eJournals unsere jugend 69/10

unsere jugend
4
0342-5258
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
101
2017
6910

Was benötigen leibliche Eltern in Pflegeverhältnissen?

101
2017
Andreas Gut
Was benötigen (leibliche) Eltern in der Pflegekinderhilfe von den Fach- und Beratungsdiensten, um im Hilfeprozess konstruktiv mitwirken zu können? Qualitative Interviews mit Eltern zeigen, dass nicht nur die Wahrnehmung ihrer Bedürfnisse durch die Beratungsstellen, sondern auch die Anerkennung als Eltern sowie die Möglichkeit zur Partizipation entscheidende Faktoren darstellen.
4_069_2017_010_0437
437 unsere jugend, 69. Jg., S. 437 - 444 (2017) DOI 10.2378/ uj2017.art65d © Ernst Reinhardt Verlag München Basel von Dr. Andreas Gut Jg. 1966; Diplom-Sozialpädagoge, seit 2007 in der Vermittlung und Beratung von Erziehungsstellen bei den Martin-Bonhoeffer- Häusern in Tübingen Was benötigen leibliche Eltern in Pflegeverhältnissen? Ergebnisse einer qualitativen Studie im Rahmen eines Qualitätsentwicklungsprozesses Was benötigen (leibliche) Eltern in der Pflegekinderhilfe von den Fach- und Beratungsdiensten, um im Hilfeprozess konstruktiv mitwirken zu können? Qualitative Interviews mit Eltern zeigen, dass nicht nur die Wahrnehmung ihrer Bedürfnisse durch die Beratungsstellen, sondern auch die Anerkennung als Eltern sowie die Möglichkeit zur Partizipation entscheidende Faktoren darstellen. Hintergrund Pflegekinderdienste der Jugendämter und Beratungsdienste freier Träger haben in der Pflegekinderhilfe vielfältige Funktionen. Neben der Beratung der Pflegefamilien oder Erziehungsstellen pflegen die Fachdienste Kontakt zu Schulen oder Kindergärten, stehen in Verbindung mit Therapeuten und Ärzten und gelten als Ansprechpartner für die leiblichen Eltern. Deren Rolle im System der Hilfe ist nach wie vor unter Fachleuten aus Theorie und Praxis umstritten. Während auf der einen Seite Positionen vertreten werden, welche den leiblichen Eltern tendenziell ein Minimum an Kontakt, Mitsprache und Beteiligung zugestehen und Pflegefamilien als Ersatzfamilien verstehen (Nienstedt/ Westermann 2007; Westermann 2004), stehen auf der anderen Seite Einschätzungen, die einen intensiven Einbezug der Eltern bis hin zur Erziehungspartnerschaft (Faltermeier 2015; 2009) fordern und Pflegefamilien als Ergänzungsfamilien verstehen (Permien 1987). Da sich der Einzelfall in der Regel zwischen diesen beiden Polen bewegt, ist es sinnvoll, statt einer Diskussion über das richtige Modell hilfreiche Faktoren zu erarbeiten, welche die Kooperation der Beratungsdienste mit den leiblichen Eltern unterstützen und eine dynamische Entwicklung zum Wohle des Kindes ermöglichen. Der Vermittlungs- und Beratungsdienst für Erziehungsstellen bei den Martin-Bonhoeffer- Häusern in Tübingen setzte sich in den vergangenen zwei Jahren intensiv mit dem Thema Elternarbeit auseinander. Elternarbeit wurde einerseits häufig aus fachlichen, persönlichen oder ökonomischen Gründen stiefmütterlich behandelt. Andererseits konnte eine intensive Beschäftigung mit den Eltern zu einer Erleichterung der Arbeit und einer Entlastung der 438 uj 10 | 2017 Leibliche Eltern in Pflegeverhältnissen Pflegekinder und Pflegefamilien führen. Aufgrund dieser Erfahrungen wurde mit dem Ziel einer gründlichen konzeptionellen Ausgestaltung der Elternarbeit ein längerfristiger Qualitätsentwicklungsprozess angestoßen. In diesen wurde - neben den Perspektiven der BeraterInnen, Pflegeeltern, Pflegekinder und externer ExpertInnen - die Sichtweise der leiblichen Eltern miteinbezogen. Mithilfe von teilstrukturierten Interviews mit Eltern wollten wir erfahren, wie diese die Begleitung durch den Beratungsdienst empfinden und welche Faktoren sie als hilfreich bzw. belastend ansehen. Hierzu haben wir insgesamt sieben Eltern durch eine fallunabhängige Fachkraft interviewen lassen und die Gesprächsprotokolle und Transkripte anschließend vor dem Hintergrund der jeweiligen Fallgeschichte inhaltsanalytisch (Mayring 2010) ausgewertet. Um ein möglichst gehaltvolles Ergebnis zu erhalten, haben wir Eltern ausgewählt, deren Kinder schon längere Zeit in einer Erziehungsstelle leben und mit denen die Zusammenarbeit aus Beratersicht zeitweise sehr kritisch war. Nicht berücksichtigt haben wir Eltern, die zum Zeitpunkt der Erhebung um die Rückkehr ihrer Kinder gekämpft haben. Dies erschien uns aus arbeitsethischer Sicht nicht angebracht, da wir die Fallverläufe nicht unnötig belasten wollten. Die Ergebnisse unserer Studie sind deshalb auch nicht repräsentativ. Sie geben uns aber einen tieferen Einblick in die Perspektive der Eltern und liefern uns interessante Anstöße zu einer weiteren Professionalisierung unserer Arbeit. Ergebnisse Eltern benötigen Menschen, die statt ihres Versagens ihre Hilfebedürftigkeit in den Blick nehmen. Um das Wohl der Kinder und die Gestaltung alternativer Lebensbedingungen in einer Pflegefamilie in den Vordergrund zu rücken, richtet sich der fachliche Blick auf die Eltern häufig zunächst auf deren defizitär ausgefüllte Elternrolle, die eine Hilfe zur Erziehung in Form einer Fremdunterbringung hat notwendig werden lassen. Für eine gute Kooperation zwischen Fachdiensten und Eltern ist es wichtig, diese Perspektive zu erweitern und die Eltern als (Mit-)Adressaten der Hilfe zur Erziehung in ihrer eigenen Hilfebedürftigkeit und mit ihren eigenen Leidensgeschichten wahrzunehmen. Die Furcht davor, als Eltern nur noch in der Versagerrolle gesehen zu werden, beschreibt die Mutter eines 11-jährigen Jungen, der nach langjähriger Begleitung durch eine Sozialpädagogische Familienhilfe und einer vorangegangenen abgebrochenen Unterbringung in einer Pflegefamilie seit zwei Jahren in einer Erziehungsstelle lebt. Sie sei kurz davor gewesen, ihre Zustimmung zu einer Unterbringung in einer Erziehungsstelle zurückzunehmen, sei aber dann positiv überrascht worden. „Die Frau V. [Fachberaterin] hat mich dann gar nicht als Rabenmutter behandelt, sondern als Mensch. Die hat gesehen, dass ich Hilfe brauche. Mit Marvin, weil der mir immer auf der Nase rumtanzt. Und ich das nicht schaffe. Und dass ich will, dass Marvin in eine Familie kommt, die Ahnung hat. Mit pädagogischer Ausbildung und so. Die ihm auch Grenzen zeigen kann. Ich kann das nicht. Und es ging dann vor allem um Marvin. Und wie man Marvin helfen kann. Und nicht um das, was ich falsch gemacht habe.“ Das Beispiel zeigt, wie wichtig es ist, Eltern als hilfebedürftige Menschen wahrzunehmen, welche trotz ihrer Bemühungen um die Erziehung ihrer Kinder an persönliche Grenzen gekommen sind. Dies verhindert eine weitere Verstärkung der Versagensgefühle und ermöglicht ein Vertrauen in die Qualitäten der Pflegefamilie. Eltern benötigen die Beachtung ihrer leiblichen, seelischen und sozialen Bedürfnisse. 439 uj 10 | 2017 Leibliche Eltern in Pflegeverhältnissen Das mit der Fremdunterbringung des eigenen Kindes verbundene Leid sowie die damit zusammenhängende eigene Bedürftigkeit drücken sich in einer seelischen, einer körperlichen und einer sozialen Dimension aus. Beispielhaft für die seelische Dimension steht die Aussage einer Mutter, deren Kinder seit zehn Jahren in einer Erziehungsstelle leben und zu denen sie in Abständen von acht Wochen einen begleiteten Umgang pflegt. Sie schildert den Unterschied zwischen zwei von ihr erlebten Beratern: „Die Frau M. [die erste Beraterin] war super. Die hat viel mit uns unternommen. Und dann hat sie mich immer gefragt - am Telefon und so - wie es mir geht. Und nach den Treffen dann hat sie immer gefragt, wie ich das Treffen erlebt habe. Wie es mir jetzt geht.“ Etwas später im Gespräch erwähnt sie den Kontrast zu ihrem zweiten Berater: „Mit Herrn W. war das nicht gut. Da hab ich mich gefühlt: ‚Friss oder stirb‘. Der hat mir am Telefon immer nur kurze Infos gegeben über den Termin. Und ich konnte dann nix mehr fragen. Und der hat auch nicht gefragt, wie es mir geht. Ich hab mir immer gewünscht, dass er mal nachfragt, wie es mir nach dem Umgang geht.“ Die körperliche Dimension betont ein Vater von Zwillingen im Vorschulalter, der den größten Teil seines Tages auf der Straße verbringt. Er ist vom Alkohol abhängig, versucht aber, die dreiwöchentlich stattfindenden und vom Fachdienst begleiteten Besuchskontakte nüchtern zu bestehen. Nach verlorenem Kampf um das Sorgerecht hat er sich mit der Unterbringung seiner Kinder in einer Erziehungsstelle arrangiert. Als er im Interview auf die Treffen mit seinen Kindern zu sprechen kommt, hebt er mehrmals die leibliche Versorgung durch den Fachdienst hervor: „Die Zwillinge kommen hierher mit Hans [dem Pflegevater] und das läuft richtig gut. Die Frau T. [die Fachberaterin] kümmert sich darum, dass es hier schön ist. Meistens gibt es dann Frühstück. Oder mittags gibt es auch mal Kuchen. Ja, es gibt jedes Mal etwas zu essen oder zu trinken.“ Die soziale Dimension der Bedürftigkeit ist für eine Mutter, deren einzige Tochter seit sieben Jahren in einer Erziehungsstelle lebt, von besonderer Bedeutung. Sie erzählt, wie sie sich mit ihrem Schmerz um den Verlust ihrer Mutterschaft anfangs alleingelassen fühlte: „Nur manchmal hätte ich mir anfangs etwas mehr gewünscht. Vielleicht mal Ausheulen. Man frisst die Gefühle halt in sich hinein. Jemand zum Reden haben. Grad so am Anfang. Das wäre gut. Aber zum Glück gibt’s ja auch noch Freundinnen.“ Die Aussagen dieser Eltern weisen uns als FachberaterInnen darauf hin, dass Mütter und Väter ein Gegenüber benötigen, welches das durch die Herausnahme des Kindes erfahrene Leid anerkennt und auf die damit zusammenhängende seelische, leibliche und soziale Bedürftigkeit eingeht. Dies kann geschehen, indem Beratungsdienste für ausreichende Gesprächsangebote mit den Eltern sorgen, im direkten Kontakt mit Eltern (z. B. während der Umgangskontakte) bewusst auch das leibliche Wohl im Blick behalten und Räume schaffen, in denen Eltern sich begegnen können und ihr Leid miteinander teilen können. Eltern benötigen eine positive Anerkennung ihrer Elternschaft und eine aktivierende Unterstützung ihrer elterlichen Kompetenz. Auch bei dauerhafter Fremdunterbringung behalten Eltern einen Teil ihrer Elternschaft bei. Dies kann einerseits ein Anlass zur Verzweiflung sein - dann nämlich, wenn es keine Gelegenheiten gibt, diese Elternanteile zu leben. Andererseits aber birgt dies auch große Chancen - dann nämlich, wenn durch eine aktivierende Begleitung elterliche Kompetenzen gestärkt werden und damit die verbleibenden Teile der Elternschaft positiv gelebt werden können. 440 uj 10 | 2017 Leibliche Eltern in Pflegeverhältnissen Das folgende Beispiel zeigt, wie eine Mutter mit der zuständigen Fachberaterin anfangs um einen verbleibenden Rest ihrer Elternschaft kämpft und später mit ihrer Hilfe eine Zunahme elterlicher Kompetenz und Handlungsfähigkeit erreicht. Diese Mutter musste acht Jahre zuvor ihre damals neunjährige Tochter Lara aufgrund massiver Überforderung und drohender Kindeswohlgefährdung in eine Erziehungsstelle geben. Seitdem sieht sie ihre Tochter im Abstand von etwa sechs Wochen, anfangs vom Fachdienst begleitet, seit einigen Jahren unbegleitet und mit Übernachtungsbesuchen. Im Interview berichtet die Mutter, dass sie aus heutiger Sicht sehr zufrieden ist mit der Begleitung durch die Fachberaterin Frau M., ebenso auch mit der Entwicklung ihrer Tochter und mit der Zusammenarbeit mit der Erziehungsstelle. Sie fühle sich ernst genommen, beteiligt und gut informiert. Die begleiteten Umgänge seien abwechslungsreich und unkompliziert gewesen. Es gab jedoch auch Konfliktpunkte: „Nur einmal gab es Meinungsverschiedenheiten, ungefähr nach eineinhalb Jahren; da hat Frau M. gemeint, sie müsse Mutter spielen. Das war auf dem Grillplatz. Lara war bockig, und dann haben sich Frau M. und Lara gezankt - das tun sie ja gerne - und dann hat sie gemeint, sie müsste Mutter spielen, und dann habe ich gesagt: Schluss jetzt! Ich bin die Mutter. Wissen Sie, ich mag das nicht, wenn ich dabei bin, dass dann jemand anderes die Mutter spielt. Aber wir haben dann später drüber geredet und das klargestellt und das war dann auch wieder in Ordnung.“ Offenbar sah sich diese Mutter in der konflikthaften Situation in einem letzten Rest ihrer Mutterschaft bedroht. Muttersein, so impliziert ihre Aussage, besteht für sie unter anderem darin, dass sie in schwierigen Situationen nicht passiv zuschaut, sondern aktiv ins Geschehen eingreift und dadurch bei ihrer Tochter etwas bewirkt. Wie wichtig ihr diese Selbstwirksamkeit als Mutter ist, schildert sie im weiteren Gesprächsverlauf, als sie auf die Pubertätsschwierigkeiten ihrer Tochter zu sprechen kommt: „Ich unterstütze Frau K. [die Pflegemutter], wo ich nur kann. Einmal, da hat Lara was verbockt. Da hat sie 800 Euro Handyschulden angesammelt. Da hat sie einen ziemlich Scheiß gebaut. Frau M. hat mich dann sofort angerufen und mich informiert. Da war ich natürlich total geschockt. Frau M., Frau K. und ich haben uns dann zusammengesetzt und haben dann gemeinsam einen Plan gemacht, wie Lara ihre Schulden bezahlen kann. Konsequenzen müssen halt schon sein. Und meine Lara hat jetzt schon 300 Euro abbezahlt. Und da bin ich stolz darauf.“ Die Anerkennung der Mutterrolle sowie die Entwicklung und Stärkung von elterlicher Kompetenz sind in diesem Falle zentrale Bestandteile für eine gelingende Begleitung und eine konstruktive Zusammenarbeit. Für Laras Mutter bedeuten sie ein Zurückgewinnen von Handlungsfähigkeit, für Lara selbst bedeuten sie Klarheit und Sicherheit bezüglich der Elternfiguren sowie eine Wertschätzung ihrer leiblichen Mutter. Das Beispiel veranschaulicht, dass sich Eltern zutiefst in ihrer Elternschaft infrage gestellt fühlen, da sie den Elternalltag nicht mehr mit ihren Kindern teilen können. Eltern geraten somit in den Status von „Herkunftseltern“, „leiblichen Eltern“ oder „Geburtseltern“. Der Schmerz über diesen Statusverlust und die Auseinandersetzung mit einer neu zu erfindenden Rolle kann den Eltern nicht erspart werden. Beratungsdienste können aber darauf achten, dass die noch verbliebenen Teile der Elternschaft beibehalten und gestärkt werden. Dies kann geschehen, indem Eltern während des Kontaktes mit ihren Kindern Verantwortung übernehmen, Umgänge aktiv mitgestalten und bei Entwicklungsschwierigkeiten ihrer Kinder aktiv in den Lösungsprozess miteinbezogen werden. Eltern benötigen eine Anerkennung der Geschwisterbeziehungen. Häufig haben Eltern von Pflegekindern weitere Kinder, welche entweder bei ihnen leben und/ oder in verschiedenen Pflegefamilien oder Ein- 441 uj 10 | 2017 Leibliche Eltern in Pflegeverhältnissen richtungen fremduntergebracht sind. Damit stellt sich für sie die Frage, ob und wie die Kontakte zwischen den Geschwistern gestaltet werden können. Auch hier benötigen Eltern ein Gehör für ihre Sorgen, Bedürfnisse und Vorstellungen. Ein Vater, dessen drei Kinder in zwei verschiedenen Pflegefamilien untergebracht sind, hebt die Bemühungen der beiden zuständigen Fachberaterinnen um die Geschwisterbeziehungen hervor: „Die Frau T. und die Frau B. machen das richtig gut. Die machen für mich und meine Kinder Termine aus, dass wir uns sehen können, und es klappt immer, weil sie mich vorher anrufen und erinnern. […] Sie sorgen dafür, dass ich meine Kinder regelmäßig sehe, dass ich hierherkomme und wir uns treffen können. […] Die Treffen mit allen zusammen. Manchmal machen wir ein Picknick auch mit meiner Schwester und allen drei Kindern.“ Eine andere Mutter bringt die Perspektive ihrer bei ihr verbliebenen Tochter Susi ins Gespräch: „Mit den Malers [Pflegefamilie] habe ich ein gutes Los gezogen. Die kümmern sich um meine Kinder und machen alles für sie. Auch die Susi mag die. Die sagt immer: ,Mama, der Bernhard und die Sabine gehen auf meine Geschwister ein‘. Das ist gut, dass beide Kinder dort wohnen.“ Später im Interview ergänzt sie jedoch, dass sie sich vom Beratungsdienst mehr Aufmerksamkeit für die Geschwisterkontakte wünsche: „Die Susi sagt immer: ‚Ich möchte mal wieder den Kevin und die Jenni sehen‘. Und wenn ich das dann der Frau B. [Fachberaterin] sage, dann will die davon gar nichts hören.“ Die Aussagen verdeutlichen, dass Eltern nach der Unterbringung ihrer Kinder in einer Pflegefamilie nicht nur unter dem Verlust ihrer eigenen Elternschaft leiden, sondern sich auch um die Beziehungen unter den Geschwistern sorgen. Eine fachliche Sensibilität hierfür bedeutet zugleich eine Anerkennung der Kompetenz, als Eltern die Geschwisterbedürfnisse im Blick zu behalten. Eltern benötigen eine Beteiligung am Hilfeprozess. In allen Interviews kamen die Eltern auf die Thematik der Beteiligung zu sprechen. Sie benannten Partizipationsformen wie Information, gemeinsames Planen oder gezielte Verantwortungsübernahme und differenzierten stark, welche Personen ihnen welchen Grad der Beteiligung zugestehen. Während sich fast alle Eltern, trotz einer gegen ihren Willen erfolgten Herausnahme ihrer Kinder, positiv über die Formen der Beteiligung durch den Beratungsdienst äußerten, gab es auch kritische Stimmen: Eine Mutter schildert den Unterschied zwischen der Pflegefamilie und den bisher erlebten Beratern hinsichtlich der Partizipationsmöglichkeiten. Obwohl sie ihre Kinder nur alle acht Wochen begleitet sieht und unter dieser Situation leidet, bezeichnet sie die Pflegefamilie in freundschaftlicher Art und Weise als „Glücksfall“. Zu dieser hat sie nach eigenem Bekunden ein „tolles Verhältnis“. Der Beratungsdienst dagegen wird von dieser Mutter in einem kritischen Licht gesehen. Über die Zusammenarbeit mit dem aktuell zuständigen Berater, welcher durch die fallzuständige ASD-Mitarbeiterin zu einer auf ein Minimum reduzierten Elternarbeit verpflichtet wurde, äußert sie sich resigniert: „Bei Hilfeplangesprächen darf ich nicht dabei sein. Das wollen die nicht. Ich weiß gar nicht, wohin mit meinen Wünschen. Ich möchte auch mal die Klappe aufmachen. […] Wenn ich Herrn W. [Fachberater] dann später meine Wünsche sagen möchte, habe ich Angst, dass er sauer wird. Ich weiß nicht, wie ich es ihm sagen soll. Wenn ich was anders haben will oder so.“ 442 uj 10 | 2017 Leibliche Eltern in Pflegeverhältnissen Kurz darauf kritisiert sie das Vorgehen der Fachberatung hinsichtlich der begleiteten Umgänge: „Wenn ich dann mal einen Vorschlag mache, wir können ja mal einen Ausflug machen oder raus gehen, zum Beispiel auf den Spielplatz, dann heißt es nur, dann sagt der Herr W.: ‚Nee, die Kinder sind es so gewohnt.‘ Oder: ‚Wenden Sie sich ans Jugendamt.‘“ Dass es dieser Mutter im Interview jedoch keineswegs nur um eine Gelegenheit ging, eine Pauschalkritik am Beratungsdienst auszuüben, zeigen die positiven Äußerungen über die Zusammenarbeit mit der ersten Fachberaterin. Diese war unmittelbar nach der Aufnahme der Kinder in die Erziehungsstelle für vier Jahre fallzuständig: „Mit Frau M. war es bombig. Die hat sich auch für mich interessiert. Und immer gefragt: ‚Wie geht’s Ihnen, Frau B.? ‘ Und auch nach den Umgängen hat sie immer gefragt: ‚Wie geht’s Ihnen, Frau B.? ‘ Und wie ich den Umgang empfunden habe. Nee, da hab ich überhaupt keine Kritik an Frau M. […] Frau M. hat auch viel mit uns unternommen. Ausflüge, Spielplatz, Boot fahren und so. Da konnte ich auch mal Vorschläge machen.“ Die Aussagen verdeutlichen, dass Eltern den Grad der Beteiligung differenziert wahrnehmen. Während Frau B. das Interesse an ihrer Person und die kreative Unterstützung durch Frau M. positiv bewertet, fühlt sie sich durch Herrn W. in einer passiven Empfängerrolle gehalten. Die positive Haltung gegenüber der als „Glücksfall“ bezeichneten Erziehungsstelle scheint hier ein Gegengewicht zu der vom ASD geforderten Minimalbeteiligung darzustellen. Vermutlich ist dies entscheidend dafür, dass Frau B. trotz allem die Unterbringung ihrer Kinder in der Erziehungsstelle unterstützen kann. Fraglich bleibt aber, ob eine partizipativere Haltung der Fachkräfte nicht eine aktivierende Wirkung auf die Mutter haben könnte, sodass ihre Kinder sie nicht nur als Besucherin im Rahmen eines begleiteten Umgangs erleben, sondern als Mitgestalterin in einem gemeinsamen Hilfeprozess. Eltern benötigen ein transparentes Wissen über die Rollen und Funktionen der Beratungsdienste. Zu Beginn eines Pflegeverhältnisses stehen Eltern vor der Herausforderung, sich in einem Geflecht verschiedener Akteure zurechtzufinden und deren unterschiedliche Funktionen im Hilfesystem zuzuordnen. Während die Rolle der Pflegefamilien klar erscheint, ist den Eltern der Unterschied zwischen Jugendamt und Beratungsdienst häufig nicht plausibel. Besonders kritisch erscheint dies in den Fällen, in denen die Unterbringung der Kinder in eine Pflegefamilie konfliktreich verläuft. Hier besteht die Gefahr, dass Eltern den Fachdienst als „unter einer Decke mit dem Jugendamt steckend“ sehen und ein beratender Zugang zu den Eltern dadurch erschwert wird. Eine transparente Rollenaufteilung zwischen Jugendamt und Fachdiensten erweist sich als hilfreich für die Eltern. Ein Vater, dessen Kinder nach einem Kindesschutzverfahren vor einigen Jahren in einer Erziehungsstelle notuntergebracht wurden und seitdem dort in Dauerpflege leben, drückt dies so aus: „Die von der M.-Stiftung [die Fachberaterinnen] sind anders als die vom Jugendamt. Aber denen sind auch die Hände gebunden. Die können gegen das Jugendamt nichts machen. Die können nicht entscheiden, dass sie mir die Kinder zurückgeben. Die vom Jugendamt sind alles Faschisten. Die Mitarbeiter von der M.-Stiftung sind anders, die sind nett und gehören nicht zur Jugendamtsbande.“ Die Zuordnung der Verantwortlichkeiten erscheint in diesem Falle klar zu sein: das Jugendamt als für den Kinderschutz verantwortlicher Entscheidungsträger und der Beratungsdienst als hilfreiche Begleitung, welche einen Kontakt zwischen Vater und Kindern unterstützt. Solchermaßen klare Rollenverteilungen ermöglichen eine differenzierte Zuordnung der Gefühle: Wut und Enttäuschung auf die amtlichen 443 uj 10 | 2017 Leibliche Eltern in Pflegeverhältnissen Entscheidungsträger gegenüber Hoffnung und Vertrauen auf die Beratungsdienste. Die hierdurch bedingte Entlastung der Pflegefamilien und Fachdienste schafft Raum für einen verstehenden und unterstützenden Zugang zu den Eltern und bietet eine gute Arbeitsgrundlage für die Gestaltung begleiteter Umgänge. Zusammenfassung Elternarbeit darf nicht als zweitrangige Aufgabe in der Pflegekinderhilfe betrachtet werden, sondern muss - auch um dem gesetzlichen Auftrag nach § 36 SGB VIII (Hilfeplanung) und 37 SGB VIII (Zusammenarbeitsgebot) gerecht zu werden - bewusst und professionell gestaltet werden. Die Sichtweise der Eltern gibt uns hierzu wertvolle Hinweise, die nachfolgend noch einmal kurz zusammengefasst und in sozialpädagogische Handlungsmaximen übertragen werden: ➤ Fachkräfte der Beratungsdienste müssen respektvoll die Hilfebedürftigkeit der leiblichen Eltern anerkennen. Hierzu ist ein langer Atem nötig, da Eltern zu Beginn eines Pflegeverhältnisses häufig mit ihrem Schicksal hadern, aus Scham ihre Verantwortung leugnen oder aus Verzweiflung um eine Rückkehr ihrer Kinder kämpfen. Erfahren Eltern, dass sie trotz allem als unterstützungsbedürftige Mitadressaten der Hilfe gesehen werden, so kann eine hilfreiche Beziehung zum Beratungsdienst entstehen, die wiederum einen elterlichen Rückhalt für das Pflegeverhältnis befördern kann. ➤ Fachdienste müssen zur Unterstützung einer positiv gestalteten Elternschaft die seelischen, körperlichen und sozialen Bedürfnisse der Eltern im Blick behalten. Dies kann bedeuten, dass bei begleiteten Kontakten mit den Kindern eine situationsangemessene Verpflegung zur Verfügung gestellt wird, Räume der Begegnung zwischen den Eltern organisiert werden oder in Beratungsgesprächen das persönliche Wohlergehen thematisiert wird. ➤ BeraterInnen haben die Aufgabe, mit einer positiven Sicht auf die Ressourcen der Eltern deren Kompetenzen zu aktivieren und diese bewusst für den Hilfeprozess fruchtbar zu machen. Kompetenzaktivierung bedeutet beispielsweise, dass Eltern ermuntert werden, Verantwortung für die Gestaltung der Kontakte zu übernehmen, oder in Krisensituationen bewusst als hilfreiche Dritte miteinbezogen werden. ➤ Fachkräfte benötigen einen Blick für die Geschwisterbeziehungen der Pflegekinder. Eltern sehen sich selbst nicht nur in einer dyadischen Beziehung zu ihrem Kind, sondern begreifen sich - sofern sie mehrere Kinder haben - als Eltern von Geschwistern, deren Beziehungen untereinander eine hohe Bedeutung haben. In der Praxis können Geschwisterbefindlichkeiten in Beratungsgesprächen mit den Eltern thematisiert werden oder Begegnungsräume für die Geschwister arrangiert werden. ➤ Fachdienste müssen Eltern als Subjekte der Hilfe beteiligen, soweit dies dem Wohl des Kindes dient. Eltern möchten ein Mindestmaß an Mitwirkungsmöglichkeiten behalten. Beteiligung bedeutet beispielsweise eine regelmäßige Information über die Entwicklung der Kinder, eine aktive Mitwirkung bei wichtigen Entscheidungen, eine Kooperation bei der Bewältigung von Krisen und die Ermutigung, Kontakte mit den Kindern aktiv und kreativ mitzugestalten. ➤ Fachkräfte der Beratungsdienste benötigen ein Bewusstsein dafür, dass ihre Rolle als Beratende gegenüber den Eltern klar definiert sein muss. Fachdienste müssen ihre Zuständigkeiten einerseits in Abgrenzung gegenüber dem Jugendamt klären (so entscheiden sie beispielsweise nicht über die potenzielle Rückführung oder die Anzahl begleiteter Umgänge), andererseits aber auch gegenüber der Pflegefamilie deutlich machen (so treffen Fachkräfte keine Entscheidungen über die Wahl des Mittagessens oder die Tagesstruktur des 444 uj 10 | 2017 Leibliche Eltern in Pflegeverhältnissen Kindes). Sie sind Beratende, Vermittler, Schlichter oder Prozessbegleiter, welche Eltern und Pflegeeltern zur Seite stehen, um mit ihnen die Möglichkeiten, Chancen und Schwierigkeiten des Hilfeverlaufs zu besprechen und Ideen zur Gestaltung der eigenen Rolle im Pflegeverhältnis zu entwickeln. Dies sind große Herausforderungen für die Beratungsdienste und bedeutet einen hohen zeitlichen Aufwand. Zudem gibt es Grenzen, die selbst bei gewissenhaftester Beratungsarbeit nicht überschritten werden können. Zum Wohle aller Beteiligten - der Pflegekinder, der Pflegeeltern und der Eltern - lohnt es sich aber, die Arbeit mit den Eltern als Chance für das Pflegeverhältnis zu verstehen und diese professionell zu gestalten. Dr. Andreas Gut Martin-Bonhoeffer-Häuser Lorettoplatz 30 72072 Tübingen E-Mail: gut.andreas@web.de Literatur Faltermeier, J. (2009): Fremdunterbringung - Herkunftseltern als Partner in der öffentlichen Erziehung. In: Knab, E., Fehrenbacher, R. (Hrsg.): Die vernachlässigten Hoffnungsträger. Beiträge zur Kinder- und Jugendhilfe. Lambertus, Freiburg, 233 - 248 Faltermeier, J. (2015): Herkunftsfamilien: Family-Partnership und Erziehungspartnerschaft. Ein Paradigmenwechsel in der Fremdunterbringung. In: Forum Erziehungshilfen 21, 202 - 205 Mayring, P. (2010): Qualitative Inhaltsanalyse. Grundlagen und Techniken. 11. akt. u. überarb. Aufl. Beltz, Weinheim/ Basel Nienstedt, M., Westermann, A. (2007): Pflegekinder und ihre Entwicklungschancen nach frühen traumatischen Erfahrungen. Klett-Cotta, Stuttgart Permien, H. (1987): Beratung und Begleitung von Pflegeverhältnissen. In: Deutsches Jugendinstitut (Hrsg.): Handbuch Beratung im Pflegekinderbereich. DJI Verlag, München, 212 - 234 Westermann, A. (2004): Die Trennung des Kindes von den Eltern und die Verleugnung der Trennung durch aufrechterhaltende Besuchskontakte. In: Stiftung zum Wohl des Pflegekindes (Hrsg.): 3. Jahrbuch des Pflegekinderwesens. Kontakte zwischen Pflegekind und Herkunftsfamilie. Schulz-Kirchner, Idstein, 153 - 171