eJournals unsere jugend 69/3

unsere jugend
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0342-5258
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/uj2017.art18d
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Traumapädagogik als Kernkompetenz in der stationären Erziehungshilfe

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Klemens Richters
Misshandelte Kinder leiden oft unter Traumafolgestörungen, mit denen Fachkräfte in der Erziehungshilfe nicht ohne Weiteres umgehen können. Traumapädagogik soll dazu beitragen, Ressourcen zu finden, auf denen die Mädchen und Jungen aufbauen und in denen sie Kompetenzen entwickeln können, die zu ihrer Widerstandsfähigkeit beitragen.
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117 unsere jugend, 69. Jg., S. 117 - 122 (2017) DOI 10.2378/ uj2017.art18d © Ernst Reinhardt Verlag München Basel Traumapädagogik bedeutet kontinuierliche Weiterentwicklung eines Konzeptes. Die Kinder- und Jugendhilfe St. Mauritz in Münster hat von 2009 bis 2012 in einer dreijährigen Qualifizierungsmaßnahme ihre pädagogischen Fachkräfte zu Traumapädagogen ausgebildet. Sie wollten keine hilflosen Helfer mehr sein für Mädchen und Jungen, die keine Bewältigungsstrategien für ihre biografisch belastenden Gewalterfahrungen in ihrem Handlungs-Repertoire haben. Es sind unerträgliche Gefühle nach lebensbedrohlichen Situationen im Elternhaus, die diese Kinder weglaufen oder zubeißen ließen, so außer sich bringen. Das uns unvorstellbare Potenzial der brutalen Erfahrungen der Kinder führt zu Verhaltensweisen, die in psychiatrischen oder psychologischen Gutachten dann z. B. als schizoide oder depressive Symptombelastungen beschrieben werden. Die pädagogischen Fachkräfte an der Basis lesen diese Diagnosen und stehen dann wieder allein vor einem wütenden und aggressiven Kind. Alle Fachkräfte der Kinder- und Jugendhilfe St. Mauritz wurden im Umgang mit traumatisierten Mädchen und Jungen geschult. Sie verstehen, wie und warum die Kinder ihre chronisch traumatischen Erfahrungen mithilfe dissoziativer Strategien überlebt haben. Sie erkennen Bedürftigkeiten eines Kindes und können es vor retraumatisierenden Erfahrungen schützen. Mit dem Konzept Traumapädagogik erlernten die Fachkräfte eine wirksame Herangehensweise. Von Anfang an begleiteten Wilma Weiß und Jacob Bausum vom Zentrum für Trauma- Traumapädagogik als Kernkompetenz in der stationären Erziehungshilfe Professionelle Bindungs- und Beziehungsarbeit Misshandelte Kinder leiden oft unter Traumafolgestörungen, mit denen Fachkräfte in der Erziehungshilfe nicht ohne Weiteres umgehen können. Traumapädagogik soll dazu beitragen, Ressourcen zu finden, auf denen die Mädchen und Jungen aufbauen und in denen sie Kompetenzen entwickeln können, die zu ihrer Widerstandsfähigkeit beitragen. von Klemens Richters Jg. 1950; seit 1988 Leiter und Geschäftsführer der Kinder- und Jugendhilfe St. Mauritz in Münster; Vorsitzender des Fachausschusses „Fachkräfte in den Erziehungshilfen“ im Bundesverband katholischer Einrichtungen der Erziehungshilfen 118 uj 3 | 2017 Traumapädagogik als professionelle Bindungs- und Beziehungsarbeit pädagogik (Hanau) unsere Ausbildung. Die Basisschulung umfasste die Themen Gruppe, Haltung, Selbstbildung, Bindungspädagogik, Eltern- und Biografiearbeit. Zu den vertiefenden Schulungen gehörten die Themen: Trauma, sicherer Ort und Therapie und Pädagogik. Hinzu kamen zwölf Supervisionssitzungen. Am Ende verfasste jede Fachkraft eine schriftliche Auswertung über den Supervisionsprozess und die erworbenen Kenntnisse über Traumapädagogik. Nach einer Abschlussarbeit über einen gelungenen Biografieprozess mit einem Mädchen oder Jungen aus unserer Einrichtung wurde der Fachkraft das Zertifikat „Fachkraft in Traumapädagogik“ verliehen. Die wissenschaftliche Evaluation dieser Qualifizierung erfolgte durch das Institut für Kinder- und Jugendhilfe Mainz (Krautkrämer-Oberhoff/ Klein 2014). Folgen innerfamiliärer Traumatisierung Traumatisierte Kinder reagieren ganz normal auf nicht normale Geschehnisse. Mit ihren Reaktionen und Gefühlen geben sie uns einen Hinweis, dass etwas bei ihnen gerade sehr großen Stress erzeugt. Und dann passiert etwas: sie schützen sich durch Angriff oder Rückzug. Menschen haben ein angeborenes Bedürfnis nach Bindung. Minimal haben alle Kinder, die zu uns kommen, Trennungserfahrungen gemacht. Sie sind verwirrt, zeigen ein desorientiertes Bindungsverhalten, werden beschrieben als unsicher-ambivalent gebunden. Die Bindungstheorie ist eine Theorie zum Verstehen der Entwicklung von Eltern-Kind-Beziehungen. Aber was hilft nun in der Praxis, um gut zu arbeiten, wenn ein kleines Kinderleben so fundamental erschüttert wurde? Wir wissen nicht, was die Kinder wirklich erlebt haben. Wenn Eltern elementarste Bedürfnisse des Kindes nicht beachten, gar nicht wahrgenommen haben, verliert das Kind dadurch seine Eltern als Schutzobjekt. Normalerweise flieht ein Kind bei Gefahr, Angst oder Verunsicherung zu seinen Eltern. Begegnen Mutter oder Vater dem Kind aggressiv und nicht schützend, sondern überwältigend durch Misshandlung, erfährt das Kind unglaubliche Angst, wirkliche Todesangst. Das hat traumatische Folgen. Um die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen, die traumabedingt dissoziativ handeln, gut machen zu können, benötigen ihre Pädagogen Konzepte, die die Kinder und Jugendlichen in ihrer Selbstregulation unterstützen. Sie haben keine „Störungen“, im Gegenteil: ihre Fähigkeit zur Dissoziation hat sie gerettet, war eine ganz wichtige, wirksame, psychische Ressource zum Überleben. Wir finden inzwischen unter dem Begriff Traumapädagogik hilfreiches Wissen in der Literatur für unterschiedliche lebensgeschichtlich belastende Erfahrungen der Kinder und Jugendlichen. Traumapädagogik ist gute Beziehungsgestaltung Im dissoziativen Zustand können Mädchen und Jungen keine Regeln einhalten. Sie sind hin und her geworfen zwischen ihren Gefühlen und können absolut gefühllos sein. Ihre unerträglichen Gefühle sind die traumatischen Folgen nach lebensbedrohlichen Situationen im Elternhaus. Die Kinder mauern sich plötzlich regelrecht ein, versuchen so, sich zu schützen. Man darf den Kindern diese Mauern auch nicht nehmen, sie brauchen sie als Schutzwall. Traumapädagogik heißt, die Verhaltensweisen der anvertrauten Kinder und Jugendlichen als ganz normal zu betrachten und zu bewerten. Aufgrund der traumatischen Lebenserfahrungen prägt die Mädchen und Jungen desorientiertes ambivalentes Bindungsverhalten. Nur mit haltgebender Zuwendung können liebevolle Erwachsene dem Kind wieder die Sicherheit geben, in emotional erregtem Zustand die Kontrolle über seine Affekte und über sein ausagierendes Verhalten zurückzugewinnen. 119 uj 3 | 2017 Traumapädagogik als professionelle Bindungs- und Beziehungsarbeit Ein Konzept des Sicheren Ortes bedeutet sichere äußere und innere Orte mit verlässlichen Schutzkonzepten und verlässlichen Beziehungen. Die Kinder brauchen Lebensräume, die sie vor einer Retraumatisierung verlässlich schützen. Und das können Fachkräfte mit einer traumapädagogischen Haltung leisten. Zentral ausschlaggebend für diese Haltung ist ein umfassendes Wissen darüber, dass die Verhaltensweisen des Kindes Folgen seiner traumatischen Lebenserfahrungen sind. Die Sozialpädagogen im Gruppendienst müssen wissen und begreifen, was in aggressiven Kindern vorgeht, dass es die Überlebensstrategien der Kinder waren und ihre Schutzmechanismen gegenüber den erlittenen körperlichen und seelischen Grausamkeiten sind. Alle Ängste und deren Abwehr sind berechtigt. Traumapädagogen lernen das als Konzept des guten Grundes. Sie können mit diesen ausagierenden Mädchen und Jungen respektvoll umgehen und sie wertschätzen. So helfen sie den Kindern, wieder einen Zugang zu ihren Gefühlen zu bekommen und es gelingt ihnen, mit viel Geduld und liebevoller Zuwendung der Fachkraft, ihre Gefühle wieder selbst regulieren zu können. Gelingt es, den Kindern bewusst zu machen, dass ihre Wut und ihre Erinnerungen an die Vergangenheit sie so ausrasten lassen, ist dies ein wirkungsvoller Ansatz, mit ihnen Strategien zur Selbstkontrolle zu entwickeln. Ressourcen müssen entdeckt werden und können dann zur Entwicklung von Bewältigungsstrategien nutzen. Traumatisierte Kinder bei der Bewältigung ihres Alltags angemessen zu begleiten, erfordert Bezugspersonen, die trotz immer wieder auftretender Dynamiken der Hoffnungslosigkeit und Ohnmacht nicht resignieren, sondern gerade während Krisen und in Konfliktsituationen in der Lage sind, in der Beziehung zum Kind verlässlich zu bleiben. Sie müssen Schritt für Schritt das Kind in die Lage versetzen, in einen guten Kontakt zu sich selbst zu gelangen und Kompetenzen der selbstwirksamen Steuerung zu entwickeln (Weiß 2013). Es ist Aufgabe der Leitung, für wirkungsvolle Rahmenbedingungen zu sorgen. Dazu gehören kleine individuelle Aufmerksamkeiten genauso wie ein wertschätzender Umgang und eine verlässliche Personalplanung und -ausstattung. Die Notwendigkeit von Fortbildungen muss die Leitung ständig im Blick behalten und individuelle Unterstützungswünsche berücksichtigen. Die Lehre vom Umgang mit leidvollen Geschichten Gegenüber Belastungen bleiben traumatisierte Mädchen und Jungen lebenslänglich verwundbar. Reduzierte Widerstandsfähigkeit bleibt ein latentes Risiko für die Persönlichkeitsentwicklung. Es gibt aber berechtigte Hoffnungen, dass der Elendskreislauf unterbrochen werden kann, wenn es gelingt, die traumatisierten Kinder vor erneuten Gewalterfahrungen zu schützen. Die Einrichtung hält permanent personale und materielle Ressourcen zur Weiterbildung in Traumapädagogik bereit. So gelingt eine Vertiefung und Weiterentwicklung des Konzeptes mit regelmäßigen Transfermodulen, internen und externen Schulungen, Supervision und Teamberatung. Die Kinder- und Jugendhilfe Sankt Mauritz in Münster war deutschlandweit die erste Einrichtung, in der alle pädagogischen Fachkräfte durch eine zertifizierte Schulung zu Traumapädagogen ausgebildet wurden. Traumapädagogisches Handeln kann nur von der Basis aus gedacht und erprobt werden, um schließlich in das Konzept einzufließen. Wir entwickelten nach und nach zur Sicherung und Überprüfung auch traumapädagogische Standards zu allen relevanten Themen des pädagogischen Alltags. Dazu gehören unter anderem Partizipation, Transparenz, Resilienz und Selbstfürsorge, Biografie- und Elternarbeit, schulische Förderung und außerschulische Bildung. 120 uj 3 | 2017 Traumapädagogik als professionelle Bindungs- und Beziehungsarbeit Des Weiteren wurden verbindliche Konzepte für das Aufnahmeprozedere, die Gestaltung der Übergänge, den Schutz der Kinder und Pädagogen, die Beratung und Fortbildung der Mitarbeiter, Datenschutz und Evaluation entwickelt. Stichwortartig wird im Folgenden kurz darauf eingegangen. Anspruchsvolle Herausforderungen Partizipation heißt, dass die Kinder etwas bewirken durch ihr Mitentscheiden. Sie erfahren, dass sie in ihrer Einzigartigkeit und mit ihrer Meinung gesehen, gehört und wertgeschätzt werden. Zum Partizipationskonzept gehören Beteiligungsstrukturen auf allen Ebenen. Durch Pädagogen, die ihre eigenen Grenzen wahren können, erleben die Kinder Vorbilder in Selbstfürsorge. Für Kinder und Erwachsene ist die Gruppe und die Einrichtung ein sicherer Ort. Unter Transparenz verstehen wir, dass die Kinder informiert sind, Wochenpläne kennen, genau wissen, wann wer im Dienst ist und wann wer Urlaub hat. Die Kinder wissen, wie, wohin und warum Informationen weitergegeben werden müssen. In den Teams werden transparente und wertschätzende Kommunikationsstrukturen gepflegt. Resilienz und Selbstfürsorge gelingen auf der Basis eines wertschätzenden Umgangs miteinander. Dazu gehört ein gutes Arbeitsklima, Vertrauen und ein Zugehörigkeitsgefühl zur Einrichtung. Die Kinder erleben Erwachsene, die gerne mit ihnen zusammen sind, Freude an der pädagogischen Arbeit haben. Ganz besondere Bedeutung haben kreative, sportliche und musische Aktivitäten. Beim Theater, Fußball oder anderen Spielen, bei Musik und Tanz erleben Kinder, dass sie etwas können. Das setzt sich fort in speziellen Fähigkeiten eines jeden Kindes, die noch geweckt werden müssen. Traumapädagogen gelingt es, latente Begabungen des Kindes zu entdecken und offensiv zu fördern. Auf Mehrtagestouren in alpinem Gelände lernen sie Orientierung, Kartenlesen und den Umgang mit dem GPS, beim Sportklettern heißt es Materialkunde, retten und bergen, und auf dem Wasser erlernen sie Paddeltechniken. Erlebnispädagogik wird in und mit der Natur gestaltet und ist eingebunden in traumapädagogisch fundierten Lehr- und Lernkonzepten. Wenn die Erwachsenen verantwortlich mit ihrer Gesundheit umgehen, erfahren die Kinder Vorbilder, lernen auch, auf sich zu achten. Essen und Trinken sind wichtig und bedeuten für Kinder mehr als nur Nahrungsaufnahme. Gesundes Essen ist Voraussetzung, um leistungsfähig zu sein. Kinder werden bei der Auswahl und Zubereitung einbezogen, entscheiden mit und lernen Lebensmittel zu schätzen. Zu jedem Team gehört eine Hauswirtschafterin, die gut ausgebildet ist und Wissen einer gesunden Vollwertkost hat. Partizipative Konzepte lassen sich auch in der Küche und beim täglichen Einkauf gut verwirklichen. Die Verwendung gesunder, verantwortlich produzierter Nahrungsmittel ist nicht teurer als die Verwendung konventionell hergestellter Lebensmittel. Mit einem Lebensbuch, das das Kind nach und nach fertigstellt, wird in Einzelstunden die Lebensgeschichte entwickelt. Es sichtet Fotos von früher, erfährt Geschichten, die es noch nicht kennt, besucht alte Lebensorte und früher wichtige Bezugspersonen. Die Biografiearbeit hat einen ganz wichtigen Stellenwert. Mit den Lebensbüchern „Meine Geschichte“ für Kinder und „Ich - einfach unverwechselbar“ für Jugendliche, die jeweils unterschiedlich gestaltet und gebunden sind, haben sowohl Kinder als auch Jugendliche die Möglichkeit, Ereignisse zu dokumentieren, Lücken im Lebenslauf zu ergänzen und Fotos und Dokumente zu sammeln. Verlassen sie unsere Einrichtung, können sie nicht nur Erinnerungen in einem Fotoalbum mitnehmen, sondern verfügen zusätzlich über eine professionell erarbeitete schriftliche Biografie in einem schön und dauerhaft haltbar gebundenen Buch. 121 uj 3 | 2017 Traumapädagogik als professionelle Bindungs- und Beziehungsarbeit Schule und Bildung ist ein zentrales Thema in der Traumapädagogik. Mädchen und Jungen, die in Einrichtungen der Erziehungshilfe aufgenommen werden, haben einen sie sehr verunsichernden Lebenslauf gehabt, geprägt von Orts- und Schulwechseln, Beziehungsabbrüchen und hoch traumatischen Erfahrungen. Durch ihre dissoziativen Überlebensstrategien wird ein erfolgreicher Schulbesuch erheblich behindert. Dem deutschen Schulsystem wurde in vielen Studien neben seinen funktionalen Mängeln auch seine sozialintegrative Inkompetenz bestätigt. Trotz inzwischen verpflichtender Inklusionskonzepte bleibt das deutsche Schulsystem eines der ungerechtesten der Welt, weil es sozial auffällige Kinder früh zurücklässt. Kinder aus Familien, die in sozialer Benachteiligung leben, haben schon mit der Geburt die Karte gezogen, auf der steht: Schulabbruch oder -rausschmiss, Arbeitslosigkeit, Hoffnungslosigkeit, Ausgrenzung. Gelingt es, mit Traumapädagogik die Weichen neu zu stellen? Zur Reintegration oder Integration der Kinder und Jugendlichen in eine ihrem Entwicklungsstand entsprechende Schule bedarf es ganz unterschiedlicher und individueller Schritte. In unserer förderdiagnostischen Schulklasse kann sich jedes Kind nach dem eigenen Rhythmus entfalten. Die Klasse wird zu einem sicheren Ort. Von einem dissoziierenden Kind wissen Traumapädagogen, dass dieStrategie der Abtrennung von der Umwelt eine schützende Wirkung hatte. Solche auch außerhalb traumatisch bedrohlicher Situationen durchlebten Situationen und ausgelösten Flashbacks erforschen wir mit dem Kind. Traumapädagogisches Handeln beginnt jetzt mit den Worten: „Du verhältst dich ganz normal für das, was gerade mit dir los ist.“ Die individuelle pädagogische Betreuung erfolgt in enger Kooperation mit einer Schule in der Nachbarschaft. Das Personal hat fundierte Kenntnisse über die entwicklungsspezifischen Folgen von Traumata, um Kinder, für die aktuell aus vielfältigen individuellen Gründen die weitere Beschulung noch nicht geklärt ist und die zurzeit eine Regelschule noch nicht besuchen dürfen oder können, verlässlich jeden Vormittag zu beschulen. Die Lehrer und Sozialarbeiter sind für die Kinder da, sie erkennen ihre Überlebensstärke an. Die Kinder benötigen Zeit, die Pädagogen benötigen Zeit - Traumata „heilen“ braucht Zeit. Die Kinder werden behutsam in eine Regelschule überführt, wenn die Zeit dafür da ist. Die Gestaltung der Aufnahme und der Übergänge Aufnahmeanfragen erhält ein Heim in der Regel vom örtlichen Jugendamt. Misshandelte, vernachlässigte oder sexuell missbrauchte Kinder bilden die größte Gruppe der Kinder und Jugendlichen, die stationäre Hilfen zur Erziehung erhalten, gefolgt von Kindern aus Suchtfamilien, aus Familien mit psychiatrischen Krankheitsbildern und Kindern aus abgebrochenen Pflege- und Adoptionsverhältnissen (Richters 2000). Fast 80 Prozent der Kinder haben vor der Aufnahmeanfrage bei uns schon in Pflegefamilien oder anderen Heimgruppen gelebt. Die Gründe für das Scheitern, den Abbruch oder die Beendigung sind vielfältig und werden von uns mit der gebotenen fachlichen Skepsis zur Kenntnis genommen. Während der Aufnahmeprozedere erfahren alle Beteiligten, auch Eltern, Vormund oder sich verabschiedende Pflegeeltern, eine freundliche Atmosphäre. Die Fachkräfte erfragen aufgeschlossen die aktuelle Lebenssituation des Kindes. Offen wird über den Grund der Aufnahme, den Auftrag und die Lernziele gesprochen. Es gibt einen „guten Grund“ für die Herausnahme des Kindes aus seinem bisherigen Lebensort, es gibt keine Schuldvorwürfe. 122 uj 3 | 2017 Traumapädagogik als professionelle Bindungs- und Beziehungsarbeit Die Eltern sind Kooperationspartner und, wenn es geht, beteiligt. Die Kinder erhalten die Möglichkeit zu exklusiven Gesprächen mit den Fachkräften, in denen sie ermutigt werden, sich zu äußern, ihnen Fragen zu stellen. Sie erleben von Anfang an Pädagogen, denen die Sicht der Kinder wichtig ist und die Kinder stärken wollen. Jedes Kind erhält ein Begrüßungsheft, das von Kindern und Jugendlichen der Einrichtung gestaltet wurde, sie lernen ihre Paten und die Räumlichkeiten der Gruppe kennen und werden sehr zugewandt aufgenommen. Gemeinsam wird entschieden, wann der geeignete Tag für den Einzug sein kann. Es wird überlegt, was das Kind sonst noch benötigt, um ohne Eltern oder Pflegeeltern im Heim leben zu können. Mit hoher Sensibilität wird die Kennenlernphase gestaltet mit besonderem Augenmerk auf die emotionale Situation und die Ressourcen des Kindes. Die Phase des Umzugs ist heikel und muss behutsam geplant sein, gemeinsam mit dem Kind. Möbel und andere persönliche Sachen werden gemeinsam mit den Pflegeeltern, Eltern oder abgebenden Heimerziehern gepackt. Keinesfalls darf eine Fachkraft der aufnehmenden Einrichtung das Kind abholen. Es muss zum Einzug von zwei Personen begleitet werden, die bisher für das Kind verantwortlich waren. Der erste Tag im Heim wird für die Biografiearbeit dokumentiert. Hilfe und Beratung Fachkräfte der stationären Erziehungshilfe sind permanent gefordert, müssen dauernd aufmerksam und wachsam sein, Übertragungen und Gegenübertragungen erkennen und meistern, Regressionen zulassen können, einen Flashback erkennen und mit ihm umzugehen wissen, nicht in Triggerfallen stolpern, mit Schulproblemen nicht die Kinder belasten, sondern sie lösen und dem Kind den Rücken stärken. Sie müssen wissen, dass die psychische Struktur eines Kindes wegen seiner traumatischen Erfahrungen unter der Konfliktdynamik seiner dissoziativen Sinne immer wieder zusammenbrechen wird. Ich glaube, dass für Fachkräfte mit mentaler Gesundheit dann die Aktivierung ihres traumapädagogischen Wissens sehr hilfreich ist und ein Gefühl des Scheiterns verhindern kann. Dazu gehört auch, schnell Hilfe anzufordern und sich gerne beraten zu lassen. Es ist für Pädagogen nicht in erster Linie wichtig, wie man das komplizierte Verhalten des Kindes interpretiert, sondern wie man ihm akut selbstwirksam helfen kann, wieder ausgeglichen dazustehen. Mit Traumapädagogik unterstützt er das dissoziierende Kind, in einen physiologischen Zustand zurückzufinden, indem es seine Sinne wieder zusammenhalten halten kann. Klemens Richters Kinder- und Jugendhilfe St. Mauritz Mauritz-Lindenweg 56 48145 Münster richters@st-mauritz.de www.st-mauritz.de Literatur Weiß, W. (2013): Philipp sucht sein ich. Zum pädagogischen Umgang mit Traumata in den Erziehungshilfen. Beltz Juventa, Weinheim Krautkrämer-Oberhoff, M., Klein, J. (2014): Schulungsprojekt Traumapädagogik als Antwort auf Traumafolgestörungen bei untergebrachten Jungen und Mädchen: Die St. Mauritz KJH Münster macht sich auf den Weg. In: Unsere Jugend 1/ 2014, 19 - 32, http: / / dx.doi. org/ 10.2378/ uj2014.art04d Richters, K. (2000): Ein Heim für Kinder - und ihre Eltern? Sozialmagazin 11, 26 - 33 Richters, K. (2014): Traumapädagogik. Handbuch der Hilfen zur Erziehung. Lambertus, Freiburg, 349 - 355.