unsere jugend
4
0342-5258
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
111
2017
6911+12
Sexuelle Bildung als zentraler Ansatz (auch) zum Schutz von Kindern und Jugendlichen
111
2017
Uwe Sielert
Sexualisierte Gewalt vollzieht sich im Kontext des Sexuellen, sodass es nicht reicht, die Gewalt zu thematisieren. Sexualpädagogik beschäftigt sich seit Längerem mit „dem anderen Gesicht der Sexualität“ und sexuelle Bildung wirkt gewaltpräventiv, ohne sich dabei auf die Gefahren fixieren zu müssen.
4_069_2017_11+12_0464
464 unsere jugend, 69. Jg., S. 464 - 472 (2017) DOI 10.2378/ uj2017.art70d © Ernst Reinhardt Verlag München Basel von Prof. Dr. Uwe Sielert Jg. 1949; Universitätsprofessor (a. D.) für Pädagogik mit den Schwerpunkten Sozial- und Sexualpädagogik an der Christian-Albrechts- Universität zu Kiel Sexuelle Bildung als zentraler Ansatz (auch) zum Schutz von Kindern und Jugendlichen Sexualisierte Gewalt vollzieht sich im Kontext des Sexuellen, sodass es nicht reicht, die Gewalt zu thematisieren. Sexualpädagogik beschäftigt sich seit Längerem mit „dem anderen Gesicht der Sexualität“ und sexuelle Bildung wirkt gewaltpräventiv, ohne sich dabei auf die Gefahren fixieren zu müssen. Eine wichtige Herausforderung der Sozialen Arbeit - und darin der Kinder- und Jugendhilfe - besteht darin, den gegenwärtig dominierenden Gefahrendiskursen und den daraufhin etablierten Sicherheitskonzepten (Beschwerderegelungen, Partizipationsmöglichkeiten, Strategien der Intervention bei Missbrauchsverdacht und erwiesenen Übergriffen etc. eine ebenso ernst genommene und lebenswelttaugliche sexuelle Bildung zur Seite zu stellen (Sielert 2016). Lebenswelttauglich sind alle Maßnahmen, die tatsächlich sexuell bilden, die an den realen Erfahrungen und Bedürfnissen anknüpfen, die vorhandene Lebensressourcen und Selbstbestimmungsinteressen berücksichtigen, die konkret und brauchbar sind und gleichzeitig neue Schritte in ein gelingendes Sexual- und Liebesleben animieren. Das kann mit der schon immer in der Jugendarbeit partizipativ entwickelten didaktischen Vielfalt der sexualpädagogischen Seminare, Projekte, Aktionen und Medien geschehen, muss aber in den Handlungsfeldern der Erziehungshilfe zusätzlich noch erweitert werden. Auch wenn in sozialen Brennpunkten statt von „sexueller Verwahrlosung“ eher von materieller und sozial-emotionaler Deprivation die Rede sein sollte, reichen Sozialpolitik und Sozialpädagogik als Antwort nicht aus. Sexualerziehung muss hinzukommen, die bei den Menschen die Fähigkeit und Bereitschaft zur sexuellen (Selbst-)Bildung erhöht. Gerade die Klientinnen und Klienten der Sozialen Arbeit sind nicht allein durch materielle und soziale Besserstellung in der Lage, mit ihren Begierden und Sehnsüchten selbstbestimmt umzugehen. Hinzukommen muss die Befähigung zur Subjektivität im Bereich der eigenen sexuellen Identität als handlungskompetente und relativ autonome‚Sorge um sich selbst‘ (Schmidt/ Sielert 2012). Sexuelle Bildung vollzieht sich im Lebensalltag der Kinder- und Jugendlichen Wenn sich Menschen im wuseligen Alltag ihrer Lebenswelt auch sexuell selbst bilden und dabei versuchen, den oft zufälligen und nicht im- 465 uj 11+12 | 2017 Sexuelle Bildung mer erfolgreichen Erlebnissen durch Selbstreflexion, Gespräche mit anderen, Internetrecherchen und erneute Versuche sexueller Interaktion eine selbstgewollte Richtung zu geben, müssen sich alle dabei hilfreichen Impulse von außen an diesen Alltagserfahrungen orientieren. Intendierte sexuelle Bildung kann dazu beitragen, dass die oft zufällig erfahrenen sexuellen Lernprozesse nicht richtungslos und vor allem nicht selbst- und fremdschädigend verarbeitet werden. Diejenigen, die sich darum bemühen, müssen ganz im Sinne des sozialpädagogischen Lebensweltansatzes auch das Sexuelle im Alltag der Menschen ernst nehmen, aushalten, zum Teil auch teilen und aus den eigenen produktiven Möglichkeiten heraus Lernprozesse initiieren, also Alltag strukturieren, aufklären, verbessern (Thiersch 1992). Das muss oftmals angeregt werden durch konfrontative sexualerzieherische Trainings, in denen notwendige Schamschranken etabliert werden, kann auch animiert werden durch aufklärende Gespräche mit unbequemen Fragen und Angebote zur Selbstreflexion, vor allem aber durch attraktive Alternativen zu den bisherigen oft selbstschädigenden sexuellen Bewältigungsweisen. Es geht dabei nicht um die Kultivierung eines Habitus der Dominanzkultur oder die Empfehlung einer partikulären Sexualmoral, wohl aber um die Befähigung zur Subjektivität im Kontext der eigenen Lebensbedingungen. Das kann bedeuten, ein wenig „richtiges Leben im Falschen“ zu etablieren, eine Strategie, die trotz der These des kritischen Sozialphilosophen Adorno, es gäbe „kein richtiges Leben im Falschen“ (Adorno 1997, 43), pädagogisch immer wieder versucht werden muss. Prekäre Lebensverhältnisse bringen in der Regel auch prekäre Sexualverhältnisse hervor Schetsche/ Schmidt 2010). Prekäre Lebensverhältnisse zu reparieren oder präventiv zu mindern ist eine vor allem politische Aufgabe, sexuelle Bildung ist damit überfordert. Aber sie kann Resignation vermeiden und Heranwachsende mit ihren Beschädigungen unsere ermutigende Begleitung anbieten und das möglichst konkret, in der richtigen Reihenfolge. In der Zuwendung zu einem 6-jährigen Kind einer Kindertagesstätte, das der Erzieherin mitteilt: „Mir juckt die Muschi und es tut weh“ geht es beispielsweise nicht darum, sich zuerst um eine alternative Sprachregelung zu kümmern, sondern um Wundversorgung und um die Suche nach möglichen Ursachen. Es ist wichtiger, sich über die Frage eines 16-Jährigen nach dem, was Frauen sexuelle Lust bereitet, zu freuen, statt sich in erster Linie über seinen Bericht zu entsetzen, dass sein größerer Bruder seine Freundin auf der Wohnzimmercouch vögelt, während er auf derselben Couch fernsieht. Eine ihren besonderen Interessen und Bedürfnissen sowie Ressourcen angemessene sexuelle Bildung muss gemeinsam mit den Menschen entwickelt werden, die es betrifft. Es geht um jene Leitlinie, die für jede gute Lebenswelt orientierte Sozialpädagogik gilt, also auch für eine sozialpädagogische Haltung, in deren Kontext Sexualität bewusst integriert wird: Sexuelle Lebenswelten verstehen, Menschen darin freundlich begleiten, aus ihrem Kontext heraus Angebote machen und strukturelle Hilfestellungen geben. Verstehen meint, das vorhandene Milieu der Klientinnen und Klienten nicht von vornherein als schädigend und defizitär zu begreifen, sondern als soziale und sexuelle Praxis, die um funktionale Äquivalente erweitert werden kann. Wie schon an obigen Beispielen deutlich wurde, ist es sicher schwer, aber nötig, in den Lebenswelten von manchen Kindern und Jugendlichen die für sie progressiven Elemente der Lebensbewältigung zu entdecken und zu würdigen. Das gilt noch mehr für Strichjungen, Gang-bang-Peers, Missbrauchsfamilien und GangstaRap-Cliquen. Dazu sind persönliche und professionelle Qualitäten notwendig, die nicht bei allen pädagogisch Tätigen vorausgesetzt werden können. Um fremde Lebenswelten zu verstehen, ist zudem immer die Reflexion des eigenen Milieus unabdingbar. Nur mit einer durch Selbstreflexion geschärften 466 uj 11+12 | 2017 Sexuelle Bildung Brille kann sexuelle Vielfalt und Fremdes angesehen und anerkannt werden. Umgang mit Verschiedenheit meint hier eine gewisse Interkulturalität, die nicht auf differenten Ethnien beruhen muss, sondern auf unterschiedlichen sexuellen Erfahrungen, Praktiken, Gewohnheiten und Wertmaßstäben. Nur so können Hintergründe verstanden und gegebenenfalls vorhandene Unbalancen erspürt werden: Solche zwischen Lust und Beziehung, Schutzbedürfnis und Konflikt, Selbst- und Fremdbestimmung (Sielert 2015). Menschen in ihren (auch sexuellen) Lebenswelten freundlich begleiten meint, sie nicht zu kolonisieren und ihnen die Moral der Dominanzkultur anzuempfehlen oder gar aufzudrücken. Freundlich wird ein Begleiten genannt, das konkretes Verhalten und dahinterstehende Einstellungen kritisiert, die Person aber immer anerkennt und zu stärken versucht. Begleiten meint, im Alltag präsent zu sein, ein Stück Lebensalltag im Milieu mitzuerleben. Das wird ermöglicht durch Vertrauen und Autorität. Vertrauen wächst durch Mittun und authentisch sein. Gemeint ist selbstverständlich selektive Authentizität. Es geht also nicht darum, alles (möglicherweise die spontan gefühlte Abneigung) offen auszuagieren, sondern nur jene Teile, die das Gegenüber weiterbringen. Sich selbst als Beispiel zu zeigen und etwas für die Atmosphäre zu tun gehört ebenso dazu wie Position zu beziehen, Grenzen zu setzen, zu konfrontieren, sich einzumischen. Nur dann kann aus diesem Kontext heraus nach alternativen und weiterbringenden Lebensmöglichkeiten gesucht und können konstruktive Alternativen entwickelt werden. Das ist gerade für Sexualpädagoginnen und -pädagogen nicht immer einfach, weil es schon schwer ist, manches Verhalten zu verstehen, das ihnen‚die Haare zu Berge stehen lässt‘. Dennoch besteht die Kunst der pädagogischen Intervention darin, aus der Lebenswelt der Klientinnen und Klienten heraus mit den ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln Verhaltensalternativen zu finden. Es ist nämlich didaktische Phantasie vonnöten, auch in fremden Milieus Spannungsbögen aufzubauen zwischen dem Bekannten und dem kleinen neuen Lernschritt. In jedem Fall sind Kulturpessimismus und Moralisieren angesichts - vom eigenen Verhaltensmuster - abweichender Sexualitäten unangebracht. Gefragt sind: Ansehen können, Hintergründe verstehen, das Faszinierende nachfühlen und schließlich Äquivalente suchen und anbieten. Strukturelle Hilfestellungen zur sexuellen Bildung bestehen z. B. darin, Zeit und Räume zur Verfügung zu stellen, in denen - vom Handlungsdruck der vielleicht desolaten Familiensituation entlastet - geredet werden kann. In ambulanten oder stationären Erziehungshilfen müssen Ermöglichungsräume für gewaltfreie, intime Erfahrungen geschaffen werden. Im Jugendzentrum kann das Equipment zur filmischen Dokumentation der eigenen Liebeswünsche zur Verfügung gestellt werden. Niedrigschwelliger Kontakt zu Beraterinnen und Beratern ermöglicht in allen Einrichtungen der Sozialen Arbeit, auch Unangenehmes und Peinliches zu besprechen. Es können Informationen (Broschüren, Internetadressen, Notrufnummern) angeboten werden, durch die bei Bedarf Hilfreiches erfahren wird. In Einrichtungen für Menschen mit Behinderungen und in Altenheimen ist die Möglichkeit der Sexualassistenz zu prüfen. Zu den strukturellen Rahmenbedingungen gehört (auch) sexuell gebildetes Personal. Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Jugendhilfe beispielsweise haben mit vielfältigen emotionsgeladenen, intimen Themen und Konflikten zu tun, in denen Sympathie, Zärtlichkeit, körperliche Nähe, wie auch Ohnmacht, Wut, Hass und Ablehnung vorkommen. Angesichts der psychosexuellen Entwicklung werden Klientinnen und Klienten auch nicht nur sexualerzieherisch auf ihr zukünftiges Leben oder das Leben außerhalb der Einrichtung vorbereitet, sondern sie erfahren ‚sexuelle Bildung‘ im ‚Hier und Jetzt‘ der Kommunikation unter- 467 uj 11+12 | 2017 Sexuelle Bildung einander, im Kontakt mit ihren Erziehenden und durch das Beispiel der intimen Kommunikation des Personals miteinander. „Sexualisation“ und intime Kommunikation finden immer statt, intendiert oder beiläufig, gelingend oder misslingend. Das verlangt von den Professionellen neben rein fachlicher Einsicht in psychosexuelle Lebenswelten viel an habitualisierter Fähigkeit zur situationsspezifisch immer unterschiedlichen Regulation von Nähe und Distanz, zur Reflexion und Selbstsorge. Zur Vermeidung von sexuellen Grenzverletzungen gehören Wissen um und transparentes Umgehen mit den Zusammenhängen von Sexualität und Macht. Eine gelebte Institutionsethik und Feedbackkultur, in deren Klima solche Themen produktiv gehandhabt werden können, beruht auf einem lebendigen Dialog zwischen dem offiziellen, sichtbaren und dem inoffiziellen, unterschwelligen System der jeweiligen Einrichtung. Sexualpädagogik braucht zu ihrer nachhaltigen Wirksamkeit eine entsprechende Sexualkultur (Sielert 2014). Sexuelle Bildung hat einen Wert an sich und wirkt dadurch gewaltpräventiv Ohne sich auf die Gefahren zu konzentrieren, ist sexuelle Bildung gewaltpräventiv wirksam. Wer selbstbewusst Wehrhaftigkeit und Klarheit ausstrahlt oder frühzeitig sagt, welcher Kontakt unangenehm ist; wer den eigenen Körper mag, die eigene Erlebnisfähigkeit entwickelt hat, wer in Beziehungen noch relativ autonom bleiben kann, sich der eigenen sinnlichen Ausstrahlung bewusst ist, kann auch mit unangenehmen Erfahrungen und eigenen Besonderheiten umgehen. Wer sich seiner erotischen Wirkung bewusst ist und Erlebnisalternativen kennt, muss nicht die zufällig sexuell motivierende Situation ausnutzen, um Bestätigung zu erfahren. Hinter abweichendem Verhalten und entsprechenden Präventionsanlässen verbergen sich in der Regel unbefriedigte Basisbedürfnisse und fehlgeleitete Sehnsüchte, die in der Alltagsroutine oder bei ungünstigen Sozialisationseinflüssen keinen adäquaten, sozial verträglichen Ausdruck gefunden haben. In modernen Konzepten der Lebenskompetenzförderung dienen sie als Ausgangspunkt für alternative Erlebnismöglichkeiten, sogenannte ‚funktionale Äquivalente‘. Meist geht es um Wünsche nach intensivem Leben, die in der Sexualität gelebt werden können: ➤ In der Regel geht es zunächst um das Bedürfnis nach der Freiheit, das Leben in die eigene Hand zu nehmen, ein Wunsch, der im verregelten Alltag ständig bedroht ist. Menschen wollen handlungsmächtig bleiben, und in sehr eingeschränkten Lebenslagen dienen gewaltsame Übergriffe der TäterInnen dazu, die Erfahrung zu machen, mächtig zu sein. ➤ Das, was erregt, was Spannung, auch Angstlust macht, kann nur bei abenteuerlichen Grenzgängen erfahren werden, von denen manche zu weit gehen und zu Selbst- und Fremdverletzungen führen. ➤ Rausch verspricht Glücksgefühle, manchmal auch Transzendenzerlebnisse, die für Alltagsroutine entschädigen sollen. Ausweichendes Verhalten wird zur Sucht, wenn es zum ständigen Bewältigungsversuch wird. ➤ Die Bewältigung von Risiken gehört zu den Entwicklungsaufgaben Jugendlicher, kann aber bei ständigen Ohnmachtserfahrungen in Form von Gewalt gegen Schwächere gewandt werden. ➤ Menschen brauchen bei langfristigen Anstrengungen regressive Situationen, in denen sie loslassen, sich fallen lassen können. Wenn das nicht mit gängigen Entspannungsmedien gelingt, können Süchte entstehen. 468 uj 11+12 | 2017 Sexuelle Bildung Und alles soll Sinn machen, den sich jeder aber selbst suchen und entwickeln muss. Gesucht und erlebt wird Beachtung und Anerkennung am wirksamsten auf dem Gebiet der Liebeserfahrungen. Wem es nicht gelingt, das in wechselseitigem Einvernehmen zu erreichen, sucht es vielleicht durch sexuelle Übergriffe. Viele der genannten Basisbedürfnisse und Sehnsüchte können in einem gelingenden Sexualleben befriedigt werden. Menschen suchen in der Sexualität mit all ihren Facetten von der Verliebtheit bis zur Liebe, von zärtlichen Annäherungen bis zur leidenschaftlichen Ekstase Erlebnisse von Freiheit ebenso wie von Hingabe und Regression. Sie vollziehen Grenzgänge und begeben sich mit Angstlust in Risikosituationen in der Hoffnung auf Glücks- und Sinnerfahrungen. Vor allem geht es um Gemeintsein und Anerkennung. Es lohnt sich, in sexuelle Bildung zu investieren, damit solche Wünsche auf dem minenreichen Sexualitätsfeld zumindest gelegentlich gelingen und Frustrationen hilfreich begleitet werden. Sprache hilft, Gewolltes und Ungewolltes zu benennen Was schon im privaten Kontext und innerhalb der persönlichen Lebenswelt nicht einfach ist, verkompliziert sich noch einmal angesichts diverser Handlungsfelder und divergenter Sexualkulturen in der Sozialen Arbeit. Der grundsätzliche Anspruch an eine diversitätssensible Arbeit reicht von der „leichten Sprache“ bei der Beratung von Menschen mit geistiger Behinderung bis zu queertheoretischen Auseinandersetzungen in den Inklusionsworkshops einer Jugendbildungsstätte, von den sexualethischen Debatten katholischer Pfadfinder bis zu Konfliktgesprächen mit jungen Strichern in der Straßensozialarbeit. Angemessene Sprachmuster und Kommunikationsweisen unterscheiden sich in diesen verschiedenen Sprechsituationen schon allein aufgrund divergenter Intentionen und Werthaltungen, die beim Thema Sexualität noch einmal eine besondere Note bekommen. So können sexuelle Themen allein sprachlich von unterschiedlichen Personen und in bestimmten Situationen als mehr oder weniger passend oder sogar gewaltsam erlebt werden. Dennoch kann verallgemeinernd ausgesagt werden: Mit einer erhöhten sexuellen Sprachfähigkeit kann jemand in der seiner Lebenswelt angemessenen sexuellen Kommunikation deutlicher sagen, was sie oder er will, vor allem auch nicht will, kann ein Kind anderen z. B. genauer davon berichten, wie genau es wo bedrängt worden ist. Jugendliche können sich vielfältig informieren, weil sie sowohl die Sprache der Aufklärungsbroschüren und der Freunde verstehen, können Sprache beim sexuellen Tun zur Stimulation einsetzen wie auch zum ‚cool down‘, können von und über Sexualität reden. Wer in etwa weiß, was „fisting“, „gang bang“ und „griechisch“ bedeutet, kann tabuloser weitererzählen, was auf der Party, im Auto oder in der Gartenlaube passiert ist. Mit ethischem Bewusstsein das Begehren bedenken Dass die sexualmoralische „Einhegung“ des Begehrens sexuelle Grenzverletzungen, Instrumentalisierungen und Machtmissbrauch im Geschlechterverhältnis verhindern soll, gehört zu den selbstverständlichen Annahmen, wenn von verantwortlich gelebter Sexualität die Rede ist (Dabrock 2015). Was damit aber genau gemeint ist, und vor allem wie eine nichtrepressive Sexualmoral erfolgen kann, bleibt häufig außer einigen Hinweisen auf Selbstbestimmung und die allseits anerkannte Verhandlungsmoral seltsam nebulös. Dabei könnten im alltäglichen Miteinander einfache Botschaften der im ersten Moment kompliziert anmutenden ethischen Grundbegriffe zur Sprache ge- 469 uj 11+12 | 2017 Sexuelle Bildung bracht werden und konkretes Verhalten entscheidend helfen. Kinder und Jugendliche befinden sich, wie auch Erwachsene, ständig in sexuellen Dilemmatasituationen, die mithilfe sexualmoralischer Bildung bewältigt werden können. Wer selbst genau spürt, was er will und seinem Gegenüber Raum lässt, das auch zu tun, wer dabei Gemeinsames mit Respekt auszuhandeln versteht und dabei konkrete Situationen berücksichtigt und wer in seinen primären Beziehungen eine Ahnung davon bekommen hat, was Liebe und Anerkennung bedeutet, wird selten gewalttätig. Das alles klingt schon wieder lebensweltfremd im Jugendhilfekontext, bleibt dennoch Leitlinie für eine beratende, manchmal auch autoritative Grenzsensibilisierung für sexuelle Interaktionen. Alles ist übersetzbar in konkrete Normen des Umgangs zwischen Erziehenden und KlientInnen wie auch einer Clique oder Wohngruppe. Dass dabei schlechte Sozialisationserfahrungen und kulturelle Besonderheiten berücksichtigt werden müssen, sollte für SozialpädagogInnen selbstverständlich sein, die mit heterogenen Kindern und Jugendlichen arbeiten. Die religiös-dogmatischen Eiferer und Besorgnis erregenden Eltern der „Demo für alle“ versuchen bei vielen tatsächlich besorgten Bürgern die Vorstellung zu nähren, als bedeute sexuelle Bildung nur die Verbreitung von Kondomtechniken, Sexualpraktiken und abweichenden sexuellen Orientierungen (Kuby 2014). Dass sich gerade mit diesen erregt skandalisierten Sachverhalten wertvolle ethische Entscheidungen thematisieren lassen und Bildung immer auch die Verhandlung von Werten, Tugenden und Normen mit gewaltpräventiver Absicht zum Gegenstand hat, darf nicht wertkonservativen DogmatikerInnen überlassen bleiben. Moralerziehung muss von sexualpädagogischer Seite wieder deutlicher akzentuiert und tatsächlich umgesetzt werden. Sie stärkt damit gleichzeitig ihre gewaltpräventive Seite. „Das Menschsein kommt vor dem Geschlechtsein“ Mit diesem Karl Jaspers zugeschriebenen Zitat wird darauf hingewiesen, dass dem konkreten Individuum in Zweifelsfällen Vorrang gebührt und solche Zweifelsfälle ergeben sich, wenn das Geschlecht eines Menschen nicht eindeutig feststellbar ist oder sich jemand in seinem Körpergeschlecht nicht zu Hause fühlt oder einfach mit seinem Verhalten nicht den Prinzipien ideologischer Männlichkeit oder Weiblichkeit entspricht. Geschlechtssensible sexualpädagogische Jungen- und Mädchenarbeit wie auch die Akzeptanz von homo-, bi-, trans- und intersexuellen sowie sich als queer verstehenden Menschen wirken gewaltpräventiv, weil sie stereotype Zuschreibungen und Diskriminierungsfolgen verhindern. „Untypisches“ Jungen- und Mädchenverhalten, das aber der individuellen Gefühlswelt und dem vielfältigen Ausdruck von subjektiven Lebensäußerungen entspricht, wird durch geschlechtssensible sexuelle Bildung geschützt und vor Beschimpfung, Mobbing und Ausgrenzung im weitesten Sinne bewahrt. Mit den vielen didaktischen Anregungen für eine reflektierte Koedukation und die Befreundung mit auch geschlechtlich Fremdem in der einzelnen Person und im Kontakt miteinander arbeitet sexuelle Bildung gewaltpräventiv. Bei diesem Thema wird besonders deutlich, wie sehr sie dabei die Ursachen für Ausgrenzung und Gewalt bearbeitet, die in einem rein gewaltpräventiven Kinderschutz aktuell vielleicht wirksam, langfristig aber nicht ausreichend eingeschränkt werden können. Produktiver Umgang mit aggressiven Anteilen von Sexualität kann sexualisierte Gewalt mindern Sexualpädagogik als Basisdisziplin der sexuellen Bildung befasst sich differenziert mit dem Verhältnis von Sexualität, Aggression und Gewalt. Aggression wird sexualwissenschaftlich 470 uj 11+12 | 2017 Sexuelle Bildung auch als ungerichtete Lebensenergie des „Primärprozesshaften“ (Morgenthaler 1984) begriffen, das durch gesellschaftlich bedingte Sozialisation und Erziehung konstruktiv als heftige und lebendige Sexualität erlebt oder auch als entgleiste sexuelle Gewalt geformt werden kann (Schorsch 1989). Dazwischen gibt es alle Mischungen, die subjektiv ganz unterschiedlich erlebt, bewertet und in Sexualbeziehungen - wenn‘s gut geht - ausgehandelt werden. Die aggressiven Anteile im Sexuellen haben vermutlich ihren Ursprung in der Angst vor Hingabe und der damit verbundenen Abhängigkeit, vor Bindung und Verlassen werden, vor dringenden Begehrlichkeiten und der Angst, damit alleingelassen zu werden. Hinzu kommen in desolaten sexuellen Familienverhältnissen außergewöhnliche mit sexueller Energie gekoppelte Gewalt- und Demütigungserfahrungen sowie aus unsicheren Bindungsformen hervorgegangene extreme Ängste vor Hingabe und Abhängigkeit. Wesentlich ist in diesem Denken, dass dem Wünschenswerten und dem Destruktiven ein und dieselbe Quelle zugrunde liegt, sodass man bei der Bekämpfung von Gewalt sehr vorsichtig sein muss, um nicht die primärprozesshafte aggressive Lebensenergie gleich mit auszumerzen. Jede Leidenschaft wird dann verunmöglicht und Sexualität weder widerständig noch als Kraftquelle erlebt. Das dort noch untrennbar Zusammenwirkende wird bei einer nur friedfertigen, leisen, zärtlich definierten Sexualität aufgeteilt: Hier Aggressivität - dort Zärtlichkeit, hier Abgrenzung - dort Rücksicht, hier Distanz - dort Nähe, hier Kampf - dort Friedlichkeit. Eine in diesem Sinne friedfertige Sexualerziehung würde also gerade den Schatten produzieren, den sie zu bekämpfen vorgibt. Die gleichen Jugendlichen zeigen sich dann in der Schule von einer sozial erwünschten Seite der „sexual correctness“ und leben an anderer, weniger sozial kontrollierten Stelle Gewaltphantasien und Gewalttatsachen aus (Sielert 1990). Kinder und Jugendliche (auch Erwachsene) empfinden Lust beim heftigen Körperkontakt, an der Bewegung, beim Streiten und Raufen. Gerade viele Jungen lieben es, zunehmend aber auch Mädchen, beim Ringen und Raufen auch sexuell sensible Stellen zu berühren und sich dort berühren zu lassen. Die Behandlung des Themas „Gewalt“ sollte also nicht dazu führen, dass jede Form von Aggression in diesem beschriebenen Sinn negativ besetzt und „ab-erzogen“ wird. Die Ambivalenz aggressiver Energie kann am Begriff „Anmache“ deutlich werden: Er meint zum einen eine unerwünschte Grenzübertretung, zum anderen wird er auch als willkommenes Kontaktangebot verstanden. Zudem erfolgt jede Persönlichkeitsentwicklung auch aufgrund von schmerzhaften, verwirrenden, enttäuschenden und überfordernden Erfahrungen, als Folge von Störungen und Brüchen. Jugendschutz, der vor allem bewahrt, der ihnen den Umgang mit der unheilen Welt ersparen will, schwächt sie statt zu stärken. Daher ist es wichtig, auch sexuelle Grenzüberschreitungen differenziert zu betrachten, sowohl in ihren Entstehungsbedingungen als auch in ihrer Wirkung! Diese psychodynamische und realitätsnahe Interpretation des Verhältnisses von aggressiven und zärtlichen Seiten der Sexualität verbietet zugleich die Diffamierung der männlichen Sexualität als gewaltvoll gegenüber einer davon als gewaltlos abgesetzten weiblichen Variante. Gleichzeitig wird sexuelle Bildung verpflichtet, sich der Prävention und Bekämpfung sexualisierter Gewalt anzunehmen und eine klare Grenze zu ziehen zwischen „gewaltiger und gewalttätiger Sexualität“, was mithilfe der Kriterien von Freiwilligkeit, Machtgleichheit und Anerkennung menschlicher Würde vorgenommen werden kann. Dass diese Grenzziehung in Einrichtungen der Jugendhilfe von besonderer Bedeutung ist, hängt mit den auch sexuell meist gewalterfahrenen Kindern und Jugendlichen zusammen. Gleichzeitig scheitert aber ein sich gewaltpräventiv verstehender Kinderschutz, der in jeder - im positiven Sinne - aggressiv getönten sexuellen Lebensäußerung einen auszumerzenden Gewaltakt vermutet. 471 uj 11+12 | 2017 Sexuelle Bildung Vielfaltsakzeptanz wirkt gewaltmindernd und sexuelle Bildung damit politisch Vielfalt ist Realität, auch im Sexuellen. Jeder Mensch entwickelt seine individuelle sexuelle Identität, die ihm helfen kann, mit existenziellen Bedürfnissen nach Lust, Beziehung und Sinn, Angstbewältigung und Machtregulation umzugehen. Damit wird Zwischenmenschlichkeit unübersichtlich, weil die Besonderheit des Anderen zunächst als fremd erscheint und beim Fremden weiß „man“ im Gegensatz zum Feind nicht, wie er sich verhält. Das ist unbequem und kann Angst machen. Zudem ist Vielfalt, auch sexuelle Vielfalt, zunächst nicht gut oder schlecht. Manches ist tatsächlich gefährlich, selbst- und fremdschädigend und muss genauer betrachtet werden. Auch das kann verunsichern und zu pauschalen Ausschlussverfahren führen. Gewaltprävention ist dann für manche selbsternannte Kinderschützer Sexualprävention, weil Sexualität prinzipiell Angst macht und sich Gewalt einschleichen kann. In jedem Fall ist Vielfalt herausfordernd, denn sie verkörpert immer mehr und anderes, als Einzelne von sich selbst kennen oder gewohnt sind. Wenn es stimmt, dass sich alles, was im Leben vorkommt, auch im Sexuellen wiederfindet, dann gilt die Herausforderung mit Vielfalt, so gut es geht, zu leben, auch für sexuelle Vielfalt. Und es geht darum, Kinder und Jugendliche, ebenfalls so gut es geht, darauf vorzubereiten, in dieser Vielfalt des sexuellen Lebens einen Platz zu finden. Womit sich sexuelle Bildung den Vorwurf der „Frühsexualisierung“ und des „Genderwahns“ eingehandelt hat. Auf Selbstbestimmung abzielende und auf die realen Gefilde erwachsener Sexualitäten vorbereitende Sexualpädagogik gefährde, desorientiere, übersexualisiere und pornografisiere die Jugendlichen (Kuby 2014). Ob nun auf Kinder- oder Jugendleben bezogen, die Angriffe auf sexualitätsfreundliche Bildung sind haltlos, die Bedrohungen durch sie phantasiert und von tiefem Misstrauen in die Möglichkeit von Heranwachsenden erfüllt, aus eigenen Erfahrungen und in Auseinandersetzung mit Erfahrungen anderer zu lernen, was ihnen und anderen gut tut (Tuider/ Timmermanns 2015). Kontraproduktiv für gelingenden Kinder- und Jugendschutz ist es, mit moralistischen Panikattacken Kinder und Jugendliche zu präsexuellen Wesen zu verklären, die in ihrer Unschuld geschützt werden müssten. Bei den Kritikerinnen und Kritikern einer Sexualpädagogik der Vielfalt handelt es sich um eine gut vernetzte und dabei außerordentlich intransparente Koalition von zahlreichen Gruppierungen und Organisationen, aus fundamentalistischen katholischen und evangelischen Kreisen, besonders traditionalistischen Teilen der rechtspopulistischen Partei AfD und dazugehörigen Online-Nachrichtenportalen wie Freie Welt und Junge Freiheit. Mehrheitlich engagieren sich hier BürgerInnen und JournalistInnen mit und ohne akademische Ausbildung, nicht jedoch FachwissenschaftlerInnen aus den Bereichen der Pädagogik und den Sozialwissenschaften. Ihre Positionen und Forderungen lancieren sie öffentlichkeits- und politikwirksam in Print- und Online-Medien. Sexualität ist ihnen ein willkommenes, weil emotionales und skandalisierbares Thema, bei dem äußerst wirksam Fehlinformationen und Dekontextionalisierungen von Aussagen zur sexuellen Bildung vorgenommen werden können (Kemper 2014). Am deutlichsten zeigt sich hier die politische Dimension sexueller Bildung, der nur mit breitenwirksamer Aufklärungsarbeit und sachlichen Auseinandersetzungen sowie Informationen über die angeblichen Kinderschutzstrategien völkischer und religiös dogmatischer Gruppierungen und Parteien entsprochen werden kann. Prof. Dr. Uwe Sielert Christian-Albrechts-Universität zu Kiel Olshausenstr. 75 24118 Kiel Tel. (04 31) 8 80-12 25 / -12 13 E-Mail: sielert@paedagogik.uni-kiel.de 472 uj 11+12 | 2017 Sexuelle Bildung Literatur Adorno, T. W. (1997): Minima Moralia. Gesammelte Schriften 4. Suhrkamp, Frankfurt/ M. Dabrock, P., Augstein, R., Helfferich, C., Schardien, St., Sielert, U. (2015): Unverschämt - schön. Sexualethik: evangelisch und lebensnah. Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh Kemper, A. (2014): Keimzelle der Nation Teil II. Wie sich in Europa Parteien und Bewegungen für konservative Familienwerte, gegen Toleranz und Vielfalt und gegen eine progressive Geschlechterpolitik radikalisieren. Friedrich-Ebert-Stiftung, Berlin Kuby, G. (2014): Die globale sexuelle Revolution. Zerstörung der Freiheit im Namen der Freiheit. medienverlags-gmbh, Kießlegg Morgenthaler, F. (1984): Sexualität und Psychoanalyse. In: ders. Homosexualität Heterosexualität Perversion. Qumram, Frankfurt a. M. Schetsche, M., Schmidt, R. B. (2010): Sexuelle Verwahrlosung. Empirische Befunde - Gesellschaftliche Diskurse - Sozialethische Reflexionen. VS, Wiesbaden Schmidt, R.-B, Sielert, U. (2012): Sexualpädagogik in beruflichen Handlungsfeldern. Bildungsverlag EINS, Köln Schorsch, E. (1989): Versuch über Sexualität und Aggression. Zeitschrift für Sexualforschung, Jg. 2, Heft 11, 14 - 27 Sielert, U. (2016): Sexualität ist politisch. Forum Gemeindepsychologie, Jg. 21, Ausgabe 1 Sielert, U. (2015): Einführung in die Sexualpädagogik. Beltz, Weinheim/ Basel, 47 - 50 Sielert, U. (2014): Sexualerziehung, sexuelle Bildung und Entwicklung von Sexualkultur als sozialpädagogische Herausforderung. In: sozialmagazin, 39. Jg. H. 1 - 2, 38 - 45 Sielert, U (1990): Sexualerziehung und das andere Gesicht der Sexualität. In: Herrath, F., Sielert, U.: Jugendsexualität. Zwischen Lust und Gewalt. Hammer Verlag, Wuppertal, 49 - 66 Thiersch, H. (1992): Lebensweltorientierte Soziale Arbeit. Juventa, Weinheim/ München Tuider, E., Timmermanns, St. (2015): Aufruhr um die sexuelle Vielfalt. In: sozialmagazin 40. Jg. H. 1 - 2
