eJournals unsere jugend 69/11+12

unsere jugend
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0342-5258
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/uj2017.art68d
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2017
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Sexualisierte Gewalt gegen Kinder und Jugendliche in Organisationen

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2017
Mechthild Wolff
Für notwendige Veränderungen in der Praxis bedarf es bei tabuisierten gesellschaftlichen Themen stets einer sozialen Bewegung mit einem langen Atem. Ein sich darauf entwickelndes Verständnis von Schutzkonzepten als partizipative und dialogische Prozesse ist für die Implementation von Maßnahmen der Prävention, Intervention und Aufarbeitung jedoch notwendig.
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450 unsere jugend, 69. Jg., S. 450 - 457 (2017) DOI 10.2378/ uj2017.art68d © Ernst Reinhardt Verlag München Basel Sexualisierte Gewalt gegen Kinder und Jugendliche in Organisationen Schutzkonzepte als Herausforderungen für die Kinder- und Jugendhilfe Für notwendige Veränderungen in der Praxis bedarf es bei tabuisierten gesellschaftlichen Themen stets einer sozialen Bewegung mit einem langen Atem. Ein sich darauf entwickelndes Verständnis von Schutzkonzepten als partizipative und dialogische Prozesse ist für die Implementation von Maßnahmen der Prävention, Intervention und Aufarbeitung jedoch notwendig. von Prof. Dr. Mechthild Wolff* Jg. 1962; Studium der Erziehungswissenschaft, Kinder- und Jugendpsychiatrie sowie Ev. Theologie, Professorin für Erziehungswissenschaftliche Aspekte Sozialer Arbeit an der Hochschule Landshut Gewaltprobleme bedürfen der advokatorischen Bearbeitung durch Engagierte Gewalt kann sich strukturell oder als direkte und persönliche Form der Interaktion zwischen Menschen ausdrücken. Gewaltphänomene gegen Frauen, Kinder, alte Menschen, Behinderte, Homosexuelle, Wohnungslose, MigrantInnen und Flüchtlinge sowie Gewaltformen unter Jugendlichen in virtuellen Räumen etc. sind keine neuen Themen. In den vergangenen Jahrzehnten gab es verschiedene enttabuisierende Diskurse über Gewalt- und Machtverhältnisse gegenüber einzelnen vulnerablen gesellschaftlichen Gruppen, die den Blick geöffnet haben für die Phänomene selbst und die zu neuen Qualitäten in der Theorieentwicklung und Forschung geführt haben. Sie haben auch zu neuen gesetzlichen Regelungen zum besseren Schutz einzelner Gruppen beigetragen und Hilfeformen sowie Präventionsansätze angestoßen. Ähnlich wie in anderen Diskursen um Gewalt wurde auch das Problem sexueller Gewalt durch Professionelle in Organisationen zunächst nicht für möglich und eher als Phantasien einiger Übersensibler gehalten. Eine advokatorische Bearbeitung engagierter Fachleute aus den helfenden Arbeitsfeldern war hier jeweils nötig, um letztlich Abhilfe zu schaffen und zu präventive Überlegungen aufzufordern. * Zur Erstellung dieses Beitrages haben Meike Kampert und Tanja Rusack, wiss. Mitarbeiterinnen an der Hochschule in Landshut, Prof. Dr. Wolfgang Schröer von der Stiftung Universität Hildesheim sowie Prof. Dr. Jörg Fegert von der Universität Ulm beigetragen. Einige hier enthaltene Formulierungen und Ideen wurden im Projekt„Ich bin sicher! “ und „ECQAT“ entwickelt. 451 uj 11+12 | 2017 Sexualisierte Gewalt in Organisationen Gewalt gegen Kinder als Thema der Kinderschutzbewegung Das Problem der (sexualisierten) Gewalt gegen Kinder wurde durch die Kinderschutzbewegung und den Kinderschutzbund vorangetrieben. Aus der Praxisarbeit entstand auch die Definition sexualisierter Gewalt, die darunter all jene Handlungen fasst, die an oder vor einem Kind oder einem/ einer Jugendlichen entweder gegen dessen/ deren Willen vorgenommen werden oder der das Kind oder der/ die Jugendliche aufgrund körperlicher, psychischer, kognitiver oder sprachlicher Unterlegenheit nicht wissentlich zustimmen kann. Der/ die Täter/ -in nutzt seine/ ihre Macht- und Autoritätsposition aus, um seine/ ihre eigenen Bedürfnisse auf Kosten des Kindes zu befriedigen (Bange/ Deegener 1996, 105). Einerseits sind dies Handlungen ohne körperlichen Kontakt (hands-off ), z. B. durch zwangsweises Anschauen von pornografischem Bildmaterial oder Exhibitionismus. Andererseits fallen auch Formen mit sehr intensivem Körperkontakt (hands-on) darunter, z. B durch anale, orale oder genitale Vergewaltigung (Jud 2015, 44). Mit den Problemen war das erste Kinderschutzzentrum Mitte der 70er Jahre befasst (Wolff 2010). In den Zentren geht es seither um Maßnahmen der Intervention und Prävention in Fällen von Gewalt, mit einem Schwergewicht auf sexualisierte Gewalt. Parallel zu dieser Bewegung gibt es einen weiteren Motor für den Diskurs, dies sind spezialisierte Fachberatungsstellen, die sich im Kinderschutz mit einem Schwerpunkt auf sexuellen Missbrauch etablierten (Enders 2003). Letztlich prägt der stark medizinisch orientierte Kinderschutz das Feld, das in Kinderschutzambulanzen u. a. therapeutische Maßnahmen im Hinblick auf Traumatisierungen nach Kindeswohlgefährdungen weiterentwickelt (Fegert et al. 2015). Anschub hat der gesamte Kinderschutz Anfang des neuen Jahrtausends bekommen, als Todesfälle von Kindern bekannt wurden, die auf Mängel in den zuständigen Behörden hinwiesen. Als Reaktion hierauf wurden gesetzliche Regelungen (u. a. § 8 a SGB VIII) verbessert, Jugendämter personell aufgestockt und Verfahren u. a. der Gefährdungseinschätzung für einen besseren Schutz von Kindern professionalisiert. Gewalt in Heimen als Beginn einer Betroffenenbewegung Im Jahr 2009 gelangte eine weitere Problematik in den Fokus der Aufmerksamkeit, es ging um Gewalt in Heimen im Nachkriegsdeutschland. Ein Runder Tisch setzte einen Prozess der Aufarbeitung in Gang. Belegt wurde, dass die Heimerziehung in den 50er und 60er Jahren in kirchlichen, aber auch in staatlichen Einrichtungen weitgehend von den Ideologien und Erziehungspraktiken vorheriger Jahrzehnte geprägt war. Willkür und Rechtlosigkeit von Betroffenen wurden als Folge von Systemversagen skizziert. Beklagt wurden fehlende Anhörungen, Nicht- Nachkommen von Informationspflichten, körperliche Züchtigung, Arrest und Essensentzug, demütigende Strafen, Kollektivstrafen, Kontaktsperre und Briefzensur, sexuelle Gewalt, religiöser Zwang, Medikamentenzwang, Arbeit und Arbeitszwang und unzureichende Förderung (RT 2010). Die Befassung mit der Geschichte der Heimerziehung war es, die den Weg ebnete für einen weiteren Runden Tisch und Betroffenen Mut machte, um sich öffentlich über erfahrenes Unrecht zu äußern. Gewalt in Institutionen als Chance eines zivilgesellschaftlichen breiten Diskurses Im Folgejahr, also im Jahr 2010, wurde ein weiterer Runder Tisch mit dem Titel „Sexueller Kindesmissbrauch in Abhängigkeits- und Machtverhältnisseninprivaten undöffentlichen Einrichtungen und im familiären Bereich“ eingesetzt. Er wurde motiviert durch öffentlichkeitswirksame und enttabuisierende Medienberichte über Fälle in katholischen Eliteinternaten (Obermayer/ Stadler 2011). 452 uj 11+12 | 2017 Sexualisierte Gewalt in Organisationen Aus diesen intensiven zivilgesellschaftlichen Diskursen hat sich inzwischen ein weiteres Feld etabliert, das Fragen des institutionellen Kinderschutzes und des Schutzes von Persönlichkeitsrechten nach Unversehrtheit, Beteiligung und Beschwerde von Kindern in Organisationen zusammenführt (Wolff/ Schröer/ Fegert 2017). Gewalt gegen Kinder und Jugendliche in Organisationen wird als Thema inzwischen von einem Bündnis aus allen o. g. Bewegungen bearbeitet und von einem Unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs (UBSKM) (www.ubskm.de) unterstützt. Dieses neue Diskussions- und Handlungsfeld hat zur Einsicht beigetragen, dass Kindern und Jugendlichen (sexualisierte) Gewalt in allen Institutionen widerfahren kann, in denen sie betreut, beschult, therapiert, unterstützt oder gepflegt werden. Die Gelegenheitsstrukturen sind so vielfältig wie die Institutionen selbst und das Risiko, hier Opfer von einem sexuellen Missbrauch werden zu können, hängt mit vielen Risikofaktoren, u. a. mit fehlenden Präventionsmechanismen in Form von Schutzkonzepten in Organisationen zusammen (Fegert/ Wolff 2015). Gesetzlich wurde durch diese Debatte die Verlängerung der Verjährungsfristen bei sexuellem Missbrauch angeschoben, im SGB VIII-Bereich wurden die Beteiligungs- und Beschwerderechte von Kindern und Jugendlichen gerstärkt, gesetzliche Änderungen im Opferschutz lassen jedoch noch auf sich warten. Diese als zivilgesellschaftlich begonnene Bewegung, an der Kirchen, Sport-, Wohlfahrts-, Fachverbände etc. zunächst beteiligt waren, hat das Potenzial, alle Kräfte zu bündeln und sich nicht von den Logiken oder Ideologien der einzelnen Bewegungen leiten zu lassen. Welche Bewegung sich hier langfristig etablieren wird, kann nur die Zeit zeigen. Dabei wäre eine langfristige und breit aufgestellte Bearbeitung dringend notwendig, zumal das Ausmaß der Gefährdungen in und durch Organisationen immer offenkundiger und besser verstanden wird. Gefahren der Reinszenierung und Reviktimisierung in Organisationen Die Befassung mit der Problematik hat offengelegt, dass ein Schutz der Persönlichkeits- und Entwicklungsrechte von Kindern und Jugendlichen in pädagogischen Organisationen nicht immer automatisch gegeben ist. Risiken der Gewalt und des Machtmissbrauchs gegenüber Kindern sind auch in pädagogischen Organisationen selbst verankert und können von Fachkräften, technischem Personal oder Ehrenamtlichen ausgehen. Damit sind die Tätigen in allen pädagogischen Organisationen in den Fokus geraten. Diese Organisationen erfüllen Aufgaben der Bildung, Erziehung, Förderung, Freizeitgestaltung und bio-psychosozialen Gesundheit und schaffen für Kinder und Jugendliche Möglichkeiten der subjektiven Entfaltung bzw. der Bearbeitung komplexer sozialer und individueller Herausforderungen. Da alle Kinder und Jugendlichen einen beachtlichen Teil ihrer Lebenszeit in einer Vielzahl unterschiedlicher Organisationen verbringen (müssen), stellen Gefährdungen durch Gewalt und Machtmissbrauch inzwischen eine Entwicklungsbedingung außerfamiliärer Erziehung und Bildung im Kindes- und Jugendalter dar. Gerade von Kindern und Jugendlichen, die in ihren Herkunftsfamilien Marginalisierungs- und Diskriminierungserfahrungen machen mussten, die also das Kinder- und Jugendhilfeklientel darstellen, besteht bereits ein strukturelles Risiko der (Re-)Viktimisierung (Kindler/ Unterstaller 2007), aber auch der Reinszenierung. Gruppenpädagogische Settings, in denen das aufgeholt und nachgeholt werden soll, was in den Herkunftsmilieus versäumt und entbehrt wurde, werden damit selbst zu einem vulnerablen Setting. Die Rollen von Kindern und Jugendlichen sowie von Professionellen als Opfer und/ oder TäterIn können dabei variieren. Schon Kappeler argumentierte, dass das 453 uj 11+12 | 2017 Sexualisierte Gewalt in Organisationen besondere Nähe-Distanz-Verhältnis in der stationären Betreuung von Mädchen und Jungen diese besonders anfällig für Grenzverletzungen und sexuelle Übergriffe macht (Kappeler 2011, 204). Die Probleme sind demnach komplexer geworden, denn bis dato entlarvten Frauen die Männer als potenzielle Täter, Fachkräfte hatten es mit Eltern und Verwandten als möglichen Tätern zu tun oder aber mit Pädosexuellen, deren Strategien langsam erkannt wurden. Inzwischen muss man einräumen, dass (sexualisierte) Gewalt auch von Fachkräften selbst ausgehen kann. Sie kann vor allem dann relevant werden, wenn mögliche Machtpotenziale der Fachkräfte in den Organisationen nicht erkannt und präventiv reflektiert werden. Wird das Risiko nicht in Erwägung gezogen, dass Professionelle auch in Übertragungsmechanismen (z. B. Täter-Opfer-Dynamiken) geraten oder mit Überforderung reagieren können, potenziert sich das Risiko für mögliche (sexualisierte) Gewaltformen in Einrichtungen. So kann man schließen, dass gerade professionelle Beziehungsarbeit im Rahmen der gesamten Kinder- und Jugendhilfe besser konzeptionell ausgearbeitet werden und Maßnahmen der Prävention darin fest verankert werden sollten (vgl. dazu auch Gahleitner 2016). Eine systematische Gefährdungsanalyse innerhalb besonders vulnerabler Settings im Arbeitsfeld der Kinder- und Jugendhilfe ist bis dato allerdings ausgeblieben. Besondere Gefährdungen vulnerabler Zielgruppen in den stationären Erziehungshilfen Gerade für die Zielgruppen in der stationären Erziehungshilfe bestehen Gefährdungen. Eine Untersuchung von Rau (zit. nach Allroggen et al. 2017) weist nach, dass knapp ein Drittel der 322 befragten Jugendlichen in stationären Einrichtungen erste sexuelle Übergriffe während dieser Zeit erlebten, darunter sowohl sexuelle Belästigungen (28 %) als auch sexuelle Übergriffe ohne Penetration (33 %) und mit Penetration (20 %) (ebd., 10). Die Übergriffe wurden überwiegend von FreundInnen/ Bekannten (79 %) bzw. MitbewohnerInnen (54 %) verübt. Die Studie belegt auch, „dass von den Jugendlichen, die Täter oder Opfer sexueller Gewalt waren, 29 % sowohl Täter als auch Opfer waren, während 62 % ausschließlich Opfer sexueller Gewalt wurden und lediglich 9 % nur sexuell aggressives Verhalten zeigten“ (ebd., 11). In einer weiteren Studie kommen Helfferich und Kavemann (2016) zu der Erkenntnis, dass Mädchen in stationären Einrichtungen während der Zeit ihrer Unterbringung innerhalb und außerhalb der Einrichtungen Missbrauchsfallen ausgesetzt sind und konstatieren eine ambivalente Verknüpfung zwischen körperlicher und sexueller Aggression und Nähe: „Sexuelle Interaktionen konnten problemlos und normal erscheinen, wohingegen das Zulassen von Nähe als problematisch beschrieben wurde“ (2016, 56). Die schwierige Gemengelage zwischen TäterInund/ oder Opfer-Sein bestätigt auch eine britische Studie von Barter et al. (2004) über potenzielle sexualisierte Gewalt in Peer-Beziehungen in stationären Einrichtungen. Hier wurde erhoben, dass circa 30 bis 40 % der befragten Kinder und Jugendlichen Gewalt untereinander in allen Formen an verschiedenen Orten in den Heimeinrichtungen erlebt hatten. Dabei fiel vor allem auf, dass die Hälfte aller Fälle von sexueller Gewalt nur anderen Kindern und Jugendlichen berichtet wurde. Es spricht demnach viel dafür, dass sich Organisationen mit ihren eigenen Konzepten, Methoden, Verfahren, Beziehungsstrukturen, Räumlichkeiten und Haltungen selbstkritisch befassen und überprüfen sollten, wie sie selbst Sorge dafür tragen wollen, die Rechte von Kindern und Jugendlichen in Organisationen einzulösen. Die Entwicklung von Schutzkonzepten ist demnach momentan die zentrale Herausforderung für Einrichtungen, die aus den Vorkommnissen und Diskursen zu schließen ist. 454 uj 11+12 | 2017 Sexualisierte Gewalt in Organisationen Schutzkonzepte als Prozesse zur Steigerung von Achtsamkeit Im Kinderschutz nach § 8 a SGB VIII wird unter „Schutzkonzepten“ ein systematisches und abgestimmtes Vorgehen bzw. Regelverfahren verstanden, sobald eine Kindeswohlgefährdung im Kontext häuslicher Gewalt oder im sozialen Umfeld eines Kindes oder Jugendlichen erkannt wurde. Das Vorgehen gibt das Gesetz vor, das zum Ziel hat, dem Kind oder dem Jugendlichen so schnell wie möglich eine geschützte Umgebung zu gewähren. Angesichts von Fällen sexueller Gewalt gegen Kinder und Jugendliche in Organisationen wird seit den Debatten der Runden Tische 2010 unter Schutzkonzepten nunmehr auch das präventions- und interventionsorientierte Vorgehen in Organisationen in Bezug auf Gewalthandlungen von Professionellen verstanden. Schutzkonzepte dienen demnach der Sicherstellung und Stärkung von Rechten jedes/ r einzelnen/ r Kindes bzw. Jugendlichen und fokussieren einen nachhaltigen organisationalen Kinderschutz auf allen Ebenen einer Organisation (Wolff/ Schröer/ Fegert 2017). Haupt- und ehrenamtliche Leitungskräfte haben die Verantwortung für die konzeptionelle Ausrichtung von Organisationen und die Herstellung von Schutz und Sicherheit. Ein Schutzkonzept dient vor allem dazu, die Achtsamkeit einer Organisation für die Menschen-, Kinder- und Sozialrechte von anvertrauten Schutzbefohlenen zu erhöhen und damit eine Organisationskultur zu schaffen, die sich durch Achtsamkeit im Sinne eines aktiven Hinhörens, Hinschauens und Eingreifens, wenn höchstpersönliche Rechte verletzt werden, auszeichnet. Schutzkonzepte sind somit Organisationsentwicklungsprozesse, die das Ziel verfolgen, mögliche Risiken und Gefährdungen zu erkennen und Sorge dafür zu tragen, dass diese Risiken minimiert werden. So muss man statt von Schutzkonzepten eigentlich von alltäglichen Schutzprozessen sprechen, denn es geht nicht um einzelne Präventionsmaßnahmen, Checklisten zum Abhaken oder eine Ansammlung von (Fortbildungs-)Zertifikaten oder unterzeichneten Verhaltenskodizes, die in einem Ordner abgeheftet werden (Kampert 2015). „Vielmehr geht es um partizipative Dialoge in lernenden Organisationen, die Schutzkonzepte als organisationale Bildungsprozesse für sich nutzen, d. h. in denen sich Organisationen über Risiken, Gefährdungen und Gelingensfaktoren ihrer eigenen professionellen Arbeit selbstvergewissern“ (Allroggen et al. 2017 a, 12). Die vier Schlüsselprozesse von Schutzkonzepten Im Zusammenhang mit Schutzkonzepten für Organisationen wird von insgesamt vier Schlüsselprozessen gesprochen, die zu einem Klima des Schutzes in Organisationen beitragen sollen (BMJ/ BMFSFJ/ BMBF 2011): 1. Gefährdungs- oder Risikoanalysen unter Einbezug von bestehenden Schutzfaktoren und Potenzialen einer Einrichtung: Eine Gefährdungs- oder Risikoanalyse ist ein erster Schritt und somit der Ausgangspunkt der Erarbeitung eines Schutzkonzepts. Hier wird die Wissensgrundlage geschaffen für die sich anschließenden organisational zu bearbeitenden Prozesse der Prävention, der Intervention und der (langfristigen) Aufarbeitung. Mit „Analyse“ ist hier der (selbst-)kritische Blick auf die eigene Organisation gemeint, um die organisationalen Strukturen, Arbeitsabläufe sowie arbeitsfeldspezifischen Besonderheiten hinsichtlich potenzieller Risikofaktoren/ Gelegenheitsstrukturen zu überprüfen, die Machtmissbrauch ermöglichen bzw. begünstigen könn(t)en (Wolff/ Bawidamann 2017, 246). 2. Entwicklung von passfähigen, einrichtungs- und zielgruppenspezifischen Präventionsmaßnahmen: Darunter fallen z. B. Information, Aufklärung und Ermutigung von 455 uj 11+12 | 2017 Sexualisierte Gewalt in Organisationen Kindern und Jugendlichen über Beschwerde als Disclosure fördernde Maßnahmen, Förderung von Beteiligungsmöglichkeiten für Kinder und Jugendliche und MitarbeiterInnen, präventionsorientierte Einstellungsverfahren für neue MitarbeiterInnen in Verantwortung von Leitungskräften oder Verhaltenskodizes für Fachkräfte oder ehrenamtlich Tätige. 3. Entwicklung von Interventionsmaßnahmen: Hierbei geht es um die Würdigung gesetzlicher Gewährleistungspflichten für die Organisationen, die z. B. in Melde- oder Dokumentationspflichten bestehen können oder in arbeitsrechtlich oder strafrechtlich relevanten Verfahrensabläufen. 4. Etablierung von Maßnahmen der Aufarbeitung möglichen Unrechts in Organisationen: In nicht erkannten Fällen von Unrecht handelt es sich zumeist um ein Systemversagen, das eine breite Fehleranalyse voraussetzt. Diese Krise kann auch als Chance verstanden werden, um aus der kollektiven Analyse erneut Präventionsmaßnahmen ableiten zu können. Herausforderungen für die Praxis Der aufgezeigte Diskurs mit einigen hier aufgeführten Erkenntnissen, Erfahrungen und Definitionen stellt folgende konkreten Herausforderungen an Einrichtungen und Fachkräfte: Partizipative und nachhaltige Implementierung von Schutzkonzepten Schutzkonzepte gilt es im Sinne einer nachholenden Entwicklung in Organisationen zu erarbeiten und nachhaltig zu implementieren. Unter Implementierung kann ein fortlaufender und selbstverständlicher Zyklus von Routineverfahren innerhalb von ohnehin notwendigen Schlüsselprozessen in Organisationen verstanden werden (z. B. Leitbild-, Konzept- und Methodenentwicklung, Personalentwicklung, Qualitätsentwicklung). Damit ist die Erarbeitung von Schutzkonzepten auch keine Sonderveranstaltung, sondern vielmehr notwendiger Bestandteil qualitativ guter Arbeit. Vor allem ist dabei der Einbezug aller Organisationsangehörigen (Kinder und Jugendliche, haupt- und ehrenamtliche MitarbeiterInnen, Eltern, Leitungskräfte, Behörden, Verbände) wichtig, zumal dies die Chance erhöht, dass potenzielle Schwachstellen, Modifizierungsbedarfe, aber auch Potenziale in einer Organisation ausfindig gemacht werden. Kinder und Jugendliche werden zudem andere Aspekte, Wünsche, Ideen, Sorgen und Bedarfe hinsichtlich eines organisationalen Schutzklimas nennen als Mitarbeitende, und Mitarbeitende wiederum andere als Leitungspersonen (Fegert/ Schröer/ Wolff 2017, 21). Der Vorteil eines solchen „partizipativen Zugangs besteht in der multiperspektivischen Expertise und darin, dass die Beteiligten zu MultiplikatorInnen nach innen in der Sache selbst werden“ (ebd., 23). Schutzkonzepte als lebendige dialogische Prozesse Ein bundesweites Monitoring des Umsetzungsprozesses durch den Unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs belegt eine eher zurückhaltende Umsetzungspraxis von Schutzkonzepten in Einrichtungen des Sozial-, Bildungs- und Gesundheitssektors (UBSKM 2013). Es werden zwar Einzelmaßnahmen vorangetrieben, wie z. B. Fortbildungsmaßnahmen für Beschäftigte, Aufklärungsangebote für Kinder und Jugendliche, Implementierung eines Verhaltenskodex sowie die Benennung einer festen Ansprechperson zum Themengebiet sexualisierte Gewalt, aber nur in jeder zweiten Einrichtung wurden diese Maßnahmen vor dem Hintergrund vorangegangener Gefährdungs- oder Risikoanalyse geplant (ebd., 5). Im Kontext des Projekts „Ich bin sicher“ wur- 456 uj 11+12 | 2017 Sexualisierte Gewalt in Organisationen de auf der Basis von 30 Gruppendiskussionen ein Trend wahrgenommen, dass Schutzkonzepte drohen, lediglich in Ordnern abgeheftet zu werden (Kampert 2015). Schutzkonzepte sollten keinesfalls technokratisch im Sinne der Etablierung von Einzelmaßnahmen (z. B. Diagnosetools) verstanden werden (Böwer/ Brückner 2015). Wichtig wären lösungsorientierte Dialoge über Themen, die im Alltag vielfach vergessen oder tabuisiert sind, so z. B. Themen wie Nähe und Distanz, Körper und Sexualität, Macht und Machtmissbrauch oder illegitime Erziehungspraktiken in der professionellen Beziehungsarbeit (Kampert/ Röseler/ Wolff 2017). Solche Dialoge sind auch nie am Ende, sondern sie müssen stetig am Laufen gehalten und als selbstverständliche alltägliche Routinen integriert werden. Unterstützung muss dafür auch durch kommunale und überregionale Unterstützungsstrukturen geleistet werden, vor allem um Institutionen bei der Analyse und Selbstreflexion von möglichen Gefährdungs- oder Risikopotenzialen zu begleiten. Viel hat sich inzwischen in Sachen Wahrung der Rechte von Kindern und Jugendlichen in Organisationen entwickelt. Es bleibt zu hoffen, dass es der breiten zivilgesellschaftlichen Bewegung, die auch der kontinuierlichen Unterstützung durch den Unabhängigen Beauftragten bedarf, langfristig gelingt, das Thema dauerhaft am Köcheln zu halten. Prof. Dr. Mechthild Wolff Hochschule Landshut Am Lurzenhof 1 84036 Landshut Tel. (08 71) 5 06-4 39 E-Mail: mwolff@haw-landshut.de Literatur Allroggen, M., Gerke, J., Rau, T., Fegert, J. M. (Hrsg.) (2017): Umgang mit sexueller Gewalt. Eine praktische Orientierungshilfe für pädagogische Fachkräfte in Einrichtungen für Kinder und Jugendliche. Hogrefe, Göttingen Allroggen, M., Domann, S., Esser, F., Fegert J. 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