aus der Perspektive der Projektkoordination kam der Freiheit der Projektentwicklung mit den Trägern und dem damit einhergehenden Prinzip der „Fehlerfreundlichkeit“ eine hohe Bedeutung zu. Wichtiger als das „erzwungene“ Gelingen der Projekte wurde die Möglichkeit eingeschätzt, aus den Erfahrungen zu lernen. Die Kommunen haben zur Motivierung (weiterer) Träger und Kooperationspartner im Prozess immer wieder „auslösende Momente“ geschaffen, d. h. ihre Projekte„erlebbar“ gemacht - auch um weiteren Interessierten realistische Umsetzungsmöglichkeiten für das Feld der Jugendförderung aufzuzeigen. Organisatorisch waren die Projektgruppen im kommunalen Jugendamt ein unverzichtbares Gremium, um das Projekt erfolgreich umzusetzen. Sie haben sowohl für dialogische Räume (s. Kap. 2) gesorgt als auch verbindlich die Prozesse mit den Trägern auf der Umsetzungsebene koordiniert. Herausforderungen in der Implementierung inklusiver Praxen Basierend auf den Interviews mit den Fachkräften der Praxis lassen sich Spannungsfelder herausarbeiten, die sich im Projektverlauf als relevant erwiesen haben. In der Kooperation zwischen Jugendförderung und Behindertenhilfe sind diese sowohl auf konzeptioneller als auch auf struktureller Ebene zu verorten. Die inklusive Öffnung von Angeboten der Jugendförderung hatte zur Folge, dass Fachkräfte teils mit einer deutlich größeren Altersheterogenität in Angeboten konfrontiert waren. Dies ist für die Jugendförderung, die sich an Lebens- und Altersspannen und nicht an individuellen Diagnosen orientiert, problematisch. Auch die stärkere Präsenz von Erwachsenen, die in der Behindertenhilfe üblich ist, während die Jugendförderung oftmals bewusst als „elternfreie Zone“ angelegt ist, hat zu Diskussionsbedarf geführt. Darüber hinaus zeigten die unterschiedlichen Organisationsstrukturen von Jugendförderung und Behindertenhilfe (überregionale Struktur der Behindertenhilfe vs. sozialräumliche Struktur der Jugendförderung) Konsequenzen. Gemeinsame Freizeit konnte teils nur mit hohem logistischem Aufwand seitens der Institutionen realisiert werden. Insbesondere die Frage der Mobilität ist hier ein Faktor: Kinder und Jugendliche, die nicht im Sozialraum der Einrichtung wohnen - und dies betrifft insbesondere behinderte Kinder und Jugendliche - mussten mitunter große Distanzen überbrücken, um ein Angebot zu erreichen. Im Projekt war eine zentrale Frage, inwieweit sich die Jugendförderung, insb. die Offene Kinder- und Jugendarbeit, unter der Leitidee Inklusion verändert. Aus der Perspektive der Praxis lässt sich sagen, dass der Alltag von (offener) Kinder- und Jugendarbeit nach wie vor der zentrale Referenzpunkt blieb - egal welche Kinder und Jugendlichen kamen. Es ging den Fachkräften um die systematische Berück- 217 uj 5 | 2017 Inklusion in der Jugendförderung sichtigung inklusionsspezifischer Aspekte im Alltag der Jugendförderung. Dabei zeigte sich der institutionelle Rahmen (Zeitstrukturen, Gruppenstrukturen und -zusammensetzungen, Altersstrukturen in Einrichtungen oder Angeboten) für flexible Veränderungen durchaus geeignet. Die Dimension „Behinderung“ hatte aus Sicht der Projektbeteiligten eine primär situative Bedeutung: Eine Behinderung war nie allein ausschlaggebend dafür, ob ein Kind oder Jugendlicher bei einem Angebot mitmachen bzw. BesucherIn einer Einrichtung sein konnte oder nicht. Entscheidender war es zum einen, ob das Kind oder der bzw. die Jugendliche ein persönliches, inhaltliches Interesse am Thema (z. B. Tanzen) mitbrachte und zum anderen, inwieweit die Bedürfnisse und Interessen unterschiedlicher Kinder und Jugendlicher zusammengebracht werden konnten. Für die Fachkräfte war handlungsleitend, dass behinderte Kinder und Jugendliche in der offenen Kinder- und Jugendarbeit keine „Besonderung“ erfahren. Im Kontext von Inklusion werden oftmals, insbesondere wenn es um Kinder und Jugendliche mit Behinderungen geht, spezifische Kenntnisse und Wissen (z. B. über Formen von Behinderungen, Pflegerische Kenntnisse etc.) als notwendige Voraussetzung benannt, um inklusive Praxen gestalten zu können. Aus dem Projekt lassen sich hierzu unterschiedliche Positionen herausarbeiten. Fachkräfte benennen unterschiedliche Bedürfnisse zum Umfang an Wissen und zur Art von Wissen (z. B. Fachwissen zu Behinderungsformen, allgemeine Informationen zur sozialen Lage von Kindern und Jugendlichen und deren Familien), das als relevant eingeschätzt wird. Ihre Orientierung bewegt sich dabei zwischen der Notwendigkeit einer angemessenen Informationsbasis (um z. B. pflegerische oder medizinische Anforderungen adäquat zu erfüllen) und dem Versuch, einzelnen Kindern und Jugendlichen ohne vorgefertigte Bilder im Kopf zu begegnen. Im Verlauf des Projekts hat sich gezeigt, dass das zu Beginn als notwendig erachtete „Spezialwissen“ zu Behinderungen immer mehr in den Hintergrund rückte zugunsten von Erfahrungswissen und Vertrauen in die eigene Fachkompetenz in konkreten Situationen. Ein Thema, das in der Jugendarbeit zwar nicht neu ist, im Zusammenhang mit Inklusion aber neue Relevanz erhielt, war der Umgang mit Leistungsansprüchen und -erwartungen seitens der Kinder und Jugendlichen. Vor allem in sportlich oder künstlerisch ausgerichteten Angeboten standen die Fachkräfte vor der Herausforderung, einen Kompromiss zwischen dem Bedürfnis von Teilnehmenden zu finden, sich zu messen, Leistung zu erbringen und sich einem Wettbewerb auszusetzen und dem Wunsch nach einem Raum ohne Leistungserwartung. Der eigene Anspruch mancher Jugendlicher traf auf das (scheinbar) geringere Leistungsvermögen anderer Jugendlicher. Fachkräfte sahen sich einerseits auf- und herausgefordert, Jugendliche vor Leistungsdruck zu „schützen“. Andererseits befinden sie sich mit ihrer Einrichtung in einer Gesellschaft, in der Leistungsdruck und Wettbewerb unumgänglich sind. Für die Fachkräfte war es zentral wichtig, die Möglichkeit zu fachlichem Austausch über derlei pädagogische Fragestellungen zu haben. Empfehlungen Auf der Konzeptionsebene kann die Kinder- und Jugendförderung die ihr eigenen Strukturen und Handlungsprinzipien, ihr Profil und die vorhandene Expertise nutzen, um inklusive Settings zu gestalten. Auf struktureller Ebene sind sowohl politischer Wille und Rückhalt „von oben“, als auch Motivation und Engagement sowie die Einbeziehung und Beteiligung „von unten“ wichtige Rahmenbedingungen zur Verankerung von Inklusion. Dabei ist ein Steuerungsverständnis von zentraler Bedeutung, das fachliche Entwicklung durch Reflexion und Austausch in einem offenen und konstruktiven Dialog fördert. 218 uj 5 | 2017 Inklusion in der Jugendförderung Dies gilt auch und insbesondere für Netzwerkarbeit und Kooperation - amtsintern mit anderen Fachbereichen, aber auch mit anderen Institutionen oder Initiativen, bspw. der Behindertenhilfe - in denen so die je spezifischen Eigenlogiken und Systematiken berücksichtigt werden können. Die Planung und Umsetzung inklusiver Angebote ist für Träger ein zeitintensiver und langfristiger Prozess. Die Zugänge zu Angeboten, die Zusammenarbeit mit Eltern, Schulung und Weiterbildung von Fachkräften, der Umgang beispielsweise mit dem Thema Leistung und viele weitere der Jugendförderung schon immer bekannte Themen werden auf den Prüfstand gestellt und sind ggf. neu auszugestalten - ohne dabei jedoch beteiligten Personen zu überfordern oder die Jugendförderung ihres Profils zu berauben. Kinder- und Jugendförderung ist per se einer hohen Dynamik unterworfen und muss sich in ihren Angeboten und Settings immer flexibel auf die Bedürfnisse von AdressatInnen einstellen. Damit bietet sie - eine angemessene Personalausstattung vorausgesetzt - in besonderem Maße die Möglichkeit, situationsangemessen „Vielfalt“ und „anders sein“ offensiv zum Thema zu machen und zu gestalten. Judith Dubiski Anke Frey TH Köln, Fakultät 01 Forschungsschwerpunkt Nonformale Bildung Ubierring 48 50678 Köln Tel.: (02 21) 82 75 39 10 E-Mail: judith.dubiski@th-koeln.de Literatur Dannenbeck, C. (2014): Inklusive Kinder- und Jugendarbeit? Diskursbeobachtungen im Feld Sozialer Arbeit mit Kindern und Jugendlichen. In: deutsche jugend, 62. Jg., Heft 11/ 2014. Juventa, Weinheim, 487 - 492 Dannenbeck, C., Dorrance, C. (2014): Der Inklusionsdiskurs und die (Offene) Kinder- und Jugendarbeit. Vom Diskursanlass zur Reflexion von Vielfalt und Differenz. In: neue Praxis, Heft 2/ 2014. 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Standortbestimmung und Inklusionscheck. In: deutsche jugend, 62. Jg., Heft 11/ 2014. Verlag Beltz Juventa, Weinheim, 469 - 476