unsere jugend
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0342-5258
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/uj2017.art63d
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2017
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„Zu jung für eine Strafe“
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Alexander Vollbach
Im justiziellen Zusammenhang muss genau hingeschaut werden, was im Einzelfall erforderlich und machbar ist. Mit der von Hans Göppinger geprägten und von Michael Bock ausdifferenzierten Angewandten Kriminologie liegt eine geeignete und praxiserprobte Beurteilungsgrundlage vor.
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421 unsere jugend, 69. Jg., S. 421 - 427 (2017) DOI 10.2378/ uj2017.art63d © Ernst Reinhardt Verlag München Basel von Dr. Alexander Vollbach Soziologe, Referatsleiter beim Senator für Justiz und Verfassung in Bremen „Zu jung für eine Strafe“ Theorie und Praxis im jugendstrafrechtlichen Einzelfall Im justiziellen Zusammenhang muss genau hingeschaut werden, was im Einzelfall erforderlich und machbar ist. Mit der von Hans Göppinger geprägten und von Michael Bock ausdifferenzierten Angewandten Kriminologie liegt eine geeignete und praxiserprobte Beurteilungsgrundlage vor. Einleitung Die Praxis der Jugendstrafrechtspflege bezieht sich häufig auf tradierte Deutungsmuster. Diese werden im Alltag kaum hinterfragt. Aber wird die Praxis damit auch den rechtlichen und empirischen Anforderungen des Jugendstrafrechts gerecht? Ausgehend von einem Fall werden die Grundzüge der Angewandten Kriminologie als Methode der kriminologischen Einzelfallbeurteilung und Entscheidungshilfe für die forensische Praxis vorgestellt. Die Angewandte Kriminologie bietet den Praktikern der Jugendkriminalrechtspflege (Jugendrichter, Jugendstaatsanwalt, Jugendgerichtshelfer, Anstaltsleiter, Sozialarbeiter usw.) eine Rationalisierung der Einzelfallentscheidung, die sowohl rechtlichen als auch fachlichen (kriminologischen) Anforderungen und Standards gerecht wird (vgl. Bock 2009; Schuler/ Hein 2010). Was damit gemeint ist, wird exemplarisch anhand der Kasuistik verdeutlicht. „Es ist das Alter der beiden Täter, das zu den so unterschiedlichen Urteilen führte“ Der Bremer Weserkurier berichtete in seiner Ausgabe vom 11. 1. 2016 über zwei bewaffnete Männer, die gemeinsam ein Juweliergeschäft überfallen haben (vgl. Michel 2016). Der eine muss nun für vier Jahre ins Gefängnis, der andere bleibt vorerst auf freiem Fuß. Bei dem zum Zeitpunkt des Überfalls 18-Jährigen wurde das Jugendstrafrecht angewandt. Die Frage, ob die Jugendstrafe zur Bewährung ausgesetzt werden kann, wurde hier vorerst zurückgestellt. Er muss zunächst einen Sozialen Trainingskurs absolvieren und gemeinnützige Arbeit ableisten. Ein erzieherisches Einwirken auf den inzwischen 19-Jährigen im Bremer Jugendvollzug sei nicht erforderlich gewesen. Er war „zu jung für eine Strafe“, so der Weserkurier. Und weiter heißt es: „Es ist das Alter der beiden Täter, das 422 uj 10 | 2017 „Zu jung für eine Strafe“ zu den so unterschiedlichen Urteilen führte“, so die Berichterstattung. Dem Leser stellt sich nun die Frage, wieso eigentlich bei einer gemeinsam begangenen Tat die Rechtsfolgen so unterschiedlich sein können. Das lässt sich aber nicht allein mit dem Blättern in Gesetzbüchern und dem Bezug auf juristische Ableitungsverfahren (Subsumtion) beantworten. Es geht vielmehr um die Beurteilung von Biografie und Delinquenz, hier vor allem die Stellung der Tat im Lebenslängsschnitt und der aktuellen Entwicklung. Damit rückt aber der einzelne Straftäter, seine Handlung (Tat) sowie die Rationalität von Sanktionsentscheidungen (Rechtsfolgen) in das Blickfeld. Die „Bilder von Lebensverläufen im Ganzen“ sind „Prüfkriterien bei der Erfassung von Einzelfällen“ Die Straftaten können Ausprägung ganz unterschiedlicher motivationaler Zusammenhänge sein. Nach anerkannten wissenschaftlichen Erfahrungsregeln („evidenzbasiert“) gibt es nämlich bei gleicher Ausgangsbasis sehr unterschiedliche biografische Verläufe von Straffälligkeit. Kriminalität tritt in Biografien phasenweise auf, gelegentlich auch intermittierend, aber ganz selten kontinuierlich (dazu Bock 2013, Teil III mit vielen Nachweisen). Die Angewandte Kriminologie stellt hier Erfahrungswissen für die Erfassung des Täters in seinen sozialen Bezügen zur Verfügung. Vor allem die in der Diagnostik für die Angewandte Kriminologie konstitutiven idealtypischen „Verlaufsformen der Stellung der Tat im Lebenslängsschnitt“ geben der Praxis der Strafrechtspflege Hinweise zu „passenden Einwirkungsmöglichkeiten“ (Bock 2013, § 15 RN, 773). Die kriminologischen Erfahrungsregeln (Idealtypen) sind Erwartungen an die Wirklichkeit, die sich aus einer umfangreichen Vergleichsuntersuchung herauskristallisiert haben und an denen Schritt für Schritt (Lebenslängsschnitt; Querschnitt; Relevanzbezüge/ Wertorientierungen) das Verhalten des Täters in seinen sozialen Bezügen gemessen wird. Die insgesamt sechs idealtypischen Verlaufsformen der Stellung der Tat im Lebenslängsschnitt stellen verschiedene Formen der Lebensentwicklung dar, in denen die Straftaten unterschiedlich eingebettet sind. Die „Bilder von Lebensverläufen im Ganzen“ sind „Prüfkriterien bei der Erfassung von Einzelfällen“ (Bock 2013, § 6 RN, 326). Die sechs idealtypischen Verlaufsformen sind: Die „kontinuierliche Hinentwicklung zur Kriminalität mit frühem Beginn“, die „kontinuierliche Hinentwicklung zur Kriminalität mit spätem Beginn“, die „Kriminalität im Rahmen der Persönlichkeitsreifung“, die „Kriminalität bei sonstiger sozialer Unauffälligkeit“, der „Kriminelle Übersprung“ sowie die idealtypische Verlaufsform „Kriminalität in Krisen“. In einem Ausschlussverfahren wird dabei geprüft, welche der sechs idealtypischen Verlaufsformen den Betreffenden am ehesten beschreibt. So lässt sich der Abstand und die Nähe des Idealtypus zur Wirklichkeit messen und so der Fall in seiner Eigenart (Nähe und Distanz zur idealtypischen Verlaufsform) darstellen. Sofern die Straffälligkeit des Jugendlichen bzw. Heranwachsenden lediglich eine vorübergehende Erscheinung im Rahmen der Pubertät ist oder aber bereits Anzeichen einer kontinuierlichen Entwicklung in Richtung sich verfestigender Kriminalität zu erkennen gibt, zieht dies entsprechende Konsequenzen in der Wahl der Maßnahmen, Ahndungsmöglichkeiten oder Sanktionen nach sich. „Schädliche Neigungen“ - sprich: eine verfestigte kriminelle Entwicklung - implizieren eine negative Interventionsprognose für alle ambulanten Maßnahmen. Hier wäre also eine längere Gesamterziehung im Jugendstrafvollzug erforderlich. Es kommt aber stets auf den Einzelfall an. Wenn es z. B. darum geht, aus den generellen Erfahrungsregeln (hier: idealtypische Verlaufsformen) und dem spezifischen Problem eine 423 uj 10 | 2017 „Zu jung für eine Strafe“ Verknüpfung herzustellen, bedarf es neben der Methode der Einzelfallbeurteilung auch der Erfahrung und Urteilskraft, die nicht gelehrt, sondern geübt werden muss. Der Einzelfallorientierung entspricht, dass gerade in der Praxisausbildung das Lernen an Fällen einen zentralen Stellenwert einnimmt. Im Hinblick auf eine kriminologische Indikationsstellung kommt z. B. in zahlreichen Fällen das Vorliegen „schädlicher Neigungen“ (§ 17 II JGG) nicht in Betracht: Beim Fehlen von Anzeichen schon vor der Tat aufgetretener schädlicher Neigungen, bei mangelnden Hinweisen auf erhebliche Rückfallgefahr, bei positiver Veränderung der Entwicklung zwischen Tat und Aburteilung, bei Geeignetheit anderer Maßnahmen zum Abbau der schädlichen Neigungen. Unter Umständen ist aber auch bei einer Ersttat eine länger andauernde Gesamterziehung erforderlich, wenn „mildere“ Mittel kontraproduktiv wären. In all diesen Konstellationen ist neben dem Längsschnitt auch der Querschnitt, also ein Moment der jüngsten Vergangenheit, genauer zu betrachten. Bei der Anwendung der Angewandten Kriminologie als Einzelfallkriminologie hat sich z. B. gezeigt, dass die Entwicklung des Jugendlichen bzw. Heranwachsenden häufig durch die Festlegung und Analyse von zwei Querschnittintervallen sichtbar gemacht werden kann. Für die Querschnittanalyse stellt die Angewandte Kriminologie sogenannte „K- und R-Kriterien“ („K“ steht für Kriminalität, „R“ steht für Resistenz) zur Verfügung (dazu Bock 2013, Teil III). So lassen sich auch aktuelle Verhaltensänderungen feststellen, die für die weitere prognostische Beurteilung und rechtliche Einordnung der Befunde von einigem Gewicht sein können. Denn es kommt stets auf die Kriminovalenz, also den kriminologisch relevanten Gehalt einer Störung des Sozialverhaltens aufgrund von Risikofaktoren, an. Zudem bestimmt im Jugendstrafrecht die Schuld (§ 17 Abs. 2 JGG) die „innere Beziehung des Täters zur Tat“ und nicht die objektive Schwere der Tat. Aus der kriminologischen Einzelfallbeurteilung ergeben sich also die Anknüpfungstatsachen für eine etwaige Schwere der Schuld mit entsprechenden Folgen für die erzieherische (§ 18 II JGG) Bemessung der Jugendstrafe. Kommt es aufgrund der objektiven Schwere des Tatunrechts zur Verhängung einer Jugendstrafe, so muss die Strafzumessung wiederum erzieherisch erfolgen (§ 18 Abs. 2 JGG). Zudem muss auch die Geeignetheit von Maßnahmen im Rahmen einer Interventionsprognose beurteilt werden (dazu Bock 2013 § 11 RN, 625ff ). Dabei geht es um die Frage, ob der ggf. eintretende Erfolg dieser oder jener Maßnahme unter welchen Rahmenbedingungen seine Wirkung entfalten kann. Nähert sich z. B. der konkrete Fall der idealtypischen Verlaufsform einer „Kriminalität im Rahmen der Persönlichkeitsreifung“ an und entspricht der Querschnittbefund und die Delinquenzanalyse dem Verlaufstypus, hat nach allgemeinen kriminologischen Erfahrungsregeln der Jugendstrafvollzug im Vergleich zu ambulanten Maßnahmen keine positive, sondern allenfalls negative erzieherische Effekte. Bei Vorliegen einer solchen Verlaufsform wäre eine unbedingte Jugendstrafe aus kriminologischer Sicht eine Fehleinweisung. Liegt eine Zwischenform zwischen „kontinuierlicher Hinentwicklung zur Kriminalität“ und „Kriminalität im Rahmen der Persönlichkeitsreifung“ vor, sieht das JGG für diese Konstellation die Aussetzung der Verhängung einer Jugendstrafe zur Bewährung vor (§ 27 JGG), sofern eine positive Prognose vorliegt (§ 21 JGG). Ist es aus dogmatischen Gründen erforderlich, eine schwere Sanktion zu verhängen (bspw. Schwere der Tatschuld), die kriminologisch geradezu kontraindiziert erscheint, lassen sich die negativen Konsequenzen auch dann noch durch die alsbaldige Aufnahme in den offenen Vollzug nach einem Drittel möglichst gering halten. Mit dieser Unterscheidung ist man also in der Lage, nach der im Einzelfall individuell angemessenen Sanktion zu suchen. 424 uj 10 | 2017 „Zu jung für eine Strafe“ „Die Angewandte Kriminologie untersucht Menschen statt Daten“ Im Jugendstrafrecht geht es also darum, die individuell richtige und angemessene Maßnahme zu finden, was einen umfassenden biografischen Blick voraussetzt. Aber wie sieht die Praxis aus (dazu auch Bock 2014)? Der (Jugend-) Richter ist bei den Erhebungen der hier für die Entscheidung relevanten (und das heißt: kriminologischen) Fakten auf seine „eigene Sachkunde“ angewiesen, sofern die Verfahrensvorschriften nicht zwingend ein (kriminologisches) Sachverständigengutachten vorschreiben. Die besondere Bedeutung der eingehenden kriminologischen Beurteilung der Persönlichkeit des Täters, seines Werdegangs und seines Sozialverhaltens kommt auch in der herausgehobenen Stellung der Jugendgerichtshilfe (§ 38 Abs. 2 S. 1 JGG) zum Ausdruck. Im Erwachsenenbereich steht die Gerichtshilfe (§ 160 Abs. 3 StPO) bzw. die Bewährungshilfe (§ 56 d StGB) mit ihrem Fach- und Fallwissen für die Einzelfallbeurteilung zur Verfügung. Die Jugendgerichtshilfe sowie die Sozialen Dienste der Justiz liefern die fachlich-empirischen Anknüpfungspunkte für die zentralen juristischen Auslegungsfragen und Entscheidungsfindung bei der Wahl der Maßnahme, Ahndungsmöglichkeit oder Sanktion sowie die Grundlagen für die Fallarbeit, zum Beispiel im personenbezogenen Fallmanagement. Das konkrete Vorgehen der Erhebungen ist z. B. mit dem tatrichterlichen Vorgehen bei der Erfassung der den zu beurteilenden Fall ausmachenden Umstände vergleichbar. Es gibt aber auch methodische Überschneidungen mit der Arbeitsweise bei der psychiatrischen bzw. sozialpädagogischen Diagnose- und Prognosestellung. Das alles ist natürlich nicht neu. Die Angewandte Kriminologie schließt ja bereits seit über 30 Jahren eine „Lücke“, die seit Langem zwischen Wissenschaft und Praxis „klafft“. Der Ansatz vermittelt der pädagogischen Praxis handlungsorientiert verdichtetes wissenschaftliches Erfahrungs- und Methodenwissen, koordiniert die Einzelfallbeurteilung bzw. Interventionsplanung und legitimiert damit die spezialpräventiv ausgerichtete (jugend-) strafrechtliche Praxis. Allein mit der juristischen Auslegung lassen sich jedenfalls keine Fälle lösen. Und eine Klassifizierung von Tätern nach Delikten und Deliktgruppen (im Ausgangsfall: schwerer Raub) führt dazu, dass eine vom Gesetz geforderte individual-spezialpräventiv begründete Entscheidung unterbleibt und die Praxis den rechtlichen und empirischen Anforderungen an Einzelfallbeurteilungen und Interventionsplanung nicht gerecht wird. „Jugendstrafrecht ist Angewandte Kriminologie“ Bezogen auf die oben eingeführte Fallgestaltung ergibt sich daraus Folgendes: Der mittlerweile 19-Jährige, bei dem das Vorliegen „schädlicher Neigungen“ verneint wurde, muss - kriminologisch gut nachvollziehbar - einen Sozialen Trainingskurs absolvieren und gemeinnützige Arbeit leisten. Ihm wird auch ein Bewährungshelfer zur Seite gestellt. Bei dem älteren Täter liegt laut Sachverständigengutachten zwar keine „erheblich verminderte Schuldfähigkeit wegen Alkohol- und Drogenkonsum“ vor. Gleichwohl muss er, laut Begründung des zum Zeitpunkt der Berichterstattung noch nicht rechtskräftigen Urteils, die Resozialisierung mit einer Drogentherapie im Vollzug beginnen. Es gab in dem einen Ausgangsfall also gute inhaltliche Gründe, die Entscheidung, ob es überhaupt der Verhängung und Vollstreckung einer Jugendstrafe bedarf, vorerst zurückzustellen, da sich eben noch nicht prognostizieren ließ, ob sich ein deliktisches Verhalten fortsetzen wird. Oder aber man hofft darauf, dass der Angeklagte unter der Aufsicht und Hilfe der Bewährungshilfe in seiner Entwicklung in die kriminelle Verfestigung gebremst wird. 425 uj 10 | 2017 „Zu jung für eine Strafe“ Wie lässt sich die Weiterentwicklung nach Aussetzung der Verhängung der Jugendstrafe beurteilen? Und was wird aus dem anderen Fall, dem laut Berichterstattung im Bremer Weserkurier eine „kriminelle Energie“ attestiert wird? Eskaliert die kriminelle Karriere weiter? Oder flacht sie allmählich ab bzw. läuft sie aus, wie es die neuesten entwicklungskriminologischen Befunde nahelegen? Welchen Anteil daran wird der wirkungsorientierte Strafvollzug haben? Beschleunigt oder verzögert er diese Entwicklung? Wird die kriminelle Karriere trotz oder wegen der Inhaftierung auslaufen? Welchen Anteil hat Übergangsmanagement (gemeint ist der strukturierte Übergang in die Freiheit sowie die Einbindung in tragfähige soziale Bezüge), das in Bremen von der Fachpraxis zurecht anerkannt ist? Gerne würde man die Lebenswege und Resozialisierungsverläufe der beiden Männer, die in Bremen vor Gericht standen, prospektiv weiterverfolgen: Im Sozialen Trainingskurs (vgl. dazu Schuler/ Hein 2010), nach der Vorbewährung, ggf. bei der Zugangs- oder Basisdiagnostik im Strafvollzug, bei der Entlassungsdiagnose/ -prognose, bei der Übergangsdiagnose/ -prognose nach der Entlassung und bei der Integrationsdiagnose/ -prognose drei Jahre danach. Mit der Angewandten Kriminologie lässt sich im Rahmen einer Verlaufsbeurteilung möglicherweise auch feststellen, ob die Legalbewährung eher das Ergebnis innerer Überzeugungen, der „Einwirkung und Behandlungsmethoden“ im Justizvollzug bzw. im Übergangsmanagement oder aber das Ergebnis einer günstigen sozialen Konstellation vor allem im Leistungs- und Kontaktbereich ist. Hier gibt es ganz heterogene Verläufe. „Praxisforschung ohne Verlust an Wirklichkeitsnähe“ Diese Fragen fallbezogen systematisch weiter zu verfolgen, setzen eine täterbezogene kriminologische Grundlagenforschung sowie eine entsprechende Infrastruktur voraus. Außerdem müsste ein solcher Ansatz etwas anderes sein als das oft blasse und ausdruckslose Sammeln und Auswerten von Daten. Stattdessen ist eine unmittelbare Untersuchung von Menschen in der Tradition der verstehenden Soziologie bzw. verstehenden Psychologie im Sinne der „Wirklichkeitswissenschaft“ erforderlich (dazu Bock 2013, RN, 59f ). Dabei werden die Handlungen der Menschen und ihrer Institutionen erfasst, und zwar aus der Perspektive der handelnden Personen und nicht durch den Wahrnehmungsfilter des standardisierten Forschungsdesigns, der die Wirklichkeit von außen erfasst und somit nur seine Theorien und Begriffe reifiziert. Der Begriff des Verstehens oszilliert dabei zwischen dem Erfassen lebensweltlicher Praxis und methodologischer Reflexion. Oberstes Ziel des wirklichkeitswissenschaftlichen Ansatzes ist die verstehende Kausalanalyse von spezifischen Fällen und Entwicklungen: „Die Sozialwissenschaft, die wir betreiben wollen, ist eine Wirklichkeitswissenschaft. Wir wollen die uns umgebende Wirklichkeit des Lebens, in welches wir hineingestellt sind, in ihrer Eigenart verstehen […] in ihrer heutigen Gestaltung einerseits, ihres geschichtlichen So-und-nicht-anders-Gewordenseins andererseits.“ (Weber 1988, 17) Im Rahmen der „Zugangs- oder Basisdiagnostik“ im Bremischen Justizvollzug erfolgt bereits eine „wirklichkeitswissenschaftlich“ fundierte Eingangsdiagnostik (dazu Vollbach 2015). Durch die Zusammenarbeit der Institutionen (Bewährungshilfe, Führungsaufsicht) ergeben sich Synergien bei den Erhebungen und Auswertungen. Mit Blick auf eine spätere Generalisierung der zahlreichen Einzelbefunde sind erwartungswidrige Verläufe von besonderem Interesse, also Fälle, die sich trotz negativer Prognose bewährt haben, oder eben auch umgekehrt. Hierzu wären die Praktiken und Verfahren zu untersuchen, mittels derer die Praktiker die Spannung zwischen generellem Wissen und einem partikulären Fall praktisch auflösen. Der Ansatz müsste prozessbegleitend angelegt sein (und nicht retrospektiv) und zugleich die institutionelle Problembearbeitung im Blick haben. Die Ergebnisse wären wiederum erfah- 426 uj 10 | 2017 „Zu jung für eine Strafe“ rungswissenschaftliche Ansatzpunkte für standardisiert abgestimmte Maßnahmen im Vollzug und im Übergangsmanagement (dazu § 93 I BremStVollzG). Erste Ansätze liegen in Bremen mit einem einmaligen Längsschnittdatensatz für den Bereich des Strafvollzugs und Übergangsmanagements vor (Vollbach 2015). Diese kriminologische Betrachtungsweise bereichert mit ihren Begriffsmustern die Entdeckung und Erklärung von Wirklichkeit mit einem von anderen Disziplinen - auch der Pädagogik - nicht vertretenen kriminologischen Aspekt. Damit werden auch Anregungen zu weiterer Forschung in den Bezugswissenschaften gegeben. Die Kriminologie als Anwendungsgebiet erfüllt somit zwei Aufgaben: sie betreibt erstens - als empirische Wissenschaft - Grundlagenforschung, vor allem als Vergleichs- und Längsschnittuntersuchung - zur Herausarbeitung kriminologisch relevanter Fakten; zweitens bietet sie als angewandte, praktische Wissenschaft und Methodenlehre den im praktischen Wirkungsfeld Tätigen wissenschaftlich fundierte Erfahrungsregeln sowie eine Methodenlehre für die Einzelfallbeurteilung und Interventionsplanung an. Denn die im Einzelfall zu ergreifenden Maßnahmen stehen ja gerade von vornherein nicht fest, sondern sie müssen in einem hermeneutischen fallbezogenen Prozess und jeweils aktuell gefunden werden. Allerdings hat sich die Gegenwartskriminologie von der erfahrungswissenschaftlichen Erfassung des Täters in seinen sozialen Bezügen und somit auch von der täglichen Praxis der Strafrechtspflege im weitesten Sinne entfernt und sich kriminalpolitischen Fragen zugewandt; eine angewandte Kriminologie im hier verstandenen Sinne findet heute kaum noch Resonanz in den Strafrechtswissenschaften, weshalb die fächerübergreifend angelegte Angewandte Kriminologie auch im sozialarbeiterischen Feld richtig verortet ist. Allerdings vermitteln die Hochschulen und Universitäten - trotz Einzug der Praxisorientierung in der Universität und einem pragmatischen, auf Nützlichkeit ausgerichteten Bildungsbegriff und Standardisierung - kaum berufliche Handlungskompetenzen für das Berufsfeld ihrer Absolventen. Der Mainzer Soziologe und Kriminologe Michael Bock spricht bereits vom „Elend der Praxis“ (Bock 2013, § 7 RN, 334). Das Potenzial der Kriminologie, die sich als „Wirklichkeitswissenschaft“ versteht und einer „praktischen“ Aufgabe entspringt, ist aber noch lange nicht ausgeschöpft. Die Angewandte Kriminologie, die vor über 30 Jahren konzipiert und seitdem ausdifferenziert wird, ist eine unterbewertete Disziplin, obwohl sie auch heute noch viel Neues, Instruktives und auch manches Provokante bietet. Denn die auf Statistiken oder Theorien basierenden Generalisierungen in der Gegenwartskriminologie und ihren Bezugswissenschaften können ja nicht auf den einzelnen Fall, mit denen es der Praktiker tagtäglich zu tun hat, übertragen werden. Hier bedarf es nicht nur einer Grundlagenwissenschaft, die die auftretenden sozialen Phänomene in eine begriffliche Ordnung bringt, sondern auch eines methodischen Ansatzes, der das bereits vorhandene sozialwissenschaftliche bzw. kriminologische Wissen auf Aggregatebene zu einem Anwendungswissen auf der Individualebene transformiert. Hinzu kommt, dass die Befunde der kriminologischen Bezugswissenschaften alle im Hinblick auf Straffälligkeit und kriminelle Gefährdung nicht spezifisch im Sinne von kriminorelevant sind. Schließlich beschäftigen sich die sozialwissenschaftlichen Beiträge auch nicht explizit mit rechtstheoretischen und rechtspraktischen Fragestellungen. Praktische Fragen des Themenfeldes, die eigentlich eine vertiefte Betrachtung erfordern, enden zumeist dort, wo der straffällige bzw. kriminell gefährdete Mensch strafrechtlich und vollzuglich zu beurteilen ist. Sozialwissenschaftliche Aussagen sind hier oft oberflächlich und zudem von pauschaler Kritik gegenüber den Instanzen der sozialen Kontrolle. 427 uj 10 | 2017 „Zu jung für eine Strafe“ Es zeigt sich aber ein verstärktes Interesse an der Angewandten Kriminologie sowohl in der interdisziplinären Forschung als auch in beruflicher Praxis in ganz unterschiedlichen Handlungsfeldern. Die Angewandte Kriminologie dient damit auch der fächerübergreifenden Kommunikabilität (statt Ab- oder Einschließung in diese oder jene Denktradition). Die Angewandte Kriminologie ist Ausdruck eines wissenschaftlichen Anspruchsniveaus und Qualitätsbewusstseins, an dem gemessen neue Ansätze und Methoden in der Kriminologie und ihren Bezugswissenschaften schon nach wenigen Jahren erstaunlich alt aussehen. Zwar müssen mit Blick auf die Praxis nicht ständig erkenntnistheoretische bzw. methodologische Vorfragen gestellt werden. Liegt einem aber an der Selbstbesinnung darüber, auf welchem Boden er steht, mit welchen Methoden er arbeitet und wo die Grenzen seiner Wissenschaft und ihrer Methoden liegen, so empfiehlt sich die Auseinandersetzung mit methodologischen Reflexionen. Das ist vor allem dann von praktischer Bedeutung, wenn es darum geht, die im Rahmen der Sachverhaltsaufklärung angewandten methodischen Verfahren und Ergebnisse der Sachverständigen sowie der (Jugend-) Gerichts- und Bewährungshilfe oder aber die eigene (intuitive) Sachkunde der Praxis kritisch zu hinterfragen. Dr. Alexander Vollbach Senator für Justiz und Verfassung Bremen - Referat 402 Richtweg 16 - 25 28195 Bremen E-Mail: Alexander.vollbach@justiz.bremen.de Literatur Bock, M. (2014): Die jugendstrafrechtliche Parallelwelt. Neue Kriminalpolitik 26(4), 301 - 308, https: / / doi.org/ 10.5771/ 0934-9200-2014-4-301 Bock, M. (2013): Kriminologie. 4. Aufl. Vahlen, München Bock, M. (2009): Angewandte Kriminologie für Sozialarbeiter. In: Sanders, K., Bock, M. (Hrsg.): Kundenorientierung - Partizipation - Respekt. Neue Ansätze in der Sozialen Arbeit. 1. Aufl. VS, Wiesbaden, 101 - 134, https: / / doi.org/ 10.1007/ 978-3-531-91763-4_6 Matt, E. (2016): Zur Evaluation des Jugendvollzugs - Bremen. Zeitschrift für Jugendkriminalrecht und Jugendhilfe 26(2), 150 - 154 Michel, R. (2016): Zu jung für eine Strafe. Weserkurier vom 11. 1. 2016. In: http: / / www.weserkurier.de, 31. 7. 2017 Schuler, J., Hein, K.-C. (2010): Die Methode der idealtypisch-vergleichenden Einzelfallanalyse (MIVEA) - Möglichkeiten ihrer Anwendung in der Sozialpädagogik. In: Unsere Jugend 62, 371 - 378 Vollbach, A. (2015): Delinquenz, kriminelle Karriere, Vollzug und Bewährung: erste Eindrücke aus einer empirischen Untersuchung über ehemals in der JVA Bremen untergebrachte und rückfällige Strafgefangene. Forum Strafvollzug 64 (1), 43475 Weber, M. (1988): Die Objektivität sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis. Archiv für Sozialwissenschaften und Sozialpolitik, Bd. 19. In: Winckelmann, J. (Hrsg.): Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre. 4. Aufl. Mohr, Tübingen, 146 - 214
