eJournals unsere jugend 69/10

unsere jugend
4
0342-5258
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/uj2017.art66d
101
2017
6910

Rezension: Gabriele Bindel-Kögel, Kari-Maria Karliczek, Wolfgang Stangl: Bewältigung von Gewalterlebnissen durch außergerichtliche Schlichtung. Täter-Opfer-Ausgleich und Tatausgleich als opferstützend

101
2017
Diana Willems
Annemarie Schmoll
Im Mittelpunkt dieser Veröffentlichung steht die Perspektive von Opfern schwerwiegender Straftaten auf den Täter-Opfer-Ausgleich (TOA) in Deutschland bzw. den Tatausgleich (TA) in Österreich und dabei insbesondere auf Copingstrategien (von Vermeidungsverhalten bis zur Stärkung der Handlungsfähigkeit) und Unterstützungsmöglichkeiten. Die bislang noch zu selten beachtete Rolle der Opfer im Rahmen außergerichtlicher Verfahren wird in dieser sehr aktuellen und auch in ihrer Forschungsfrage innovativen und wichtigen Studie mithilfe einer qualitativen Herangehensweise beleuchtet. […]
4_069_2017_10_0008
uj 10 | 2017 445 Rezension Im Mittelpunkt dieser Veröffentlichung steht die Perspektive von Opfern schwerwiegender Straftaten auf den Täter-Opfer-Ausgleich (TOA) in Deutschland bzw. den Tatausgleich (TA) in Österreich und dabei insbesondere auf Copingstrategien (von Vermeidungsverhalten bis zur Stärkung der Handlungsfähigkeit) und Unterstützungsmöglichkeiten. Die bislang noch zu selten beachtete Rolle der Opfer im Rahmen außergerichtlicher Verfahren wird in dieser sehr aktuellen und auch in ihrer Forschungsfrage innovativen und wichtigen Studie mithilfe einer qualitativen Herangehensweise beleuchtet. Nach einer Einleitung (Kapitel 1) wird der aktuelle Forschungsstand aufgearbeitet und es finden Begriffsbestimmungen statt (Kapitel 2). Bislang - so die AutorInnen - betrachten Forschungsarbeiten zum TOA/ TA vorwiegend die institutionelle Ebene (Fallzahlen, -konstellationen, Zuweisungspraxen der Staatsanwaltschaften) sowie Perspektiven und Interessen von TäterInnen. Über die positiven und negativen Auswirkungen des TOAs/ TAs auf die Opfer und mögliche Ursachen für die sinkende bzw. stagnierende Motivation der Geschädigten zur Ausgleichsbereitschaft gibt es dagegen - so die Einschätzung der AutorInnen - noch wenig Wissen. Daneben sei die Fragestellung, ob und wie der TOA/ TA dazu beitrage, neben der sekundären auch die tertiäre Viktimisierung zu verhindern, bislang nicht untersucht. Diese Forschungslücken sollen mit dem vorliegenden Band geschlossen werden. Eine zentrale These des Forschungsprojekts ist, dass ein strafrechtliches Mediationsverfahren in Form eines TOAs/ TAs die Chance bietet, Copingstrategien entgegenzuwirken, die die Lebensqualität eines Opfers negativ beeinflussen. In einem außergerichtlichen Vermittlungsverfahren wird neben der Neubewertung der erlebten Situation und des/ der TäterIn auch eine Neubewertung der eigenen zukünftigen Handlungsfähigkeit angestrebt und somit die Entwicklung einer angemessenen Copingstrategie. Die Frage ob und wie Copingprozesse durch außergerichtliche Ausgleichsverfahren beeinflusst werden, bearbeiten die AutorInnen auf drei Erkenntnisebenen: erstens die Sicht der Opfer selbst, die als ExpertInnen in der eigenen Sache zu Wort kommen; zweitens Beobachtungen der KonfliktvermittlerInnen; drittens teilnehmende Beobachtungen durch die ForscherInnen sowie durch die Interpretation des Interviewmaterials. Ziel ist die Erarbeitung von Falltypen, die sich hinsichtlich der Ausprägungen und Veränderungen der Copingstrategien unterscheiden. Diese gewonnenen Aussagen werden sodann für eine über die fallinterne Validierung hinausgehende Überprüfung um weitere Interviews mit KonfliktvermittlerInnen ergänzt. Aus diesem Wissen lassen sich zum einen Faktoren ableiten, die im Rahmen eines Ausgleichsverfahrens für Veränderungen der Copingstrategien bedeutsam sind, und zum anderen werden Praxishinweise gegeben. Zusätzlich erfolgt eine quantitative Erhebung zum Fallaufkommen in Deutschland; für Österreich liegen entsprechende Daten vor. Kapitel vier betrachtet die gesetzliche Situation und die Anwendung des TOAs (inklusive Fallverlauf und den dem TOA zugrunde liegenden Tatvorwürfen) in Deutschland. Wünschenswert wäre in diesem Abschnitt die Erwähnung der zunehmenden Entwicklung hin zu einem opferorientierten Strafvollzug, Jugendstrafvollzug bzw. Jugendarrest gewesen, die durch die jeweiligen landesrechtlichen Regelungen nach der Föderalismusreform im Jahr 2006 verstärkt aufgegriffen wird und eine beachtenswerte Entwicklung darstellt. In Kapitel fünf wird ana- Gabriele Bindel-Kögel, Kari-Maria Karliczek, Wolfgang Stangl: Bewältigung von Gewalterlebnissen durch außergerichtliche Schlichtung. Täter-Opfer-Ausgleich und Tatausgleich als opferstützende Instrumente 2016, Beltz Juventa Verlag, Weinheim/ Basel, 164 Seiten, € 39,95 446 uj 10 | 2017 Rezension log der TA in Österreich beleuchtet: es werden die gesetzlichen Bestimmungen ebenso wie die quantitativen Daten des TAs und dessen Verfahrensverlauf skizziert. Dabei lässt sich feststellen, dass der Variantenreichtum bei der Ausgestaltung in Deutschland höher als in Österreich ist. Über landestypische Besonderheiten hinaus werden in Kapitel sechs basierend auf der qualitativen Datenerhebung tatsächliche Tatsituationen beleuchtet und fünf Typen von Tatsituationen gebildet, die einen entsprechenden Einfluss auf die Bedürfnisse und Erwartungen der Opfer haben (provozierte, advokatorische, Überraschungsangriff, ohne direkten Kontakt, familiär). Die Besonderheiten der fünf Tatsituationen werden sodann hinsichtlich der Handlungsfähigkeit der Opfer, der von ihnen einsetzbaren Copingstrategien und den daraus folgenden Erwartungen, jeweils unterlegt mit Beispielfällen, anschaulich vorgestellt. Kapitel sieben diskutiert den Einfluss bzw. die Wirkungen des TOAs/ TAs auf die Opfer und ihre Copingprozesse. Beginnend mit der Frage, welche Fälle sich überhaupt für einen TOA/ TA eignen, werden die Themen Kontaktaufnahme - und damit das Herstellen einer grundlegenden Arbeitsbasis -, Informations- und Vorgespräche betrachtet und auf die Unterschiede und Gemeinsamkeiten in Deutschland und Österreich eingegangen. Schließlich wird das Ausgleichsgespräch selbst und dessen Wirkung auf die Opfer analysiert und interpretiert: Es wird deutlich, dass die jeweils erlebte Tatsituation die Motive und Erwartungen der Opfer, aber auch das Verhalten der TäterInnen in den Ausgleichsgesprächen bestimmt und sich entsprechend der fünf Tatsituationen unterscheidet. Damit geht einher, dass die Aufgaben, die den VermittlerInnen zukommen, sich ebenfalls je nach Tatsituation unterschiedlich ausgestalten. Schließlich wird in Kapitel sieben noch auf die Situation der Entschuldigung sowie auf die zwischen TäterIn und Opfer geschlossene Vereinbarung und deren Kontrolle eingegangen. Abschließend wird die Einbindung weiterer Personen ins Ausgleichsgespräch thematisiert; denn neben TäterIn und Opfer können auch zusätzliche Personen - zur Unterstützung - anwesend sein. Um das Gleichgewicht zu bewahren, sollten beide Parteien jeweils gleich viele Personen mitbringen. Der Einbezug der „Dritten“ wird einzelfallspezifisch entschieden. Die Anwesenheit von AnwältInnen behindere aus der Sicht von VermittlerInnen die Aktivitäten der Opfer und wirkt sich auf die Beförderung funktionaler Copingprozesse ungünstig aus, weil tendenziell nicht die persönlichen Empfindungen und Wahrnehmungen, sondern eher (straf-) rechtlich relevante Themen behandelt werden. Zum Ende werden im Kapitel acht künftige Herausforderungen mit Blick auf kulturelle Differenzen im Mediationsprozess entlang eines Sonderfalles - „atypische Situationen“ -, diskutiert. Dies geschieht allerdings ohne Kontextualisierung zu den vorherigen Kapiteln. Die AutorInnen arbeiten mit Zwischenfazits, die das Buch gut nachvollziehbar und lesbar machen. Wenngleich das Kapitel sieben als Überblickskapitel gesehen werden kann, fehlt doch durch das achte sehr speziell auf eine Herausforderung fokussierte Kapitel ein abschließendes Fazit. Hier wäre es wünschenswert gewesen, wenn die AutorInnen ihre Ergebnisse - evtl. in die jeweiligen Länderkontexte eingeordnet - diskutiert sowie zentrale Gemeinsamkeiten und Unterschiede sowie Herausforderungen allgemein zusammengestellt und formuliert hätten. Insgesamt gibt das Buch einen guten Überblick über die Anwendung des TOAs/ TAs in Deutschland/ Österreich unter besonderer Betrachtung der Auswirkungen auf Opfer von schweren Straftaten und trägt damit - den eigenen Anspruch erfüllend - zur Schließung einer Forschungslücke bei. Dr. Diana Willems, Annemarie Schmoll DJI München E-Mail: willems@dji.de, schmoll@dji.de DOI 10.2378/ uj2017.art66d