unsere jugend
4
0342-5258
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
111
2017
6911+12
Institutionelles Schutzkonzept zur Prävention sexualisierter Gewalt
111
2017
Burkhard Rooß
Nah- und Abhängigkeitsbereiche in Einrichtungen für Kinder und Jugendliche bergen spezifische Risiken, die potenzielle Täter und Täterinnen für sexualisierte Gewalt strategisch ausnutzen können. Ein institutionelles Schutzkonzept soll diese Risiken minimieren. Erste Empfehlungen für einrichtungsspezifische Entwicklungsprozesse lassen sich aus Erfahrungen im Erzbistum Berlin ableiten.
4_069_2017_11+12_0489
489 unsere jugend, 69. Jg., S. 489 - 496 (2017) DOI 10.2378/ uj2017.art73d © Ernst Reinhardt Verlag München Basel Institutionelles Schutzkonzept zur Prävention sexualisierter Gewalt Ein Erfahrungsbericht aus dem Erzbistum Berlin Nah- und Abhängigkeitsbereiche in Einrichtungen für Kinder und Jugendliche bergen spezifische Risiken, die potenzielle Täter und Täterinnen für sexualisierte Gewalt strategisch ausnutzen können. Ein institutionelles Schutzkonzept soll diese Risiken minimieren. Erste Empfehlungen für einrichtungsspezifische Entwicklungsprozesse lassen sich aus Erfahrungen im Erzbistum Berlin ableiten. von Burkhard Rooß Jg. 1966; Dipl. Pädagoge, seit 2012 Beauftragter zur Prävention von sexualisierter Gewalt im Erzbistum Berlin Zum Hintergrund Nach Offenbarwerden von Fällen sexuellen Missbrauchs in Einrichtungen der Katholischen Kirche in Deutschland seit 2010 und im Rahmen der Aufarbeitung auch deutlich gewordenen Vertuschungspraktiken wurden in den 27 Diözesen der Katholische Kirche und den eigenständigen Ordensgemeinschaften umfangreiche Präventionsmaßnahmen eingeleitet. Diese zielen darauf, ➤ sexualisierte Gewalt in katholischen Einrichtungen zu verhindern bzw. deren Risiken zu reduzieren und ➤ schnelle und nachhaltige Hilfe für Kinder und Jugendliche einzuleiten, die außerhalb der Einrichtung von sexualisierter Gewalt betroffen sind. Mit Unterstützung durch - auch nicht-kirchliche - Fachberatungsstellen sind aktuelle Erkenntnisse der Präventionsarbeit aufgegriffen und als verpflichtende Anforderungen in kirchenrechtlichen Ordnungen festgeschrieben worden. Die von der Deutschen Bischofskonferenz (2013) und der Deutschen Ordensobernkonferenz (2014) jeweils verabschiedete Rahmenordnung Prävention gegen sexualisierte Gewalt an Minderjährigen und erwachsenen Schutzbefohlenen stellt die Grundlage für die in den Diözesen bzw. Ordensgemeinschaften konkretisierten Präventionsordnungen. Diese werden regelmäßig überprüft und weiterentwickelt. Grundlage für die Ausführungen in diesem Artikel ist die „Ordnung zur Prävention von sexualisierter Gewalt an Minderjährigen und erwachsenen Schutzbefohlenen im Bereich des Erzbistums Berlin (Präventionsordnung)“ vom 1. 7. 2014 (Erzbistum Berlin 2014) sowie die Arbeitshilfe „Institutionelles Schutzkonzept zur 490 uj 11+12 | 2017 Institutionelles Schutzkonzept zur Prävention Prävention von sexualisierter Gewalt in der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen“ (Erzbischöfliches Ordinariat Berlin 2017). Institutionelle Risikofaktoren Aufarbeitung und aktuelle Geschehnisse nicht nur in katholischen Einrichtungen zeigen, dass sich Täter und Täterinnen von Institutionen angezogen fühlen und Schwachstellen strategisch ausnutzen. Erleichtert wird dies, wenn ein entsprechendes Risikobewusstsein und institutionelle Schutzmechanismen fehlen. Dabei lassen sich drei Ebenen als besondere Risikofaktoren unterscheiden (Bange 2015, 139f; Bundesministerium der Justiz, Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, Bundesministerium für Bildung und Forschung 2011 b, 7): Risikofaktoren auf Träger- und Leitungsebene ➤ Abschottung und Exklusivitätsanspruch einer Einrichtung nach außen ➤ rigider, autoritärer Leitungsstil ➤ intransparente Entscheidungskriterien ➤ unzureichende fachliche Kontrolle der Mitarbeitenden ➤ mangelnde Wertschätzung der Arbeit der Mitarbeitenden durch die Leitung ➤ fehlende regelmäßige Dienstbesprechungen, Personalentwicklungsgespräche und Stellenbeschreibungen ➤ kein strukturiertes Einstellungsverfahren, in dem der Schutz vor sexualisierter Gewalt angesprochen wird ➤ erweiterte Führungszeugnisse werden nicht eingesehen ➤ kein systematisches Beschwerdemanagement ➤ kein Raum für die gemeinsame Entwicklung pädagogischer Konzepte ➤ die fachliche Weiterentwicklung der Mitarbeitenden wird nicht gefördert ➤ Verzicht auf Supervision ➤ kein Ablaufplan für den Umgang mit Verdachtsfällen Risikofaktoren auf Ebene der Mitarbeitenden ➤ unzureichendes Basiswissen im Bereich sexualisierte Gewalt ➤ fehlende Reflexion von Macht in pädagogischen Beziehungen ➤ private Kontakte zwischen Kindern und Betreuenden ➤ keine bewusste Gestaltung von Nähe und Distanz in pädagogischen Beziehungen ➤ es existiert eine sexualisierte Kommunikation ➤ oftmals bestehende erotische Anziehung zwischen Betreuten und BetreuerInnen wird tabuisiert ➤ Kritik gilt untereinander als unzulässig, fehlende Streitkultur ➤ kaum Selbstreflexion ➤ Mobbing und sexuelle Belästigung unter den Mitarbeitenden ➤ persönliche Krisen, Alkoholabhängigkeit, Drogenmissbrauch o. Ä. ➤ kommerzielle kriminelle Interessen Risikofaktoren beim pädagogischen Konzept ➤ sexueller Missbrauch wird als Thema ausgeblendet ➤ verbindliche Regeln für Fachkräfte zum Umgang mit Minderjährigen fehlen ➤ Vernachlässigung von Kinderrechten und Mitbestimmungsrechten ➤ fehlende Beschwerdemöglichkeiten für Mädchen und Jungen ➤ pädagogische Orientierung an traditionellen Geschlechterrollen ➤ fehlendes sexualpädagogisches Konzept ➤ gering ausgeprägte Beteiligung der Eltern bzw. Personensorgeberechtigten 491 uj 11+12 | 2017 Institutionelles Schutzkonzept zur Prävention Keine Einrichtung, in der sich Kinder und/ oder Jugendliche aufhalten, in denen sie betreut, begleitet, gefördert, gebildet oder erzogen werden, ist vor den genannten Risiken gefeit. Ein institutionelles Schutzkonzept versucht durch spezifische Maßnahmen die Risiken zu minimieren und Kinder und Jugendliche bestmöglich vor sexualisierter Gewalt zu schützen. Institutionelles Schutzkonzept Ein institutionelles Schutzkonzept ist mehr als die Summe von einzelnen Präventionsmaßnahmen. Ein Schutzkonzept benötigt als Fundament und Kitt zwischen den einzelnen Bausteinen eine Grundhaltung bei jeder und jedem einzelnen Mitarbeitenden, die geprägt ist von einer Kultur der Achtsamkeit. Dies bedeutet insbesondere (Bischöfliches Ordinariat Eichstätt 2013, 6): ➤ Kindern und Jugendlichen mit Wertschätzung, Respekt und Vertrauen zu begegnen ➤ ihre Rechte, ihre Unterschiedlichkeit und individuellen Bedürfnisse zu achten ➤ ihre Persönlichkeit zu stärken ➤ ihre Gefühle ernst zu nehmen und ansprechbar zu sein für die Themen und Probleme, die heranwachsende Menschen bewegen ➤ auf die Aufrichtigkeit von Kindern und Jugendlichen zu vertrauen ➤ ihre persönlichen Grenzen zu respektieren und zu wahren ➤ achtsam und verantwortungsbewusst mit Nähe und Distanz umzugehen ➤ offen zu sein für Feedback und Kritik und diese als Möglichkeit anzusehen, die eigene Arbeit zu reflektieren und zu verbessern Neben der persönlichen Grundhaltung ist die in einer Einrichtung gelebte und erlebte Umgangskultur von entscheidender Bedeutung. Prävention gedeiht insbesondere dann, wenn (Freund/ Erzbistum Berlin o. J.): ➤ die Ressourcen zu den Anforderungen passen (Personalschlüssel, Bezahlung, Umgang mit Krankheit etc.) ➤ pädagogisches Handeln gemeinsam - auch kritisch - reflektiert wird und Räume dazu geschaffen werden ➤ Fehler transparent gemacht werden dürfen und als Chance genutzt werden, die Qualität der Arbeit zu erhöhen ➤ Leitung als unterstützend erlebt wird und Leitungshandeln hinterfragt werden darf Kinder und Jugendliche müssen diese Haltung und Umgangskultur überall dort spüren und erleben können, wo sie in Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe, Pfarrgemeinden, Schulen, Sport u. a. Fachkräften und Ehrenamtlichen begegnen. Die Präventionsordnung des Erzbistums Berlin erhebt die Entwicklung eines Schutzkonzeptes für jeden katholischen Rechtsträger bzw. deren Einrichtungen zur zentralen Aufgabe. Die Bestandteile sind insbesondere: ➤ Personalauswahl und -begleitung: In Bewerbungsverfahren, Erstgesprächen mit Ehrenamtlichen und in der Personalbegleitung greifen die Personalverantwortlichen katholischer Träger das Thema sexualisierte Gewalt offensiv auf. ➤ Präventionsschulung: Um ihr Wissen und ihre Handlungskompetenz in Fragen von sexualisierter Gewalt zu vertiefen und eine Kultur der Achtsamkeit zu stärken, nehmen alle beruflichen und ehrenamtlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die mit Kindern/ Jugendlichen arbeiten oder eine Leitungsfunktion innehaben, verpflichtend an einer Schulung im Rahmen des diözesanweiten Fortbildungsprogramms teil. ➤ Erweitertes Führungszeugnis: Bei katholischen Trägern im Erzbistum Berlin sind in Arbeitsbereichen mit Minderjährigen nur Personen beschäftigt oder ehrenamtlich tätig, die durch Vorlage eines erweiterten Führungszeugnisses nach- 492 uj 11+12 | 2017 Institutionelles Schutzkonzept zur Prävention gewiesen haben, dass sie nicht rechtskräftig wegen einer Straftat gegen die sexuelle Selbstbestimmung entsprechend § 72 a SGB VIII verurteilt worden sind. ➤ Gemeinsame Schutzerklärung: Alle Leitungskräfte, beruflichen und ehrenamtlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter verpflichten sich in einer gemeinsamen Erklärung, entschieden für den Schutz von Kindern und Jugendlichen vor sexualisierter Gewalt einzutreten. Trägerbzw. einrichtungsspezifisch zu konkretisieren sind folgende Bausteine eines institutionellen Schutzkonzeptes im Erzbistum Berlin: ➤ Verhaltenskodex: Für den jeweiligen Arbeitsbereich werden klare und konkrete Regeln als arbeitsfeldspezifischer Verhaltenskodex erstellt, die ein fachlich adäquates Nähe-Distanz-Verhältnis, einen respektvollen Umgang und eine offene Kommunikationskultur sicherstellen. ➤ Beratungs- und Beschwerdewege: Die Einrichtungen bieten verbindliche niedrigschwellige interne und externe Beratungs- und Beschwerdewege für Kinder und Jugendliche. ➤ Sexualpädagogische Begleitung: Prävention schließt die sexualpädagogische Begleitung als integralen Bestandteil der Persönlichkeitsbildung mit ein. ➤ Pädagogische Prävention: Dies sind Maßnahmen und Angebote zur Stärkung von Kindern und Jugendlichen. Pädagogische Prävention ist nicht ausdrücklich in der Präventionsordnung benannt, stellt aber eine wesentliche Ergänzung der Sexualpädagogische Arbeit Pädagogische Prävention Beschwerdewege Verhaltenskodex Transparente klare Strukturen Bewerbung und Personalgespräche Erweitertes Führungszeugnis Gemeinsame Schutzerklärung Handlungsleitfäden und Verfahrenswege Interne und externe Ansprechpersonen Risikoanalyse Christliches Menschenbild mit Grundhaltungen: Wertschätzung, Respekt und Kultur der Achtsamkeit Partizipation von Kindern, Jugendlichen, Eltern, Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern Kompetenz durch Schulung aller beruflichen und ehrenamtlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter Kinder und Jugendliche vor sexualisierter Gewalt schützen! Institutionelles Schutzkonzept Abb. 1: Prävention von sexualisierter Gewalt im Erzbistum Berlin 493 uj 11+12 | 2017 Institutionelles Schutzkonzept zur Prävention institutionellen Präventionsmaßnahmen dar und ist deswegen auch Bestandteil der Präventionsschulungen. ➤ Qualitätsmanagement: Jeder Träger sorgt dafür, dass die jeweiligen Präventionsmaßnahmen fester Bestandteil seines Qualitätsmanagements sind. ➤ Vorgehen bei Verdacht: Jeder katholische Träger im Erzbistum Berlin entwickelt ein Verfahren zum Umgang mit Hinweisen auf sexuelle Übergriffe und sexuellen Missbrauch Minderjähriger durch berufliche oder ehrenamtliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter und benennt entsprechende Ansprechpersonen. Grundlage dafür bilden die Leitlinien der Deutschen Bischofskonferenz (Erzbistum Berlin 2013). Empfehlungen für die Entwicklung eines institutionellen Schutzkonzeptes Die Entwicklung eines institutionellen Schutzkonzeptes ist ein anstrengender, über mehrere Monate andauernder Prozess, der zudem einer regelmäßigen Weiterentwicklung bedarf. Die Versuchung, sich das Schutzkonzept einer anderen Einrichtung vorzunehmen, mit kleinen Anpassungen zu kopieren und den Mitarbeitenden als fertiges Produkt vorzulegen, ist deswegen groß. So verständlich dieses Vorgehen angesichts vielfältiger Aufgaben und Belastungen auch sein mag, für den Bereich der Prävention führt er meist in die Wirkungslosigkeit. Denn: Missbrauch lässt sich nicht durch Leitungsautorität verbieten, Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter müssen für Prävention gewonnen werden. Gleichwohl differenzieren wir im Erzbistum Berlin bei der Erstellung eines Schutzkonzeptes zwischen Bausteinen, die allgemeinverbindlich diözesanweit vorgegeben sind (Präventionsschulungen, erweitertes Führungszeugnis, Gemeinsame Schutzerklärung, etc.) und nicht neu erfunden werden müssen, und solchen Bausteinen, die auf Grundlage einer einrichtungsspezifischen Risikoanalyse eigenständig zu erarbeiten sind (Verhaltenskodex, Beschwerdemanagement, sexualpädagogisches Konzept etc.). Die Verantwortung für die Entwicklung und Umsetzung des institutionellen Schutzkonzeptes liegt bei der jeweiligen Leitung. „Wichtig ist jedoch, dass die Leitung nicht allein die treibende Kraft bleibt, sondern dass es ihr frühzeitig gelingt, die Mitarbeitenden zu motivieren und die identitätsstiftende Kraft von Prävention zu nutzen“ (Arbeitsstab des Unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs 2017). Deswegen sollten Leitung, Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter und Ehrenamtliche bei der Entwicklung eines Schutzkonzeptes partizipativ zusammenarbeiten. Kinder und Jugendliche sowie deren Eltern bzw. Personensorgeberechtigte sollten frühzeitig in den Prozess einbezogen bzw. darüber informiert werden. Denn, so bringt es der runde Tisch auf den Punkt: „Schutzkonzepte sind letztlich nur dann wirklich alltagstauglich, wenn sie mit denen besprochen werden, an die sie sich richten.“ (Bundesministerium der Justiz, Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, Bundesministerium für Bildung und Forschung 2011 a, 22) Aufgabe von Leitung ist es, die Initiative für den Beginn des Erarbeitungsprozesses zu ergreifen, Aktivitäten zu koordinieren und die Umsetzung zu gewährleisten (Erzbistum Köln 2015, 10). Aus den ersten Erfahrungen mit der Schutzkonzeptentwicklung in der Jugendarbeit, in Pfarrgemeinden, der stationären Jugendhilfe und in Schulen konnten wir folgende Gelingensfaktoren ausmachen: 1. Vorherige Teilnahme an einer Präventionsschulung: Um die Entwicklung eines Schutzkonzeptes zu erleichtern, sollten die Leitung, ein Großteil der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sowie ein Teil der Ehren- 494 uj 11+12 | 2017 Institutionelles Schutzkonzept zur Prävention amtlichen an einer Schulung zur Prävention von sexualisierter Gewalt teilgenommen haben. Dies gewährleistet ein vergleichbares Hintergrundwissen und eine ausreichende Sprachfähigkeit miteinander. 2. Redaktionsgruppe: Für die Entwicklung eines institutionellen Schutzkonzeptes sollte eine Redaktionsgruppe mit interessierten Personen aus der Einrichtung gebildet werden. Die Mitglieder sollten die unterschiedlichen Gruppen und Gremien der Einrichtung repräsentieren und sich zutrauen, innerhalb ihres Bereiches für die Akzeptanz eines Schutzkonzeptes zu werben. Die Redaktionsgruppe koordiniert eine Risikoanalyse, entwirft eine Vorlage für die Entscheidungsgremien und sorgt für die Einbeziehung von Kindern, Jugendlichen und Personensorgeberechtigten. 3. Externe Begleitung: Die fachliche Rückkopplung von Zwischenergebnissen und eine externe Prozessbegleitung sind hilfreich, blinde Flecken zu vermeiden und Tabuthemen anzugehen. Einrichtungen in Trägerschaft des Erzbistums Berlin müssen z. B. bei der Erstellung ihres Konzeptes Einvernehmen mit dem Präventionsbeauftragten herstellen. 4. Bedenken offensiv ansprechen: Nicht selten haben Mitarbeitende das Gefühl, unter Generalverdacht zu stehen oder sich mit der Entwicklung eines Schutzkonzeptes in der Öffentlichkeit „verdächtig“ zu machen. Solcher Art Bedenken sollten von vorneherein angesprochen werden: Ein Schutzkonzept gibt gerade denjenigen, die sexualisierte Gewalt scharf ablehnen, die Möglichkeit, aktiv zu werden und zu unterstreichen, dass die Einrichtung dem Schutz der ihr anvertrauten Kinder und Jugendlichen höchste Bedeutung beimisst und es ein Qualitätsmerkmal darstellt, wenn beim Kinderschutz keine Abstriche gemacht werden (Unabhängiger Beauftragter für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs 2015). 5. Risikoanalyse: Eine einrichtungsspezifische Risikoanalyse mit der Identifizierung von besonderen Gefährdungspotenzialen und Gelegenheitsstrukturen ist die Grundlage für die Erarbeitung eines Verhaltenskodex und die Überprüfung bestehender bzw. die Entwicklung neuer Beratungs- und Beschwerdewege. Bei der Risikoanalyse sollten die unterschiedlichen Berufsgruppen und Arbeitsfelder einbezogen werden, bis hin zum Wirtschaftspersonal. 6. Verhaltenskodex: Für Mitarbeitende kann es eine hilfreiche Perspektive sein, dass ein Verhaltenskodex nicht nur Kinder und Jugendliche vor sexualisierter Gewalt schützen, sondern auch Mitarbeitenden Sicherheit und Orientierung in sensiblen Situationen und Bereichen des eigenen Arbeitsfeldes geben, vor falschem Verdacht schützen und dazu beitragen soll, den professionellen Umgang mit Nähe und Distanz persönlich und im Team zu reflektieren und damit die Qualität in der Einrichtung zu verbessern. Entscheidend ist es deswegen, wie mit Übertretungen des Verhaltenskodex umgegangen werden soll. Zur Überschreitung einer Regel im Verhaltenskodex kann es in der Realität aus Versehen oder aus einer Notwendigkeit heraus kommen. Wichtig ist, dass es einen offenen Umgang damit gibt. Das bedeutet, dass Übertretungen bei einer im Kodex festgelegten Stelle (z. B. der Einrichtungsleitung oder dem entsprechenden Team) transparent gemacht und - sofern notwendig - aufgearbeitet werden. Wenn Übertretungen geheimgehalten oder von Leitungsmitgliedern, Kolleginnen oder Kollegen gedeckt werden, wird die Chance der professionellen Aufarbeitung und Qualitätssicherung vertan. Problematisch wäre so ein Vorgehen zudem mit Blick auf für Täter und Täterinnen typisches Verhalten, von dem sich alle im Sinne einer Kultur der Aufrichtigkeit und Fehleroffenheit unabhängig von Freundschaft oder 495 uj 11+12 | 2017 Institutionelles Schutzkonzept zur Prävention Loyalität absetzen sollten. Dieser offene Umgang mit Regelübertretungen wird in der Praxis aber nur möglich sein, wenn er nicht automatisch und zwangsläufig mit dienstbzw. arbeitsrechtlichen Sanktionen verbunden ist. Die Bereitschaft, ein eigenes Fehlverhalten oder das eines Kollegen oder einer Kollegin transparent zu machen, wird umso eher möglich sein, je mehr es in einer Einrichtung zur Selbstverständlichkeit gehört, sein berufliches (oder ehrenamtliches) Handeln transparent zu machen, sich kollegialer Kritik zu stellen und Kritik und Ideen einzufordern, um sich zu verbessern und die eigenen „blinden Flecken“ zu überwinden (Zimmer u. a. 2014, 239). Aus Kinderschutzperspektive ist dieser Ansatz von Fehleroffenheit allerdings nur unter der Maßgabe von Transparenz möglich. Auch in einer Einrichtung mit einer Kultur von Fehleroffenheit kann oder muss Fehlverhalten, das die Dienstordnung verletzt, auch dienstbzw. arbeitsrechtliche Konsequenzen nach sich ziehen. Verhaltenskodex und Dienstordnung/ Dienstbzw. Arbeitsrecht lassen sich aber als zwei unterschiedliche Ebenen fachlicher Arbeit und deren Beurteilung betrachten. 7. Einbeziehung von Kindern und Jugendlichen: Bei der Erarbeitung eines Verhaltenskodex gilt es, die Perspektiven von Kindern und Jugendlichen aus der Einrichtung wahrzunehmen und angemessen zu berücksichtigen. Insbesondere bei Kindern muss aber vermieden werden, auf diesem Wege Ängste zu schüren. Dies gelingt umso eher, je mehr mit den Kindern im Vorfeld präventiv gearbeitet worden ist und sie eine Vorstellung von sexualisierter Gewalt haben. Insbesondere, wenn dies (noch) nicht der Fall ist, bieten sich Methoden an, die eine eher allgemeine Fragestellung aufgreifen, wie z. B. „Was brauchst du, damit du dich hier wohlfühlst? “ 8. Beschwerdemanagement: Kinder und Jugendliche, die im Alltag einer Institution die Erfahrung machen, dass sich jemand für ihre Anliegen, Probleme oder Beschwerden interessiert und sich derer annimmt, werden sich auch im Falle sexualisierter Gewalt eher Hilfe holen. Umgekehrt gilt, wo Kinder oder Jugendliche auf sich allein gestellt bleiben und die Erfahrung von Hilfe und Unterstützung fehlt, ist es unwahrscheinlich, dass sie sich bei sexualisierter Gewalt anvertrauen. Kinder und Jugendliche müssen deswegen grundsätzlich ihre Sorgen und Kritik loswerden können und Anspruch auf ernsthafte Auseinandersetzung und eine verlässliche Rückmeldung haben. Ein Beschwerdeverfahren sollte deswegen auf folgende Fragen Antworten geben (Urban-Stahl 2013, 29ff ): ➤ Woher weiß ich, dass ich mich beschweren kann? ➤ Worüber kann ich mich beschweren? ➤ Bei wem kann ich mich beschweren? ➤ Was passiert mit meiner Beschwerde? Das Vorhandensein formell festgeschriebener Beschwerdeverfahren allein reicht aber nicht aus, damit Kinder und Jugendliche diese auch in Anspruch nehmen. Vielmehr müssen Haltung der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter und die Kultur einer Einrichtung Kinder und Jugendliche ermutigen, ihre Anliegen und Beschwerden zu äußern, ohne z. B. negative Folgen befürchten zu müssen (Urban-Stahl 2013, 7). Burkhard Rooß Erzbistum Berlin Ahornallee 33 14050 Berlin E-Mail: burkhard.rooss@erzbistumberlin.de http: / / praevention.erzbistumberlin.de 496 uj 11+12 | 2017 Institutionelles Schutzkonzept zur Prävention Literatur Arbeitsstab des Unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs (Hrsg.) (2017): Hilfeportal Sexueller Missbrauch. In: https: / / www. hilfeportal-missbrauch.de/ informationen/ ueber sicht-schutz-und-vorbeugung/ informationen-fuerinstitutionen.html, 12. 7. 2017 Bange, D. (2015): Gefährdungslagen und Schutzfaktoren im familiären und institutionellen Umfeld in Bezug auf sexuellen Kindesmissbrauch. In: Fegert, J. M., Hoffmann, U., König, E., Niehues, J., Liebhardt, H. (Hrsg.): Sexueller Missbrauch von Kindern und Jugendlichen. Springer, Berlin/ Heidelberg, 137 - 141 Bischöfliches Ordinariat Eichstätt (Hrsg.) (2013): Auf dem Weg zu einer Kultur der Achtsamkeit. Weil du es uns wert bist. Bausteine zur Prävention von Gewalt und Grenzverletzung gegenüber Kindern und Jugendlichen. In: https: / / www.opferhilfe-sachsen.de/ files/ 2013/ 06/ Brosch%C3%BCre-Praeventionskon zept-Eichst%C3%A4tt.pdf, 21. 8. 2017 Bundesministerium der Justiz, Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, Bundesministerium für Bildung und Forschung (Hrsg.) (2011 a): Abschlussbericht Runder Tisch. Sexueller Kindesmissbrauch in Abhängigkeits- und Machtverhältnissen in privaten und öffentlichen Einrichtungen und im familiären Bereich. In: http: / / www.bmjv.de/ SharedDocs/ Downloads/ DE/ Fachinformationen/ Abschlussbe richt_RTKM.pdf? __blob=publicationFile, 21. 8. 2017 Bundesministerium der Justiz, Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, Bundesministerium für Bildung und Forschung (Hrsg.) (2011 b): Zwischenbericht Runder Tisch. Sexueller Kindesmissbrauch in Abhängigkeits- und Machtverhältnissen in privaten und öffentlichen Einrichtungen und im familiären Bereich. Band II - Arbeitspapiere. In: http: / / www.bke.de/ content/ application/ explorer/ public/ newsletter/ newsletter-40/ zwischenbericht_bandii_ rtkm.pdf, 21. 8. 2017 Deutsche Bischofskonferenz (Hrsg.) (2013): Rahmenordnung. Prävention gegen sexualisierte Gewalt an Minderjährigen und erwachsenen Schutzbefohlenen im Bereich der Deutschen Bischofskonferenz. In: http: / / www.dbk.de/ fileadmin/ redaktion/ diverse_ downloads/ presse_2012/ 2013-151b-Ueberarbei tung-Leitlinien_Rahmenordnung-Praevention_Rah menordnung.pdf., 12. 7. 2017 Deutsche Ordensobernkonferenz (Hrsg.) (2014): Rahmenordnung. Prävention gegen sexualisierte Gewalt an Minderjährigen und erwachsenen Schutzbefohlenen im Bereich der Deutschen Bischofskonferenz. In: http: / / www.orden.de/ dokumente/ rahmenordnung_paevention_dok_mv_2014_ueberarb._.pdf, 12. 7. 2017 Erzbistum Berlin (Hrsg.) (2013): Leitlinien für den Umgang mit sexuellem Missbrauch Minderjähriger und erwachsener Schutzbefohlener durch Kleriker, Ordensangehörige und andere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im Bereich der Deutschen Bischofskonferenz. In: http: / / praevention.erzbistumberlin.de/ file admin/ user_mount/ PDF-Dateien/ Erzbistum/ Inter vention/ Amtsblatt_201312_AnlageLeitlinien.pdf, 12. 7. 2017 Erzbistum Berlin (Hrsg.) (2014): Ordnung zur Prävention von sexualisierter Gewalt an Minderjährigen und erwachsenen Schutzbefohlenen im Bereich des Erzbistums Berlin (Präventionsordnung). In: http: / / prae vention.erzbistumberlin.de/ fileadmin/ user_mount/ PDF-Dateien/ Erzbistum/ Praevention/ 20140630Amts blatt_201407_Praeventionsordnung.pdf, 12. 7. 2017 Erzbistum Köln (Hrsg.) (2015): Schriftenreihe Institutionelles Schutzkonzept (1). Grundlegende Informationen. In: https: / / www.erzbistum-koeln.de/ export/ sites/ ebkportal/ thema/ praevention/ .content/ .galle ries/ downloads/ Heft_1_Auflage_2_V.pdf, 21. 8. 2017 Erzbischöfliches Ordinariat Berlin (Hrsg.) (2017): Arbeitshilfe„Institutionelles Schutzkonzept zur Prävention von sexualisierter Gewalt in der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen“. 3. Aufl. Berlin. In: http: / / prae vention.erzbistumberlin.de/ fileadmin/ user_mount/ PDF-Dateien/ Erzbistum/ Praevention/ Broschuere SchutzkonzeptAuflage3.pdf, 21. 8. 2017 Freund, U., Erzbistum Berlin (o. J.): Unveröffentlichtes Schulungsmaterial Unabhängiger Beauftragter für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs (2015): Flyer „Was Sie zum Schutz von Mädchen und Jungen tun können“. Berlin Urban-Stahl, U. (2013): Beschweren erlaubt! 10 Empfehlungen zur Implementierung von Beschwerdeverfahren in Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe. Freie Universität Berlin. In: http: / / www.ewi-psy. fu-berlin.de/ einrichtungen/ arbeitsbereiche/ sozial paedagogik/ dokumente/ BIKBEK-Handreichung.pdf. Freie Universität Berlin, Berlin, 12. 7. 2017 Zimmer, A., Lappehsen-Lengler, D., Weber, M., Götzinger, K. (2014): Sexueller Kindesmissbrauch in kirchlichen Institutionen - Zeugnisse, Hinweise, Prävention. Ergebnisse der Auswertung der Hotline der Deutschen Bischofskonferenz für Opfer sexueller Gewalt. Beltz, Weinheim/ Basel
