unsere jugend
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0342-5258
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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2017
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High-Speed-Jugendhilfe und unternehmerisches Handeln
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2017
Oliver Freesemann
Wie reagiert die Jugendhilfe auf die „Flüchtlingskrise“ und den massiven Anstieg der Zahl an unbegleiteten Minderjährigen? Und vor allem: Wie gehen freie Träger mit der Situation um? Wir reflektieren die Erfahrungen der vergangenen beiden Jahre und schlagen ein Phasenmodell vor, um diese Entwicklung analytisch zu fassen.
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428 unsere jugend, 69. Jg., S. 428 - 436 (2017) DOI 10.2378/ uj2017.art64d © Ernst Reinhardt Verlag München Basel High-Speed-Jugendhilfe und unternehmerisches Handeln Anforderungen an freie Träger und ihre MitarbeiterInnen Wie reagiert die Jugendhilfe auf die „Flüchtlingskrise“ und den massiven Anstieg der Zahl an unbegleiteten Minderjährigen? Und vor allem: Wie gehen freie Träger mit der Situation um? Wir reflektieren die Erfahrungen der vergangenen beiden Jahre und schlagen ein Phasenmodell vor, um diese Entwicklung analytisch zu fassen. von Oliver Freesemann Jg. 1960; Soziologe M. A., Geschäftsführer des Zentrums für individuelle Erziehungshilfen (ZEFIE), Karlsruhe Einleitung Durch den starken Zustrom an Flüchtlingen, insbesondere an unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen (UMF) sah sich die Jugendhilfe ab Herbst 2015 einer Krisensituation gegenüber, die ein schnelles Agieren erforderte. Gefragt waren hier Träger, die sich dieser Herausforderung stellten und dabei u. a. durch unkonventionelle Lösungen, neue Ansätze sowie fachfremde MitarbeiterInnen zeitnah neue Angebote realisierten. Gleichzeitig wurden neue gesetzliche Regelungen geschaffen: Zu nennen ist hier insbesondere § 42 a - f SGB VIII mit der vorläufigen Inobhutnahme (V-ION) und der Umverteilung junger Flüchtlinge zwischen den und innerhalb der Bundesländer sowie die Einführung der neuen Bezeichnung „unbegleitete minderjährige Ausländer“, die wir hier allerdings nicht verwenden. Diese Neuregelungen waren von den Trägern ebenfalls zu berücksichtigen und veränderten ihre Arbeit nachhaltig. Ein zentrales Merkmal dieser Phase stellt das hohe Tempo dar, mit dem Angebote aufgebaut werden mussten, um neu ankommende junge Flüchtlinge schnell aufzunehmen, zu versorgen und ihre Verteilung zu organisieren. Wir haben dafür die Bezeichnung „High-Speed-Jugendhilfe“ (Breithecker/ Freesemann 2016 a und b) gewählt. Neben und parallel zur Jugendhilfe und den etablierten freien Trägern entstand ein vielfältiges Angebot: die „Integrationsindustrie“ mit neuen und fachfremden Trägern, mit Security und Sprachschulen, mit Dolmetscherdiensten und Gastfamilien. Zugleich gab es einen erheblichen Dr. Renate Breithecker Jg. 1957; Dipl.-Soziologin, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Zentrum für individuelle Erziehungshilfen (ZEFIE), Karlsruhe 429 uj 10 | 2017 High-Speed-Jugendhilfe Druck, geeignetes Personal für diese zahlreichen Angebote und Dienste zu finden - kein ganz einfaches Unterfangen, zumal häufig nur befristete und prekäre Arbeitsverhältnisse angeboten werden konnten. Wir möchten hier zwei Aspekte dieser Entwicklung beleuchten: Zum einen die Anforderungen an freie Träger und deren unternehmerisches Handeln während und nach der„Flüchtlingskrise“; zum anderen die Situation der MitarbeiterInnen, die sich zunächst auf die High-Speed-Jugendhilfe einstellen und einlassen mussten, nun aber in den Normal-Modus zurückschalten und sich (wieder) an die Erfordernisse der alltäglichen pädagogischen Arbeit anpassen sollen. Wir tun dies vor dem Hintergrund unserer Erfahrungen und entwickeln ein Phasenmodell zur Analyse der Veränderungen und ihrer Konsequenzen für Träger der Jugendhilfe und ihren MitarbeiterInnen. Vor der Krise, in der Krise und nach der Krise: Das Phasenmodell Der deutliche Anstieg der Flüchtlingszahl ab Mitte 2015 tangierte - neben vielen anderen gesellschaftlichen Bereichen - auch die Soziale Arbeit: Sie sollte schnell neue Angebote schaffen und für eine möglichst reibungslose Aufnahme sorgen, die geflüchteten Menschen versorgen und bedarfsgerechte Hilfsangebote machen. Dies betraf in einem erheblichen Maß die öffentliche Jugendhilfe und die freien Träger, denn gerade die Zahl der jungen Flüchtlinge zeigte einen starken Anstieg, wie die nachfolgende Grafik verdeutlicht. Zugleich sind die Anforderungen an die Betreuung im KJHG gesetzlich geregelt: UMF müssen in Obhut genommen und entsprechend der Jugendhilfestandards betreut werden. Eine ähnliche Entwicklung zeigt sich auch bei ZEFIE, einem freien Träger der Jugendhilfe: Zunächst wurden Inobhutnahme-Plätze massiv aufgebaut, in Karlsruhe selbst gab es drei Gruppen mit insgesamt 57 Plätzen für V-ION. In der Hochphase des Flüchtlingszustroms wurden zusätzlich vorhandene Bereitschaftspflegefamilien aktiviert, sodass zeitweise knapp 100 Inobhutnahme-Plätze durch ZEFIE betrieben wurden. Schließlich nahm im Dezember 2015 auf dem Gelände des Patrick-Henry-Village, einem ehemaligen Wohnquartier der US-Streitkräfte in Heidelberg, das zum Registrierungszentrum umfunktioniert wurde, eine Gruppe zur V-ION ihre Arbeit auf. Diese Gruppe war für 30 UMF ausgelegt, schrumpfte im Laufe des Jahres und wurde am 23. 1. 2017 wieder geschlossen, weil kaum neue UMF in Baden-Württemberg an- 45.000 40.000 35.000 30.000 25.000 20.000 15.000 10.000 5.000 0 2009 2010 2011 2012 2013 2014 2015 2016 Asylerstanträge Inobhutnahmen Abb. 1: Inobhutnahmen und Asylerstanträge von UMF in Deutschland, Quelle: BAMF 2017, Daten zu Inobhutnahmen 2016 liegen noch nicht vor. 430 uj 10 | 2017 High-Speed-Jugendhilfe kommen. In kürzester Zeit erfolgte also ein massiver Aufbau von Plätzen zur Inobhutnahme, die bereits nach gut einem Jahr wieder abgebaut wurden. Heute haben wir noch 24 Plätze für V-ION in Karlsruhe, die aufgrund der Tatsache, dass sich hier eine Landeserstaufnahmeeinrichtung befindet, vermutlich auch bleiben werden. Diese Entwicklung belegt die folgende Grafik eindrucksvoll. Deutlich wird der massive Anstieg der Zugangszahlen in 2015, der sich 2016 merklich abflachte, auch wenn insgesamt mehr UMF aufgenommen wurden (491 zu 381 in 2015). Die Mehrheit der 2016 von ZEFIE neu aufgenommenen UMF waren V-ION nach § 42 a SGB VIII, sie machten 70,8 % aller Betreuungsfälle aus. Allerdings verlangsamte sich der Anstieg in der zweiten Jahreshälfte, wie die folgende Abbildung zeigt. Und da gleichzeitig die Mehrheit der UMF nach dem Abschluss der V-ION weitervermittelt bzw. umverteilt wurde, gingen die Belegungszahlen mit leichten Schwankungen, aber insgesamt doch recht kontinuierlich zurück. Parallel zum Rückbau findet ein Neuaufbau statt: Es werden neue Wohngruppen für UMF mit Bleiberecht gegründet. Und weil die Mehrheit der jungen Flüchtlinge bei der Erstaufnahme 16 oder 17 Jahre alt ist, sind mit wachsender Selbstständigkeit absehbar Angebote für junge Erwachsene zu schaffen - etwa betreutes Wohnen oder Jugendwohngemeinschaften. 500 450 400 350 300 250 200 150 100 50 0 2012 2013 2014 2015 2016 Abb. 2: Neuaufnahmen von UMF 2012 - 2016 Abb. 3: Neuaufnahmen - Kumulierte Werte 1000 900 800 700 600 500 400 300 200 100 0 2012 Feb. 14 Sept. 14 Nov. 14 Jan. 15 März 15 Mai 15 Juli 15 Sept. 15 Nov. 15 Jan. 16 März 16 Mai 16 Juli 16 Sept. 16 Nov. 16 Neuaufnahmen 2014 - 2016 431 uj 10 | 2017 High-Speed-Jugendhilfe Schon diese kurze Analyse macht deutlich, mit welch großen Herausforderungen sich die freien Träger in den vergangenen beiden Jahren konfrontiert sahen: Sie sollten schnell angemessene Angebote entwickeln und vorhalten, ohne genau zu wissen, wie lange diese Entwicklung anhalten würde. Die Umfeldbedingungen wurden zunehmend schwieriger - so stiegen die Preise auf dem Immobilienmarkt, die Ablehnung von Einrichtungen durch die Nachbarschaft wurde merklich größer, Personal war kaum zu finden, der Markt insbesondere für SozialpädagogInnen und SozialarbeiterInnen leergefegt. In diese Lücke sprangen fachfremde Träger - etwa große Einrichtungen der Behindertenhilfe und kommerzielle Anbieter (vgl. dazu Breithecker/ Freesemann 2016 a). Mit dem deutlichen Rückgang der Zuwanderung aufgrund der Schließung der Balkanroute, des EU-Türkei-Abkommens und des erschwerten Familiennachzugs hat sich die Lage erneut drastisch und mit hohem Tempo verändert. Jetzt gilt es, die für UMF geschaffenen Angebote zur Erstaufnahme und Versorgung genauso schnell wieder „zurückzubauen“, also zu schließen, oder sie in andere Angebote umzuwandeln. Diese Entwicklung kann als Phasenmodell beschrieben werden, das sowohl die Träger als auch ihre MitarbeiterInnen betrifft. Sie sehen sich wandelnden Herausforderungen und Ansprüchen gegenüber und haben entsprechend hohe Anpassungsleistungen zu erbringen. Diese Phasen möchten wir nun genauer betrachten. a. Die Powerphase: High Speed, Expansion und Zeit der Pioniere In der Krisensituation mit drastisch steigenden Flüchtlingszahlen werden freie Träger zu High- Speed-Unternehmen, anstelle des ruhigen Arbeitens in geordneten und bekannten Bahnen mit nur kleinen Veränderungen treten nun rasante Entwicklungen und Entscheidungen unter hoher Unsicherheit: Die Geschäftsführung kann sich unter diesen Bedingungen als PionierIn, als tatkräftige Macherin und kreative GestalterIn betätigen und so einen neuen Ruf begründen, aber auch die eigenen Potenziale zur Geltung bringen und die neuen Chancen für das Unternehmen und seine Beschäftigten nutzen. Dass so gutes Geld zu verdienen war und ist, stellt einen willkommenen Nebeneffekt dar, der aber auch „verkraftet“ und als kurzfristiges Ereignis eingeordnet werden muss. Diese erste Phase ist durch Neugründungen, den Aufbau innovativer Angebote und ein vergleichsweise hohes Wachstum geprägt. Da für alle genug (Geld, Arbeit und UMF) da ist, neue wie etablierte Träger ausreichend zu tun haben, treten zunächst bestehende oder potenzielle Rivalitäten in den Hintergrund - allenfalls um geeignete MitarbeiterInnen konkurriert man. Und hier liegt auch eines der Risiken des Unternehmers: Klappt es mit den zahlreich neu eingestellten MitarbeiterInnen? Gelingt die Teambildung, werden die Aufgaben gemeistert? Das passende Motto für diese Powerphase liefert Angela Merkel: „Wir schaffen das! “ Alle legen los, sind gefordert, um die Gruppen einzurichten, den Alltag zu organisieren, neue Netzwerke aufzubauen, die Abläufe und gesetzlichen Neuregelungen zu verstehen und umzusetzen etc. Die Anforderungen sind nicht so hoch, man schaut nicht so genau hin - Hauptsache die jungen Flüchtlinge sind versorgt. Und versorgt werden sie von MitarbeiterInnen, die in dieser Phase im Spannungsfeld zwischen schneller Eingreiftruppe und pädagogischem Handeln agieren müssen. Dazu brauchen sie ganz bestimmte, vom professionellen Arbeitsalltag abweichende Qualifikationen. Sie sollten entscheidungsfreudig sein und Spaß am Aufbau von Einrichtungen bzw. Wohngruppen haben. Es geht dabei auch um ganz praktische Dinge - etwa den Einkauf und das Zusammenschrauben von Möbeln oder die Gestaltung der Räume. Sie müssen oft in einer Umgebung ar- 432 uj 10 | 2017 High-Speed-Jugendhilfe beiten, die noch nicht „richtig“ ausgestattet ist, Improvisieren ist das Zauberwort. Denn viele Arbeitsabläufe sind überhaupt noch nicht organisiert und müssen selbstständig entwickelt werden. Sicher ist eine pädagogische Qualifikation in dieser ersten Phase nicht schlecht, gefragt sind aber MitarbeiterInnen mit Improvisations- und Organisationstalent, die in unfertigen und hochdynamischen Umgebungen zurechtkommen. Eine weitere neue Anforderung resultiert aus dem Tempo, in dem die jungen Flüchtlinge versorgt und weitervermittelt werden sollen. Wenn es schnell gehen muss, dann spielt eine gute Verständigung eine große Rolle. Vor diesem Hintergrund hat ZEFIE auf muttersprachliche ErziehungshelferInnen gesetzt und damit hervorragende Erfahrungen gemacht. In unfertigen, teilweise chaotischen Umgebungen finden sie sich oftmals besser zurecht als gut ausgebildete SozialarbeiterInnen, die auf jeden Fall einen entscheidenden Mangel haben: Sie können mit den Jugendlichen nicht kommunizieren. Das wiederum ist wichtig, um möglichst schnell einen Zugang zu den UMF zu bekommen, ihnen den Alltag und die weiteren Abläufe zu erklären. Ein grundlegendes Merkmal der Expansionsphase ist, dass (fast) alle MitarbeiterInnen und das Arbeitsfeld gleichermaßen neu sind: Die KollegInnen werden neu eingestellt, die ersten Flüchtlinge aufgenommen und parallel die Räume eingerichtet. Alles scheint gleichzeitig zu passieren. Was genau zu tun ist, wie die Abläufe zu gestalten sind, das alles muss sich erst noch entwickeln. Auch erfahrene MitarbeiterInnen müssen sich neu orientieren, denn gerade mit der V-ION werden andere Rahmenbedingungen und Ziele definiert. Vor dem Hintergrund der Krise und deren Bewältigung sind die Anforderungen an die pädagogische Kompetenz zunächst nicht so hoch - es geht vor allem ums „Machen“. Was passiert in dieser Phase in der Gruppe? Das Team muss sich finden, die KollegInnen müssen sich kennenlernen. In der Powerphase spielen Hierarchien keine große Rolle - sowohl innerhalb der Gruppe als auch beim Träger. Schließlich ist die Kontrolle von außen zunächst weniger stark. Es gibt einen Vertrauensvorschuss und vor dem Hintergrund der Krisensituation gilt: Solange es nicht offensichtlich schiefläuft, geht es gut. Zentrale Merkmale der Powerphase sind also: Es fehlen Strukturen, die Anforderungen sind oft unklar und an der Umsetzung wird noch „gebastelt“. Die Arbeit stellt für Leitungsebene, MitarbeiterInnen und KlientInnen gleichermaßen etwas Neues dar, aber alle packen mit an. Dabei werden sie von außen weniger stark kontrolliert und eher wohlwollend begleitet. b. Die Konsolidierungsphase: Verstetigung, Reflexion und Bürokratisierung Nach dieser ersten, fast rauschhaften Phase und dem langsamen Rückgang der Neuzugänge setzt die Konsolidierungsphase ein: Es geht nicht mehr darum, möglichst schnell neue Angebote aufzubauen, sondern die Bestehenden etwas genauer unter die Lupe zu nehmen: Wie läuft es? Sind die Angebote angemessen, ist die Qualität gut, wo könnte etwas verbessert werden? Man schaut genauer hin, Quantität zählt weniger, Fragen zum pädagogischen Anspruch und zur Qualität der Angebote rücken wieder ins Zentrum. So steht nicht länger die Grundversorgung der UMF im Mittelpunkt, sondern ihre pädagogisch gute Betreuung. Damit steigen die Anforderungen an Träger wie an MitarbeiterInnen, denn ihre Arbeit gerät in den Fokus und wird wieder genauer geprüft. Es ist zugleich die Zeit, sich dem Alltag zu widmen, die Bürokratie hält wieder Einzug - etwa Fragen der Betriebserlaubnis, die in der Krisensituation gelegentlich übersehen wurden. Jetzt geht es verstärkt um die Durchsetzung bürokratischer Vorgaben, die Kontrolle von außen kann ebenfalls zunehmen. Auch wenn es auf den ersten Blick so scheint, als ob nun alles in ruhigere Fahrwasser übergeht, sind die Anforderungen doch nicht wirk- 433 uj 10 | 2017 High-Speed-Jugendhilfe lich geringer. Diese Phase könnte man unter das Motto stellen: „Die Mühen des Alltags und die Mühlen der Bürokratie“ setzen wieder ein. Zudem eröffnet die Veralltäglichung, die entstehende Routine die Möglichkeit der Reflexion: Was machen wir hier eigentlich? Werden wir den Ansprüchen gerecht? Wo muss nachjustiert, wo sollten gesetzliche Regelungen zurückgenommen oder an die festgestellten Bedarfe angepasst werden? In der Konsolidierungsphase haben sich die Abläufe stabilisiert, sind die Prozesse etabliert: Die MitarbeiterInnen können etwas durchatmen, ihre bisherige Arbeit reflektieren und ihre Leistung einschätzen. Sie können auf dieser Grundlage eine erste Bilanz ziehen und gemeinsam das Angebot weiterentwickeln. Gleichzeitig kommen die Hierarchien wieder stärker zum Tragen - es gibt verschiedene Ebenen, eventuell werden die Positionen neu gemischt. Das erfordert eine andere Einstellung und es braucht nun andere berufliche Fähigkeiten: Die Arbeit verstetigt sich, es passiert nicht ständig etwas Neues, vielmehr beginnen die „Mühen des Alltags“. Auf der Grundlage der veränderten Anforderungen an MitarbeiterInnen gilt es nun zu prüfen, wer dauerhaft beim Träger bleibt und wer auf lange Sicht nicht passt, wer für die „pädagogische Alltagsarbeit“ gut qualifiziert ist und wer nicht. Im Mittelpunkt steht nicht länger die Gewinnung neuen Personals, sondern die Personalentwicklung - etwa durch Angebote zur Qualifizierung für ErziehungshelferInnen, um ihnen eine neue berufliche Perspektive zu eröffnen. Und damit die Frage: Welche Qualifikationen, welche Fähigkeiten benötigen MitarbeiterInnen in der nächsten Zeit? Das setzt wiederum eine Antwort auf die Frage voraus, welche Aufgaben auf sie zukommen. Dies zu erkunden ist eine zentrale Aufgabe von sozialen Unternehmen in der Konsolidierungsphase: Das Wachstum ist bis auf Weiteres, bis zur nächsten Krise, vorüber, nun gilt es die Angebote oder doch einen Teil der Angebote zu verstetigen. Die Träger müssen schauen, was sie aufgebaut haben, was sie davon auf Dauer halten können, wo sie Abstriche machen und Schließungen vornehmen müssen. Perspektivisch werden vermutlich deutlich weniger V-ION-Plätze benötigt, dagegen sind Wohngruppen für junge Flüchtlinge sehr gefragt. So wurde z. B. von ZEFIE in Heidelberg Anfang des Jahres die V-ION-Gruppe geschlossen und zeitgleich eine neue Wohngruppe eröffnet. Ähnlich wurden in Karlsruhe zwei große V-ION-Gruppen aufgelöst und eine neue, deutlich kleinere an anderer Stelle eröffnet. Die alten und die neuen Gruppen unterscheiden sich nicht nur in ihrer Größe, auch andere Jugendhilfe-Standards wurden in den alten Gruppen nicht erfüllt, dies können sich die neuen Gruppen nicht mehr leisten. Für die Träger geht es also wesentlich um eine realistische Einschätzung, welche Angebote in welchem Umfang dauerhaft überleben werden, welche eher wenige Chancen haben. Und um eine geschickte Personalpolitik, denn die Anpassung an neue Entwicklungen tangiert natürlich auch die MitarbeiterInnen. Nun sind nicht länger Improvisations- und Organisationstalente gefragt, pädagogische Qualifikation und Berufsabschlüsse gewinnen wieder an Bedeutung. Und es steht die Frage im Raum, ob MitarbeiterInnen im Alltag ankommen, die notwendige Routine entwickeln und bereit sind, auch andere Aufgaben zu übernehmen. Die Vermutung liegt nahe, dass nicht alle MitarbeiterInnen in allen Feldern der Jugendhilfe arbeiten können und schon gar nicht wollen. Was passiert aber mit denjenigen, die sich speziell für die Flüchtlingsarbeit beworben haben, sich in einem hoch dynamischen Umfeld, in der Projektarbeit wohlfühlen und selbstständiges Arbeiten bevorzugen? Die erforderliche Anpassung an Routinen und Standards wird nicht allen leichtfallen. Das sich schnell wandelnde Unternehmen muss hier den MitarbeiterInnen einiges abverlangen und sich gegebenenfalls von einigen trennen. 434 uj 10 | 2017 High-Speed-Jugendhilfe In der Konsolidierungsphase setzt eine Normalisierung ein, entsprechend gewinnen bürokratische und pädagogische Anforderungen und Qualitätsstandards wieder an Bedeutung, das Improvisieren hat ein Ende, Routinen etablieren sich. Für die MitarbeiterInnen ergeben sich neue (alte) Anforderungen - etwa an die berufliche Qualifikation, die Arbeit in Hierarchien oder in einem neuen Betreuungssetting. Für die sozialen Unternehmen stellen sich zwei zentrale Aufgaben: Die Organisation insgesamt in „ruhigere Fahrwasser“ zu überführen und die MitarbeiterInnen auf diese Veränderungen einzustellen, sie auf dem Weg in die Verstetigung und Veralltäglichung der Arbeit mitzunehmen. c. Die Rückbauphase: Schließungsprozesse, Zerstörung des Geschaffenen und Neuausrichtung Gehen die Zugangszahlen weiter zurück und können auch durch die langfristige Betreuung von UMF nicht ausgeglichen werden, dann werden absehbar Schließungen auf Trägerebene erforderlich. Diese Rückbauphase scheint aktuell erreicht: Vieles steht jetzt zur Disposition - etwa das zentrale Registrierungszentrum in Heidelberg insgesamt und damit auch die dort eingerichteten Gruppen zur vorläufigen Inobhutnahme von UMF, große Gruppen in Städten mit Erstaufnahmeeinrichtungen ebenso wie Wohngruppen, die aufgrund der bundesweiten Umverteilung nicht mehr überall gefüllt werden können - ganz unabhängig von der Qualität der Angebote (vgl. B-UMF 2016). Die Abbildung 4 macht deutlich, mit welchen Schwankungen freie Träger in der Krisensituation umgehen mussten - eine Anforderung, die sie aus ihrem Alltag vor der Krise nicht kannten. Dominierten zunächst die Neuaufnahmen und die Eröffnung immer neuer V-ION-Gruppen, wandelt sich die Situation seit März 2016 - nun überschreitet die Zahl der Abgänge meist die der Aufnahmen. Darauf können Träger - wie oben beschrieben - zunächst noch mit einer „Umschichtung“ reagieren: An die Stelle von V-ION Gruppen treten Wohngruppen oder Jugendwohngemeinschaften, zusätzlich werden ambulante Angebote zur Betreuung von jungen volljährigen Flüchtlingen geschaffen. Für einige Zeit können Überkapazitäten durch das zuständige Jugendamt (teil-)finanziert werden, denn die globalen politischen Entwicklungen sind derzeit instabil und damit die Flüchtlingsbewegungen nur sehr schwer zu prognostizieren. Daher ist es sinnvoll, einige Einrichtungen aufrechtzuerhalten, auch wenn 70 60 50 40 30 20 10 0 Jan. 15 März 15 Mai 15 Juli 15 Sept. 15 Nov. 15 Jan. 16 März 16 Mai 16 Juli 16 Sept. 16 Nov. 16 Aufnahmen Abgänge Abb. 4: Zu- und Abgänge beim freien Träger ZEFIE im Zeitraum 2015 - 2016 435 uj 10 | 2017 High-Speed-Jugendhilfe sie deutlich unterbelegt sind. Kommen aber absehbar weniger UMF, pendelt sich ihre Zahl dauerhaft auf dem alten Niveau ein, dann ist ein Schrumpfungsprozess unvermeidlich. Die Frage ist: Wen wird er treffen? Die alten, etablierten Träger, die neuen, auf UMF spezialisierten, risikobereiten und flexiblen Träger oder die Quereinsteiger etwa aus der Behindertenhilfe? Sicher ist: Wenn der Markt kleiner wird, setzen Schließungsprozesse ein und die Konkurrenz, die in der Powerphase quasi nicht mehr existent war, nimmt wieder zu. Wer sich durchsetzen wird, welche Einrichtungen überleben werden, hängt von vielen Faktoren ab - etwa der Vernetzung, dem Vertrauen in die Arbeit, der Qualität der Angebote und dem Standort. Die Konkurrenz und die drohende Schließung von Gruppen sollte bei den sozialen Unternehmen und ihren Geschäftsführungen jedenfalls zu Überlegungen führen, welche alternativen Angebote sie etablieren könnten. Ähnlich wie Schumpeter (2005) dies für die Wirtschaft beschreibt, sind „schöpferische, einfallsreiche Unternehmer“ gefragt, die mit neuen Ideen und mit neuen Methoden nicht nur den Fortbestand ihres (sozialen) Unternehmens sichern, sondern auch sinnvolle und bedarfsgerechte Angebote für ihre KlientInnen entwickeln. In der Rückbauphase sind also soziale Unternehmer gefragt, die die Schließungsprozesse nicht nur meistern, sondern aktiv angehen im Sinne einer „schöpferischen Zerstörung“, die diese Entwicklung frühzeitig antizipieren und parallel zum Rückbau an der Entwicklung neuer Angebote arbeiten, um Perspektiven für das Unternehmen und seine MitarbeiterInnen zu schaffen. Gerade im Hinblick auf die Personalentwicklung ist dies eine äußerst kritische Phase: Wie kann der Träger gut ausgebildete MitarbeiterInnen halten? Denn der Rückbau von Angeboten bedeutet auch eine Reduzierung des Personals - oder kann dies bedeuten, wenn nicht zugleich neue Beschäftigungsmöglichkeiten in neuen Projekten geschaffen werden. Dies ist nicht immer zeitlich aufeinander abgestimmt zu realisieren, aber selbst bei guter zeitlicher Passung sind Entlassungen nicht durchgängig zu vermeiden. Die Schrumpfungsphase stellt daher für MitarbeiterInnen ein bedrohliches Szenarium dar: Sie müssen um ihre Stellen fürchten, denn neue Angebote brauchen häufig anders qualifizierte MitarbeiterInnen, setzten bestimmte Fähigkeiten und Kompetenzen voraus. Entsprechend müssen sie davon überzeugt werden, dass die neuen Aufgaben lohnend sind, dass der Erwerb von notwendigen Zusatzqualifikationen ermöglicht und Fortbildungen gewährt werden. Dies wird nicht immer gelingen: Vielfach kann man gerade bei jungen SozialpädagogInnen eine geringe Flexibilität beobachten - sie möchten nur in einem eng begrenzten Gebiet, mit einer bestimmten Klientel arbeiten und schlagen andere Angebote aus. Für freie Träger und ihre Geschäftsführungen ergeben sich in der Rückbauphase zahlreiche Anforderungen, die sie bewältigen müssen, um erfolgreich fortzubestehen. Diese betreffen das Personalmanagement und die Gestaltung der Arbeitsverhältnisse, die Anmietung und/ oder den Kauf von Immobilien, die Investition in die Ausstattung und den Aufbau einer geeigneten Verwaltungsstruktur. Vor allem aber müssen sie das kreative Potenzial ihrer MitarbeiterInnen fördern, Innovationen positiv gegenüberstehen und bereit sein, auch Bewährtes aufzugeben. Und wenn die nächste Krise kommt? Die Erfahrung in ganz unterschiedlichen Bereichen - so auch in der Flüchtlingsarbeit - zeigt: Vieles wiederholt sich, Entwicklungen verlaufen in Zyklen. Nicht selten folgt auf einen - mehr oder weniger radikalen - Rückbau ein neuer, manchmal ganz unverhoffter Anstieg. So wird für den Asylbereich die nächste Krise schon vorhergesagt und vor allzu radikalen 436 uj 10 | 2017 High-Speed-Jugendhilfe Schrumpfungsprozessen gewarnt. Auch dies müssen soziale Unternehmer in ihrem Handeln und in ihren Entscheidungen berücksichtigen und bereit sein, hohe Risiken einzugehen. Gute Voraussetzungen für eine gelungene Anpassung bieten flexible, „atmende“ Organisationen, die vorausschauend handeln und schon in der Expansionsphase den Rückbau mitdenken. Oliver Freesemann Dr. Renate Breithecker ZEFIE - Zentrum für individuelle Erziehungshilfen Ochsentorstraße 19 76227 Karlsruhe E-Mail: oliver.freesemann@zefie.de renate-breithecker@t-online.de www.zefie.de Literatur Breithecker, R., Freesemann, O. (2016 a): (Wie) Funktioniert High-Speed-Jugendhilfe? Das Jugendamt 10, 466 - 470 Breithecker, R., Freesemann, O. (2016 b): Junge Flüchtlinge in der High-Speed-Jugendhilfe. Das Jugendamt 11, 526 - 531 Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) (2017): Das Bundesamt in Zahlen. In: www.bamf.de/ SharedDocs/ Anlagen/ DE/ Downloads/ Infothek/ Asyl/ um-zahlen-entwicklung.pdf? __blob=publicationFile, 19. 4. 2017 Bundesfachverband unbegleitete minderjährige Flüchtlinge (B-umF 2016): Die Aufnahmesituation unbegleiteter minderjähriger Flüchtlinge in Deutschland. Erste Evaluation zur Umsetzung des Umverteilungsgesetzes. In: www.b-umf.de/ images/ aufnahmesituation_umf_2016.pdf, 19. 4. 2017 Bundesfachverband unbegleitete minderjährige Flüchtlinge (B-umF 2015): Kritik an der Bezeichnung „unbegleitete minderjährige Ausländer_in“. In: www.b-umf.de/ images/ Kritik_Begriff_umA.pdf, 19. 4. 2017 Gravelmann, R. (2016): Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge in der Kinder- und Jugendhilfe, Orientierung für die praktische Arbeit. Ernst Reinhardt Verlag, München/ Basel Schumpeter, J. A. (2005): Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie, 8. Aufl. UTB, Stuttgart
